Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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die für sol­che Pau­sen vor­ge­se­hen war. Da aber der Saal sich fast völ­lig ge­leert hat­te und der Trans­port des Ge­fan­ge­nen mit den ewig rut­schen­den Ho­sen über die vie­len Gän­ge und Trep­pen ziem­lich um­ständ­lich war, so glaub­ten sie sich über die­se Vor­schrift hin­weg­set­zen zu kön­nen und blie­ben plau­dernd in ei­ni­ger Ent­fer­nung von Quan­gel ste­hen.

      Der alte Werk­meis­ter stütz­te den Kopf in die Hän­de und ver­sank für we­ni­ge Mi­nu­ten in eine Art Halb­schlaf. Die sie­ben­stün­di­ge Ver­hand­lung, wäh­rend der er sei­ner Auf­merk­sam­keit nicht ein­mal er­laubt hat­te ab­zuir­ren, hat­te ihn er­schöpft. Bil­der zo­gen schat­ten­haft an ihm vor­über: die kral­len­fing­ri­ge Hand des Prä­si­den­ten Feis­ler, die sich öff­ne­te und schloss, der Ver­tei­di­ger von Anna mit dem Fin­ger in der Nase, der klei­ne Bu­ckel Heff­ke, wie er flie­gen ler­nen woll­te, Anna, die mit ro­ten Ba­cken »Sie­ben­un­dacht­zig« sag­te und de­ren Au­gen da­bei eine so hei­te­re Über­le­gen­heit be­zeigt hat­ten, wie er sie nie an ihr ge­se­hen, und vie­le an­de­re Bil­der noch, vie­le – an­de­re – Bil­der – noch –

      Sein Kopf press­te sich fes­ter ge­gen sei­ne Hän­de, er war so müde, er muss­te schla­fen, nur fünf Mi­nu­ten …

      So leg­te er einen Arm auf den Tisch und den Kopf dar­auf. Er at­me­te be­hag­lich. Nur fünf Mi­nu­ten fes­ter Schlaf, eine klei­ne Span­ne Ver­ges­sen.

      Aber er schreck­te wie­der hoch. Es war da et­was in die­sem Saa­le, das ihm die er­sehn­te Ruhe zer­stör­te. Er sah mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen um­her, und sein Blick fiel auf den Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm, der am Ge­län­der des Zu­hö­rer­raums stand und ihm Zei­chen zu ma­chen schi­en. Quan­gel hat­te den al­ten Herrn schon vor­her ge­se­hen, wie über­haupt nichts sei­ner re­gen Auf­merk­sam­keit ent­gan­gen zu sein schi­en, aber bei den vie­len er­re­gen­den Ein­drücken die­ses Ta­ges hat­te er nicht viel No­tiz von dem frü­he­ren Haus­ge­nos­sen aus der Ja­blons­ki­stra­ße ge­nom­men.

      Jetzt also stand der Rat an der Bar­rie­re und mach­te ihm Zei­chen.

      Quan­gel warf einen Blick auf die bei­den Schu­pos. Sie stan­den etwa drei Schrit­te von ihm ent­fernt, kei­ner sah ihn di­rekt an, und sie wa­ren in ein sehr leb­haf­tes Ge­spräch ver­tieft. Quan­gel hör­te ge­ra­de die Wor­te: »Und da fass ick den Bru­der ins Je­nick …«

      Der Werk­meis­ter war auf­ge­stan­den, hat­te die Ho­sen fest mit bei­den Hän­den ge­packt und ging nun Schritt um Schritt durch die gan­ze Län­ge des Saa­l­es auf den Kam­mer­ge­richts­rat zu.

      Der stand an der Bar­re, den Blick hielt er jetzt ge­senkt, als wol­le er den her­an­na­hen­den Ge­fan­ge­nen nicht se­hen. Dann – Quan­gel war nur noch ein paar Schrit­te von ihm ent­fernt – dreh­te sich der Kam­mer­ge­richts­rat rasch um, ging zwi­schen den Stuhl­rei­hen hin­durch und auf die Aus­gangs­tür zu. Aber von ihm zu­rück­ge­las­sen, lag ein klei­nes wei­ßes Päck­chen, nicht ein­mal so groß wie ein Garn­röll­chen, auf dem Ge­län­der.

      Quan­gel mach­te die letz­ten Schrit­te, fass­te zu und barg das Röll­chen zu­erst in der hoh­len Hand, dann in der Ho­sen­ta­sche. Es hat­te sich fest an­ge­fühlt. Er dreh­te sich um und sah, dass sei­ne bei­den Be­wa­cher noch im­mer nicht sei­ne Ab­we­sen­heit be­merkt hat­ten. Dann klapp­te eine Tür im Zuschau­er­raum, und der Kam­mer­ge­richts­rat war fort.

      Quan­gel be­gann wie­der sei­ne Wan­de­rung zu­rück zu sei­nem Platz. Er war ziem­lich er­regt, sein Herz klopf­te, es schi­en so un­wahr­schein­lich, dass die­ses Aben­teu­er gut aus­ge­hen soll­te. Und was war dem al­ten Rat so wich­tig er­schie­nen, es ihm zu­zu­ste­cken, dass er dar­um so viel ge­wagt hat­te?

      Quan­gel war nur noch ei­ni­ge Schrit­te vom Platz ent­fernt, als der eine Wacht­meis­ter ihn plötz­lich sah. Er fuhr er­schro­cken zu­sam­men, warf einen ver­wirr­ten Blick auf den lee­ren Sitz Quan­gels, als wol­le er sich über­zeu­gen, dass der An­ge­klag­te wirk­lich nicht mehr dort saß, und schrie dann fast in sei­nem Schreck: »Wat ma­chen Sie denn da?«

      Auch der an­de­re Schu­po fuhr her­um und starr­te Quan­gel an. In ih­rer ers­ten Ver­wir­rung stan­den bei­de wie an­ge­wur­zelt, dach­ten gar nicht dar­an, den Ge­fan­ge­nen zu­rück­zu­füh­ren.

      »Ich möch­te mal aus­tre­ten, Herr Wacht­meis­ter!«, sag­te Quan­gel.

      Aber wäh­rend der rasch be­ru­hig­te Po­li­zist noch knurr­te: »Da lat­schen Se je­fäl­lichst nich al­lee­ne los! Da mel­den Se sich je­fäl­lichst, Sie!« – wäh­rend der Po­li­zist noch so sprach, dach­te Quan­gel plötz­lich, dass er es nicht an­ders ha­ben woll­te als Anna. Soll­ten die ru­hig ihr Ur­teil ohne die bei­den An­ge­klag­ten ver­kün­den, es wür­de ih­nen viel von ih­rem Spaß neh­men. Er, Quan­gel, war nicht neu­gie­rig dar­auf, weil er es näm­lich schon kann­te. Au­ßer­dem sehn­te er sich da­nach, zu er­fah­ren, was für eine Wich­tig­keit ihm der alte Rat da zu­ge­steckt hat­te.

      Die bei­den Po­li­zis­ten wa­ren bei Quan­gel an­ge­langt und fass­ten ihn bei den Ar­men, die doch die Ho­sen hiel­ten.

      Quan­gel sah sie kalt an und sag­te: »Hit­ler, ver­re­cke!«

      »Was?« Sie wa­ren ver­blüfft, trau­ten ih­ren Ohren nicht.

      Eine ihn un­ter dem Kinn tref­fen­de Faust mach­te das wei­te­re Ablei­ern die­ses Ro­sen­kran­zes un­mög­lich. Die bei­den Schu­pos schlepp­ten den be­wusst­lo­sen Quan­gel aus dem Saal.

      So kam es, dass Prä­si­dent Feis­ler das Ur­teil doch ohne die bei­den An­ge­klag­ten ver­kün­den muss­te. Um­sonst hat­te der höchs­te Rich­ter über die Be­lei­di­gung des An­walts gnä­dig hin­weg­ge­se­hen. Und Quan­gel be­hielt recht: die Ur­teils­ver­kün­dung mach­te dem Prä­si­den­ten ohne die Ge­sich­ter der bei­den An­ge­klag­ten kei­nen Spaß mehr, nicht mehr den all­er­ge­rings­ten. Er hat­te sich so schö­ne be­schimp­fen­de For­mu­lie­run­gen aus­ge­dacht.

      Wäh­rend Feis­ler noch sprach, öff­ne­te Quan­gel in sei­ner War­te­zel­le die Au­gen. Sein Kinn schmerz­te, der gan­ze Kopf schmerz­te, müh­sam nur konn­te er sich an das Ge­sche­he­ne er­in­nern. Sei­ne Hand tas­te­te sich vor­sich­tig in die Ta­sche: Gott­lob, das Päck­chen war noch da.

      Er hör­te den Schritt der Wa­che auf dem Gang, nun hör­te das Geräusch auf, und statt­des­sen wur­de ein lei­ser, schür­fen­der Laut von der Tür her ver­nehm­lich: das Schutz­schild wur­de vom Spi­on zu­rück­ge­scho­ben. Quan­gel hat­te die Au­gen ge­schlos­sen, er lag, als sei er noch im­mer be­wusst­los. Nach ei­ner end­los er­schei­nen­den Frist kam wie­der­um das lei­se, schür­fen­de Geräusch von der Tür her und dann end­lich von neu­em der Schritt der Wa­che …

      Der Spi­on war wie­der ge­schlos­sen, die nächs­ten zwei, drei Mi­nu­ten wür­de der Pos­ten be­stimmt nicht her­ein­se­hen.

      Quan­gel fass­te schnell in die Ta­sche und brach­te das Röll­chen zum Vor­schein. Er streif­te den Fa­den ab, der es um­spann­te, ent­fal­te­te den Zet­tel, der um ein Glas­röhr­chen lag, und las die Ma­schi­nen­schrift: »Blau­säu­re, tö­tet schmerz­los in we­ni­gen Se­kun­den. Im Mund ver­ste­cken. Für die Frau wird auch ge­sorgt. Zet­tel ver­nich­ten!«


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