Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Читать онлайн книгу.Was würden sie mit ihm tun?
»Verbirg mein Seel aus Gnaden in deiner offnen Seit,
Rück sie aus allem Schaden in deine Herrlichkeit.
Der ist wohl hin gewesen, der kommt ins Himmelsschloss;
Der ist ewig genesen, der bleibt in deinem Schoß.«
Während des Absingens der zweiten Strophe war es im Saale schon wieder unruhig geworden. Der Präsident hatte geflüstert, der Ankläger hatte einen Zettel zu dem wachhabenden Polizeioffizier geschickt.
Aber der kleine Buckel hatte auf nichts von alledem geachtet. Sein Blick war zur Decke des Saales gerichtet. Nun rief er laut, mit einer ekstatisch verzückten Stimme: »Ich komme!«
Er hob die Arme, er stieß sich mit den Füßen von der Bank ab, er wollte fliegen …
Dann fiel er unbeholfen zwischen die vor ihm sitzenden Zeugen, die erschrocken zur Seite sprangen, rollte zwischen die Bänke …
»Schaffen Sie den Mann raus!«, rief der Präsident gebieterisch in den schon wieder tumultuarisch erregten Saal. »Er soll ärztlich untersucht werden!«
Ulrich Heffke wurde aus dem Saal gebracht.
»Wie man sieht: eine Familie von Verbrechern und Wahnsinnigen«, stellte der Präsident fest. »Nun, es wird für die Ausmerzung gesorgt werden.«
Und er warf einen drohenden Blick auf Otto Quangel, der, seine Hosen mit den Händen haltend, noch immer auf die Tür sah, durch die der kleine Schwager verschwunden war.
Freilich wurde für die Ausmerzung des kleinen Buckels Ulrich Heffke gesorgt. Körperlich wie geistig war er nicht lebenswert, und nach einem kurzen Anstaltsaufenthalt sorgte eine Spritze dafür, dass er dieser bösen Welt wirklich Valet sagen konnte.
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65. Die Hauptverhandlung: Die Verteidiger
Der Verteidiger Anna Quangels, der versorgte, graue ältliche Mann, der so gerne in selbstvergessenen Augenblicken in der Nase bohrte und der unverkennbar jüdisch aussah (dem aber nichts »bewiesen« werden konnte, denn seine Papiere waren »rein arisch«), dieser Mann, der ex officio zum Rechtsbeistand der Frau gemacht worden war, erhob sich zu seinem Plädoyer.
Er führte aus, dass er es sehr bedauern müsse, gezwungen zu sein, in Abwesenheit seiner Mandantin sprechen zu müssen. Gewiss seien ihre Ausfälle gegen so bewährte Einrichtungen der Partei wie die SA und die SS beklagenswert …
Zwischenruf des Anklägers: »Verbrecherisch!«
Jawohl, selbstverständlich stimme er der Anklagebehörde zu, solche Ausfälle seien höchst verbrecherisch. Immerhin sehe man an dem Fall des Bruders seiner Mandantin, dass sie kaum für voll zurechnungsfähig angesehen werden könne. Der Fall Ulrich Heffke, der sicher dem hohen Gerichtshof noch lebhaft in der Erinnerung sei, habe bewiesen, dass in der Familie Heffke der Geist religiösen Wahns umgehe. Er nehme wohl, ohne dem Urteil des ärztlichen Sachverständigen vorgreifen zu wollen, mit Recht an, dass es sich um Schizophrenie handele, und da die Schizophrenie zu den Erbkrankheiten gehöre …
Hier wurde der graue Verteidiger zum zweiten Male von dem Ankläger unterbrochen, der den Gerichtshof bat, den Rechtsanwalt zu ermahnen, zur Sache zu sprechen.
Präsident Feisler mahnte den Anwalt, zur Sache zu sprechen.
Der Anwalt wandte ein, er spreche zur Sache.
Nein, er spreche nicht zur Sache. Es handle sich um Hoch- und Landesverrat, nicht um Schizophrenie und Irresein.
Wieder wandte der Anwalt ein: Wenn der Herr Ankläger berechtigt sei, die moralische Minderwertigkeit seiner Mandantin zu beweisen, so sei er berechtigt, über Schizophrenie zu sprechen. Er bitte um Gerichtsbeschluss.
Der Gerichtshof zog sich zur Beschlussfassung über den Antrag des Verteidigers zurück. Dann verkündete Präsident Feisler: »Weder in der Voruntersuchung noch in der heutigen Verhandlung haben sich irgendwelche Anzeichen für eine geistige Störung der Anna Quangel ergeben. Der Fall ihres Bruders Ulrich Heffke kann nicht als beweiskräftig herangezogen werden, da über den Zeugen Heffke noch kein gerichtsärztliches Gutachten vorliegt. Es ist sehr wohl möglich, dass es sich bei dem Ulrich Heffke um einen gefährlichen Simulanten handelt, der seiner Schwester nur Hilfestellung leisten wolle. Es wird der Verteidigung aufgegeben, sich an die Tatsachen des Hoch- und Landesverrates zu halten, wie sie in der heutigen Verhandlung zutage getreten sind …«
Triumphierender Blick des Anklägers Pinscher zu dem versorgten Anwalt.
Und trüber Gegenblick des Anwalts.
»Da es mir vom Hohen Gerichtshof untersagt ist«, begann der Anwalt Anna Quangels von Neuem, »auf den Geisteszustand meiner Mandantin einzugehen, so überspringe ich alle die Punkte, die für eine verminderte Zurechnungsfähigkeit sprechen: ihre Beschimpfung des eigenen Gatten nach dem Tode des Sohnes, ihr seltsames, fast geistesgestört anmutendes Verhalten bei der Frau des Obersturmbannführers …«
Der Pinscher kläfft los: »Ich erhebe schreienden Protest dagegen, wie der Verteidiger der Angeklagten das Verbot des Gerichtes umgeht. Er überspringt die Punkte und hebt sie umso nachdrücklicher hervor. Ich beantrage Gerichtsbeschluss!«
Wiederum zieht sich der Gerichtshof zurück, und bei seinem Wiedererscheinen verkündet der Präsident Feisler bitterböse, dass der Anwalt wegen Übertretung eines Gerichtsbeschlusses zu einer Geldstrafe von fünfhundert Mark verurteilt sei. Für den Fall einer Wiederholung wird der Wortentzug angedroht.
Der graue Anwalt verbeugt sich. Er sieht sorgenvoll aus, als plage ihn der Gedanke, wie er diese fünfhundert Mark zusammenbringen solle. Er beginnt zum dritten Mal seine Rede. Er bemüht sich, die Jugend Anna Quangels zu schildern, die Dienstmädchenjahre, dann die Ehe an der Seite eines Mannes, der ein kalter Fanatiker sei, ein ganzes Frauenleben: »Nur Arbeit, Sorge, Verzicht, Sichfügen in einen harten Mann. Und dieser Mann beginnt plötzlich, Karten hochverräterischen Inhalts zu schreiben. Es ist aus der Verhandlung klar erwiesen, dass es der Mann war, der auf diesen Gedanken kam, nicht die Frau. Alle gegenteiligen Behauptungen meiner Mandantin in der Voruntersuchung sind als fehlgeleiteter Opferwille aufzufassen …«
Der