Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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Hin­rich­tungs­tag, dann wer­de ich mich wil­lig fü­gen, nur heu­te noch nicht! Und sie bit­ten, sie be­ten, sie bet­teln.

      Eine Uhr schlägt vier. Schrit­te, Schlüs­sel­ge­klap­per, Mur­meln. Die Schrit­te nä­hern sich. Das Herz fängt an zu po­chen, Schweiß bricht aus über den gan­zen Kör­per. Plötz­lich klirrt ein Schlüs­sel im Schloss. Still doch, still doch, es ist ja die Zel­le ne­ben­an, die auf­ge­schlos­sen wur­de, nein, noch eine wei­ter! Du bist noch nicht dran. Ein rasch er­stick­tes: Nein! Nein! Hil­fe! Schar­ren von Fü­ßen. Stil­le. Der re­gel­mä­ßi­ge Schritt des Pos­tens. Stil­le. War­ten. Angst­vol­les War­ten. Ich er­tra­ge das nicht …

      Und nach ei­ner end­lo­sen Frist, nach ei­nem Ab­grund vol­ler Angst, nach ei­ner un­er­träg­li­chen War­te­zeit, die doch er­tra­gen wer­den muss, nä­hert sich wie­der das Mur­meln, das Geräusch vie­ler Füße, das Schlüs­sel­ge­klap­per … Es kommt nä­her, nahe, nahe. O Gott, heu­te noch nicht, nur noch die drei Tage! Ruck­zuck! Schlüs­sel im Schloss – bei mir? Oh, bei dir! Nein, es ist die Nach­bar­zel­le, ein paar ge­mur­mel­te Wor­te, sie ho­len also den Nach­barn. Sie ho­len ihn, die Schrit­te ent­fer­nen sich …

      Zeit zer­bricht lang­sam, we­nig Zeit zer­brö­ckelt lang­sam in un­end­lich vie­le klei­ne Stücke. War­ten. Nichts wie War­ten. Und der Schritt der Wa­chen auf dem Gang. O Gott, heu­te neh­men sie ein­fach Zel­le ne­ben Zel­le, als Nächs­ter kommst du dran. Als – Nächs­ter – kommst – du – dran! In drei Stun­den wirst du eine Lei­che sein, die­ser Kör­per ist tot, die­se Bei­ne, die dich jetzt noch tra­gen, tote Ste­cken, die­se Hand, die ge­ar­bei­tet, ge­strei­chelt, ge­kost und ge­sün­digt hat, wird nichts mehr sein wie ein ver­dor­be­nes Stück Fleisch! Es ist un­mög­lich, und doch ist es wahr!

      War­ten – war­ten – war­ten! Und plötz­lich sieht der War­ten­de, dass durch sein Fens­ter der Tag däm­mert, er hört eine Glo­cke zum Auf­ste­hen ru­fen. Der Tag ist ge­kom­men, ein neu­er Ar­beits­tag – und er ist noch ein­mal ver­schont ge­blie­ben. Er hat noch drei Tage Frist, vier Tage Frist, wenn es ein Don­ners­tag ist. Das Glück hat ihm ge­lä­chelt! Er at­met leich­ter, end­lich kann er leich­ter at­men, viel­leicht ver­scho­nen sie ihn ganz. Vi­el­leicht kommt ein großer Sieg und da­mit eine Am­nes­tie, viel­leicht wird er zu le­bens­läng­li­chem Zucht­haus be­gna­digt wer­den!

      Eine Stun­de leich­te­res At­men!

      Und schon setzt die Angst neu ein, ver­gif­tet die­se drei, vier Tage: Sie ha­ben dies­mal gra­de bei dei­ner Zel­le Schluss ge­macht, am Mon­tag wer­den sie mit mir be­gin­nen. Oh, was tu ich nur? Ich kann doch noch nicht …

      Und im­mer von Neu­em, im­mer von Neu­em, zwei­mal die Wo­che, alle Tage die Wo­che, jede Se­kun­de die Angst!

      Und Mo­nat um Mo­nat: To­des­angst!

      Manch­mal frag­te sich Otto Quan­gel, wo­her er al­les die­ses wuss­te. Er sprach doch ei­gent­lich nie mit je­man­dem, und ei­gent­lich sprach nie je­mand mit ihm. Ei­ni­ge dür­re Wor­te des Auf­se­hers: »Mit­kom­men! Auf­ste­hen! Schnel­ler ar­bei­ten!« Vi­el­leicht ge­ra­de noch beim Es­sen­ab­fül­len ein mehr mit den Lip­pen ge­bil­de­tes als ge­hauch­tes Wort: »Heu­te sie­ben Hin­rich­tun­gen«, das war al­les.

      Aber sei­ne Sin­ne wa­ren so un­end­lich scharf ge­wor­den. Sie er­rie­ten, was er nicht sah. Sei­ne Ohren hör­ten je­des Geräusch auf dem Gang, ein Ge­sprächs­fet­zen der sich ab­lö­sen­den Pos­ten, ein Fluch, ein Schrei – al­les ent­hüll­te sich ihm, nichts blieb ihm ver­bor­gen. Und dann in den Näch­ten, in den lan­gen Näch­ten, die nach der Haus­ord­nung drei­zehn Stun­den dau­er­ten, die aber nie Näch­te wa­ren, weil in sei­ner Zel­le stets Licht bren­nen muss­te, dann wag­te er es manch­mal: er klet­ter­te zum Fens­ter hin­auf, er lausch­te in die Nacht. Er wuss­te, die Pos­ten un­ten auf dem Hof mit ih­ren ewig bel­len­den Hun­den hat­ten den Be­fehl, auf je­des Ge­sicht im Fens­ter zu schie­ßen, und nicht sel­ten fiel auch ein­mal ein Schuss – aber er wag­te es trotz­dem.

      Er stand da auf sei­nem Sche­mel, er spür­te die rei­ne Nacht­luft (schon die­se Luft war be­loh­nend für jede Ge­fahr), und dann hör­te er dies Flüs­tern von Fens­ter zu Fens­ter, sinn­lo­se Wor­te zu­erst: »Den Karl hat’s mal wie­der!« Oder: »Die Frau von 347 hat heu­te den gan­zen Tag un­ten ge­stan­den«, aber mit der Zeit konn­te er sich auf al­les einen Vers ma­chen. Mit der Zeit wuss­te er, dass in der Zel­le ne­ben ihm ein Mann von der Spio­na­ge­ab­wehr saß, der sich dem Fein­de ver­kauft ha­ben soll­te und der schon zwei­mal ver­sucht ha­ben soll­te, sich um­zu­brin­gen. Und in der Zel­le hin­ter ihm saß ein Ar­bei­ter, der hat­te in ei­nem Elek­tri­zi­täts­werk die Dy­na­mos ver­schmo­ren las­sen, ein Kom­mu­nist. Und der Auf­se­her Brenne­cke be­sorg­te Pa­pier und Blei­stift­stum­mel und schmug­gel­te auch Brie­fe aus dem Bau, wenn er von au­ßen ge­schmiert wur­de, mit sehr viel Geld oder bes­ser noch mit Le­bens­mit­teln. Und … und … Nach­rich­ten über Nach­rich­ten. Auch ein To­ten­haus spricht, at­met, lebt, auch in ei­nem To­ten­haus er­lischt nicht das un­be­zwing­li­che Be­dürf­nis der Men­schen, sich mit­zu­tei­len.

      Aber wenn auch Otto Quan­gel sein Le­ben – manch­mal – wag­te, um zu lau­schen, wenn sei­ne Sin­ne auch nie müde wur­den, auf jede Ver­än­de­rung zu ach­ten, so ganz ge­hör­te Quan­gel nicht zu den an­de­ren. Manch­mal ahn­ten sie, dass auch er am nächt­li­chen Fens­ter stand, ei­ner flüs­ter­te: »Na, wie ist’s denn mit dir, Otto? Gna­den­ge­such schon zu­rück?« (Sie wuss­ten al­les über ihn.) Aber nie ant­wor­te­te er mit ei­nem Wort, nie gab er zu, dass auch er lausch­te. Er ge­hör­te nicht zu ih­nen, wenn auch das glei­che Ur­teil über ihn ver­hängt war, er war ein ganz an­de­rer.

      Und dass er ein ganz an­de­rer war als sie, das mach­te nicht sein Ein­zel­gän­ger­tum, wie es frü­her ge­we­sen, das mach­te nicht sein Be­dürf­nis nach Ruhe, das ihn bis­her von al­len ge­trennt hat­te, das kam nicht von sei­ner Ab­nei­gung ge­gen Re­den, die frü­her sei­ne Zun­ge schweig­sam ge­macht – son­dern das mach­te je­nes klei­ne Glas­röhr­chen, das ihm der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm ge­ge­ben.

      Die­ses Röhr­chen mit der was­ser­hel­len Blau­säu­re­lö­sung hat­te ihn frei ge­macht. Die an­de­ren, sei­ne Lei­dens­ge­fähr­ten, sie muss­ten den letz­ten bit­te­ren Weg ge­hen; er hat­te die Wahl. Er konn­te in je­der Mi­nu­te ster­ben, er muss­te es nur wol­len. Er war frei. Er war, im To­ten­haus, hin­ter Git­tern und Mau­ern, er war, ge­hal­ten mit Ket­ten und Schel­len – er, Otto Quan­gel, Tisch­ler­meis­ter a.D., Werk­meis­ter a.D., Ehe­gat­te a.D., Va­ter a.D., Auf­rüh­rer a.D. – er war frei ge­wor­den. Das hat­ten sie be­wirkt, sie hat­ten ihn frei ge­macht, wie er es nie in sei­nem Le­ben ge­we­sen war. Er, der Be­sit­zer die­ses Glas­röhr­chens, fürch­te­te den Tod nicht. Der Tod war zu je­der Stun­de bei ihm, er war sein Freund. Er, Otto Quan­gel, brauch­te an den Mon­ta­gen und den Don­ners­ta­gen nicht lan­ge vor der Zeit zu er­wa­chen und angst­voll an der Türe lau­schen. Er ge­hör­te nicht zu ih­nen, nicht ganz. Er muss­te sich nicht quä­len, weil er das Ende al­ler Qual bei sich hat­te.

      Es war ein gu­tes Le­ben, das er führ­te. Er lieb­te es. Er war nicht ein­mal ganz si­cher, dass er die­se Glasam­pul­le je ge­brau­chen wür­de. Vi­el­leicht war es noch bes­ser, bis zur letz­ten Mi­nu­te zu war­ten? Vi­el­leicht durf­te er Anna doch noch ein­mal se­hen? War es nicht rich­ti­ger, de­nen kei­ne Schan­de zu er­spa­ren?

      Sie soll­ten ihn hin­rich­ten, bes­ser, viel bes­ser! Er woll­te es wis­sen, wie es da­bei zu­ging – ihm war, als


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