Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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nein, nein, nein! Im Ge­gen­teil!« rief Min­chen Ahrens, nun gleich­falls wie­der lä­chelnd. »Ich bin ja wie eine Ka­tho­li­kin im Beicht­stuhl und ma­che mich von ei­ner lan­ge, lan­ge ge­tra­ge­nen See­len­last los. Zu wem in al­ler Welt hät­te ich die lie­ben lan­gen Jah­re durch hier in Al­ters­hau­sen je so spre­chen kön­nen als wie heu­te zu dir, mei­nem Wun­der­gast vom Mai­en­brun­nen, und hier im Gar­ten und an die­sem Tisch, Fritz Feyer­abend?

      »So schö­nes Wet­ter, und – ich noch da­bei«, mur­mel­te der Greis. –

      »Ja, wo hat­te ich denn auf­ge­hört mit mei­nen groß­herr­li­chen Le­bens­er­eig­nis­sen? Ach so! Ja, und nun weiß ich es nicht, wie es kam, dass sie an­fin­gen, mich mit ihm, Bocks ar­mem Lud­wig, auf­zu­zie­hen. Sieh mich nur nicht an, Fritz, denn es ist mir, als müss­te ich heu­te noch rot wer­den; – wenn nicht ein halb Jahr­hun­dert zwi­schen der Zeit und die­ser Stun­de läge und du, du da sä­ßest und so über mich heu­te Mor­gen am Mai­en­brun­nen ge­kom­men wä­rest, könn­te ich auch gar nicht dar­über re­den. Näm­lich, ich hat­te da­mals einen, mit dem ich nicht bloß Mit­leid hat­te, son­dern von dem ich dach­te, dass ich ei­gent­lich am liebs­ten ster­ben täte, wenn ich nicht mit ihm le­ben soll­te. Du hast ihn auch ge­kannt, er ist auch mit euch zum Rek­tor Schus­ter ge­gan­gen. Vi­el­leicht er­in­nerst du dich noch an ihn – Otto Kai­ser – vom rei­chen Loh­ger­ber­meis­ter Kai­ser hin­ter der Ober­förs­te­rei? Das Haus ist ab­ge­brannt und kei­ner von der Fa­mi­lie mehr hier am Ort.«

      »Nur an den Na­men, Min­chen.«

      »Ach, wenn ich das man­ches schlim­me Jahr durch auch nur ge­konnt hät­te!… Jetzt in mei­nem ho­hen Al­ter ist er mir nichts wei­ter. Er liegt auch nicht hier in Al­ters­hau­sen be­gra­ben, dass ich ihn un­ter mei­ner Ver­gan­gen­heit auf mei­nen We­gen nach dem Kirch­ho­fe da mit mei­nen an­de­ren mit be­su­chen könn­te. Es ist zwi­schen uns nichts draus ge­wor­den, au­ßer dass er mich viel zum Wei­nen ge­bracht hat, aber zu­letzt auch mit dei­nem un­glück­li­chen Freun­de Lud­wig zu­sam­men – fürs Le­ben – für Le­ben und Tod. So wun­der­lich mag wohl sel­ten eine Lie­bes­ge­schich­te ihr Ende ge­nom­men ha­ben!«

      Eben jetzt kam Lud­chen Bock aus sei­nem Holz­stall zu­rück in den Gar­ten, setz­te sich den bei­den an­de­ren ge­gen­über an den Tisch; Min­chen schob ihm den Ku­chen­tel­ler zu und sag­te: »Bist ein gu­ter Jun­ge, da, aber heb dir ein paar Stücke für mor­gen auf. Es ist nicht alle Tage Fest­tag im Le­ben.«

      Das große Kind lach­te jetzt ganz ver­trau­lich und ver­gnügt und nick­te bei­stim­mend in al­les fol­gen­de hin­ein.

      »Das ers­te pas­siert alle Tage«, fuhr Min­chen Ahrens fort, auch mit freund­li­cher Ge­las­sen­heit. »Näm­lich, dass man zum Wei­nen ge­bracht wird auch in sei­ner lus­tigs­ten Zeit. Weißt du, Fritz, für so was bin ich jetzt hier am Ort schon seit lan­ge die rich­ti­ge alte Rat-hole-Tan­te ge­wor­den bei dem jun­gen Volk – beim jun­gen Volk je­der­zeit seit Jah­ren. Da, wo du hier bei mir sitzt, hat erst vor­ges­tern so eine wie ich da­mals ge­ses­sen, mit dem Kopf in den Hän­den. Ja gra­de­so wie ich mal; aber ich mit mei­ner se­li­gen Mut­ter hier auf der Stel­le, wo ich sit­ze, mei­ner lie­ben Mut­ter, die mir nicht den Arm um den Na­cken leg­te, wie ich der vor­ges­tern, son­dern mich am Arm ge­fasst hielt und mir das nas­se Ta­schen­tuch weg­zog und mir alle Kinds­küm­mer­nis zu kos­ten gab, weil ich Otto nicht mehr woll­te, aber er noch so tat, als ob es ihm noch bit­te­rer Ernst dar­um sei. Wie das kam, das ist so tau­send­fach da­ge­we­sen und kommt im­mer wie­der, dass ich dir da­von nur re­den könn­te wie vom Gras, was Heu wird. Wün­schest du es?«…

      Er hat­te mit dem Kai­ser und mit den Gro­ßen in den Won­ne­bur­gen der Welt ge­spro­chen, Kö­ni­ge der Erde ge­hör­ten in sei­ne Be­kannt­schaft: sei­nen Schul­bank­ge­nos­sen Otto Kai­ser hat­te er bis auf den Na­men ver­ges­sen, und nun – wohl nur sel­ten hat­te er ei­nem Erd­ge­nos­sen in sei­nen Le­bens­er­in­ne­run­gen so tief nach­ge­gra­ben wie dem – dem ge­las­se­nen, be­ru­hig­ten Be­richt der Grei­sin und dem Idio­ten­lä­cheln des Kind­heits­freun­des ge­gen­über! Und mehr und mehr däm­mer­te er ihm auf, auch die­ser Ju­gend­freund. War’s nicht sei­ne Mut­ter, die er sa­gen hör­te: »Dei­nen Freund Otto darfst du mir noch am ers­ten mit ins Haus brin­gen, der tritt sich we­nigs­tens die Füße vor der Tür ab und ist auch sonst gut er­zo­gen ge­gen dei­ne üb­ri­ge Ras­sel­ban­de!« – ? –

      »Was soll man sich in un­se­ren Jah­ren zie­ren, wenn die Ver­gan­gen­heit so zu Be­such kommt wie du heu­te, Fritz?« sag­te Min­chen Ahrens. »Wer mir das heu­te Mor­gen ge­sagt hät­te, dass ich heu­te Nach­mit­tag so im Beicht­stuhl sit­zen wür­de! Ja, so lieb du dei­ne Braut ge­habt hast in ih­rer Schön­heit und Lieb­lich­keit, so, mit sol­chem Glau­ben habe ich auf mei­nen Otto ge­se­hen und an sei­ner Treue und Güte her­auf. Ach, wie ver­gnügt sind wir eine Zeit lang zu­sam­men ge­we­sen, und ich – wie stolz! Auf ihn wie stolz!… Ja, Jun­ge, du darfst noch ein Stück Zu­cker – es ist Fest­tag heu­te. Aber nein, Kind, der Ge­heim­rat – Fritz dankt.«

      Sie schob die Hand mit der Blech­do­se, die Lud­chen Bock dem Freun­de ni­ckend hin­hielt, zu­rück und fuhr seuf­zend fort in ih­rem Wun­der­tags­be­richt. Aber vor­her reich­te sie erst ih­rem Wun­der­gast die Hand:

      »Wie hat es mich ge­freut, dass da­hin, wo dein jun­ges Glück be­gra­ben liegt, heu­te wie im­mer die Son­ne scheint; dir schei­nen darf. Du bist viel ge­wor­den in der Welt und hast viel Gu­tes ge­tan durch dei­ne Wis­sen­schaf­ten – das sa­gen die Zei­tun­gen. Dass es dir gut ge­gan­gen ist und du viel Fro­hes und Schö­nes er­lebt hast, hast du mir er­zählt; aber möch­test du den grü­nen Platz, von dem du mir auch er­zählt hast, miss­en mit dem Son­nen­schein drauf? Ich habe mei­ne El­tern dort im Frie­den und Son­nen­schein, hier aber mein le­ben­di­ges Kin­d… Lud­chen, Jun­ge, jetzt hör­t’s aber auf! was soll der Herr Ge­heim – un­ser Fritz von uns den­ken, wenn du so den Tel­ler ab­leckst. O lie­ber Gott, Fritz, wie soll ich es dir so spät in den Jah­ren aus­drücken, wie das da­mals ge­kom­men ist in den Ta­gen, wo ei­nem je­der Tag, wie man meint, mit Pfingst­mai­en vor der Tür auf­ge­hen muss?«

      »Min­chen!«…

      »Was denn, Lud­chen?… Nein, nein, Jun­ge, es ist nichts; sei nur ru­hig. Siehst du, Fritz, er kann mich nicht wei­nen se­hen und sieht mir im­mer nach den Au­gen wie ein treu­er Hund. Du glaubst nicht, Fritz, wie ich mich da in acht neh­men muss vor dem Kin­de, vor ihm! Ja, und, gott­lob, ich kann es! Ich kann dir ru­hig bei mei­nem Strick­zeug da­von er­zäh­len, wie er mir zur Hil­fe ge­kom­men ist im rech­ten Au­gen­blick. Ein ar­mer Hund, dem sein Ge­schick mit dro­hen­der Faust ge­sagt hat, dass er zu Hau­se blei­ben soll beim Le­ben­splä­sier und der doch nach­schleicht und im rech­ten Au­gen­blick mir zu­springt, von nichts weiß, aber zu­springt und zur Hil­fe da ist mit sei­nem Bel­len und Blaf­fen, ja auch mit sei­nen Zäh­nen. Lie­ber Gott, und wie we­nig ist dran ge­we­sen! Nichts wei­ter, als was alle Tage pas­siert un­ter jun­gem Volk und was auch mir al­tem Weib pas­siert ist in jun­gen Ta­gen. Bloß ein biss­chen von dem, was so bei der Or­gel auf dem Jahr­markt ge­druckt ver­kauft wird und bei der Ar­beit – in der Kü­che, auf dem Fel­de und im Gar­ten – von uns ar­men, dum­men Din­gern ge­sun­gen wird zum Ver­gnü­gen! Ach Gott, wenn es sich nicht um un­ser Lud­chen han­del­te, um den, um des­sent­wil­len du heu­te zu uns ge­kom­men bist und da­sit­zest, so wäre –«

      »Er­zäh­le mir doch da­von, Min­chen. Jetzt sit­ze ich nur des­sent­we­gen hier. Und nimm dir Zeit. Die ha­ben wir bei­de jetzt.«

      »Ich


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