Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Читать онлайн книгу.gebraucht hatten. Er tastete die Backe ab. Nein, er konnte von einer Erhöhung nichts spüren. Und wenn sie wirklich etwas merkten, ehe sie ihm das Ding fortnehmen konnten, hatte er zugebissen und es im Munde zermalmt.
Wieder lächelte Quangel. Jetzt war er wirklich frei, jetzt hatten sie keinerlei Gewalt mehr über ihn!
1 Julius Streicher war ein nationalsozialistischer Politiker. Er war Gründer, Eigentümer und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes ›Der Stürmer‹. <<<
67. Das Totenhaus
Das Totenhaus in Plötzensee beherbergt jetzt Otto Quangel. Die Einzelzelle des Totenhauses ist nun seine letzte Heimat auf dieser Erde.
Ja, jetzt liegt er auf einer Einzelzelle: Für die zum Tode Verurteilten gibt es keine Gefährten mehr, keinen Dr. Reichhardt, nicht einmal einen »Hund«. Die zum Tode Verurteilten haben nur noch den Tod zum Gefährten, so will es das Gesetz.
Es ist ein ganzes Haus, in dem sie leben, diese zum Tode Verurteilten, Dutzende, vielleicht Hunderte, Zelle an Zelle. Immer geht der Schritt der Wachen über den Gang, immer hört man Klirren, und die ganze Nacht bellen die Hunde auf den Höfen.
Aber in den Zellen die Gespenster sind still, in den Zellen ist Ruhe, man hört keinen Laut. Sie sind so still, diese Todeskandidaten! Aus allen Teilen Europas zusammengeholt, Männer, Jünglinge, fast noch Knaben, Deutsche, Franzosen, Holländer, Belgier, Norweger, gute Menschen, schwache Menschen, böse Menschen, alle Temperamente vom Sanguiniker bis zum Choleriker, bis zum Melancholiker. Aber in diesem Hause verwischen sich die Unterschiede, sie sind alle still geworden, nur noch Gespenster ihrer selbst. Kaum je hört Quangel nachts ein Weinen, und wieder Stille, Stille … Stille …
Er hat die Stille immer geliebt. Diese letzten Monate hatte er ein Leben führen müssen, das seiner ganzen Wesensart entgegengesetzt war: nie mit sich allein, so oft zum Sprechen gezwungen, er, der doch alles Sprechen hasste. Nun ist er noch ein Mal, ein letztes Mal, zu seiner Art des Lebens zurückgekehrt, in die Stille, in die Geduld. Der Dr. Reichhardt war gut, er hat ihn vieles gelehrt, aber nun, dem Tode so nahe, ist es noch besser, ohne den Dr. Reichhardt zu leben.
Von Dr. Reichhardt hat er es übernommen, sich ein regelmäßiges Leben hier in der Zelle einzurichten. Alles hat seine Zeit: das sehr sorgfältige Waschen, einige Freiübungen, die er dem Zellengefährten abgelauscht hat, je eine Stunde Spaziergang am Vor- wie am Nachmittag, das gründliche Reinigen der Zelle, das Essen, der Schlaf. Es gibt hier auch Bücher zum Lesen, jede Woche werden ihm sechs Bücher auf die Zelle gebracht; aber darin hat er sich nicht geändert, er sieht sie nicht an. Er wird doch auf seine alten Tage nicht noch mit Lesen anfangen.
Aber noch ein anderes hat er von dem Dr. Reichhardt übernommen. Während seiner Spaziergänge summt er vor sich hin. Er erinnert sich an alte Kinder- und Volkslieder, von der Schule her. Aus seiner frühesten Jugend tauchen sie in ihm auf, Vers reiht sich an Vers – was für einen Kopf er doch hat, der dies alles über vierzig Jahre hin noch weiß! Und dann die Gedichte: Der Ring des Polykrates, Die Bürgschaft, Freude, schöner Götterfunken, Der Erlkönig. Aber das Lied von der Glocke bekommt er nicht mehr zusammen. Vielleicht hat er nie alle Verse gekonnt, das weiß er nun nicht mehr …
Ein stilles Leben, aber den Hauptinhalt des Tages bietet doch die Arbeit. Ja, hier muss er arbeiten, ein bestimmtes Quantum Erbsen muss er sortieren, wurmstichige Erbsen auslesen, halbe, zerbrochene entfernen wie die Unkrautsamen und die schwarzgrauen Kugeln der Wicken. Er tut diese Arbeit gerne, seine Finger sortieren fleißig Stunde um Stunde.
Und es ist gut, dass er gerade diese Arbeit bekommen hat, sie sättigt ihn. Denn nun sind die guten Zeiten, da er von den Speisen Dr. Reichhardts mitessen durfte, endgültig vorbei. Was sie ihm in seine Zelle reichen, ist schlecht gekocht, Wassergeplemper, nasses, klebriges Brot mit Kartoffelbeimischung, das unverdaulich schwer in seinem Magen liegt.
Aber da helfen die Erbsen. Er kann nicht viel abnehmen, denn sein Quantum wird ihm zugewogen, aber er kann so viel abnehmen, dass er einigermaßen satt wird. Er weicht sich diese Erbsen in Wasser ein, und wenn sie gequollen sind, tut er sie in seine Suppe, damit sie ein bisschen warm werden, und dann kaut er sie. So verbessert er sein Essen, von dem das Wort gilt: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.
Er vermutet es beinahe, dass die Aufseher, die Arbeitsinspektoren wissen, was er tut, dass er Erbsen stiehlt, aber sie sagen nichts. Und sie sagen nichts, nicht weil sie den zum Tode Verurteilten schonen wollen, sondern weil sie gleichgültig sind, stumpf geworden in diesem Hause, in dem sie alle Tage so viel Elend erleben.
Sie reden nicht, schon damit der andere nicht spricht. Sie wollen keine Klagen hören, sie können ja doch nichts ändern, bessern, hier geht alles seinen starren Weg. Sie sind nur Räderchen einer Maschine, Räderchen aus Eisen, aus Stahl. Wenn das Eisen weich würde, müsste das Rädchen ersetzt werden, sie wollen nicht ersetzt werden, sie wollen weiter Rädchen sein.
Darum können sie auch nicht trösten, sie wollen es nicht, sie sind, wie sie sind: gleichgültig, kalt, ohne alle Teilnahme.
Zuerst, als Otto Quangel aus dem ihm vom Präsidenten Feisler verordneten Dunkelarrest in diese Zelle hinaufkam, hatte er gemeint, es sei für ein, zwei Tage, er hatte gemeint, sie seien begierig darauf, das Todesurteil rasch an ihm zu vollstrecken, es wäre ihm recht gewesen.
Aber dann erfährt er allmählich, dass es Wochen und Wochen mit der Vollstreckung des Urteils dauern kann, Monate, ja, womöglich ein Jahr. Doch, es gibt zum Tode Verurteilte, die schon ein Jahr auf ihren Tod warten, die sich jeden Abend zum Schlafen hinlegen und die nicht wissen, ob sie in der Nacht aus diesem Schlaf von den Henkersgehilfen geweckt werden; jede Nacht, jede Stunde, den Bissen im Munde, beim Erbsenpalen, auf dem Notdurftkübel, stets kann die Tür sich auftun, eine Hand winkt, eine Stimme spricht: »Komm! Jetzt ist es so weit!«
Es ist eine unermessliche Grausamkeit, die in dieser über Tage, Wochen, Monate verlängerten Todesangst liegt, und es sind nicht nur juristische Formalien, es machen nicht nur die eingereichten Gnadengesuche, auf die der Entscheid erst abgewartet werden muss, die diese Verzögerung bedingen. Manche sagen auch, der Henker ist überbeschäftigt, er kann es nicht mehr schaffen. Aber der Henker arbeitet nur an den Montagen und an den Donnerstagen, an den anderen Tagen nicht. Er ist über Land, überall in Deutschland wird hingerichtet, der Henker arbeitet auch auswärts. Aber wie kommt es dann, dass von Verurteilten der eine sieben Monate früher als sein in gleicher Sache Mitverurteilter