Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.hinauf in das Turmgemach.
»Zu Simon dem Magier! Zu Simon dem Zauberer!«
Neuntes Kapitel
Wie der Arzt Simone Spada die Weser hinabfuhr und gen Osnabrück ritt.
Durch die Mondscheinnacht, welche das Schloß Pyrmont auf so sonderliche Weise durchträumte, jagte im wildesten Galopp der italienische Arzt Simone Spada mit seinem jungen Diener. Gegen die Weser ritt er ohne Furcht vor den lauernden Strauchdieben und dem zum heiligen Born ziehenden böswilligen Gesindel, vor welchem ihn Klaus Eckenbrecher beim Abschied so eindringlich gewarnt hatte. Verdächtige Haufen begegneten den beiden Reitern auch oft genug, doch kamen sie unaufgehalten zwischen ihnen durch.
Konnte Simone Spada einen andern Gedanken als den an das eben vorgegangene Wiederfinden fassen?
»Fausta, Fausta La Tedesca wieder unter den Lebendigen! O Verhängnis! O Verhängnis!« rief er und schlug sich die Stirn mit der Faust und stieß immer von neuem seinem schäumenden und schnaufenden Rappen die blutigen Sporen in die Weichen.
So jagte er vorwärts durch Schatten und Licht, durch Wald und Feld und mäßigte den Lauf seines Pferdes nicht eher, als bis die Hufschläge desselben dumpf auf der Brücke, welche über die Weser in die alte Stadt und Festung Hameln führt, widerhallten.
Da die Tore bereits seit geraumer Zeit geschlossen waren, so mußte der Arzt wohl eine Stunde harren, ehe die Wacht ihm das Brückentor öffnete und ihn einließ gegen ein gutes Trinkgeld. Für ein gutes Trinkgeld geleitete ihn darauf ein Hellebardierer nach dem Schützenhause nahe der Weserpforte, wo Herr und Diener von den Rossen stiegen und ihr Nachtquartier nahmen. Der todmüde Knabe Paul schlief nach kurzem Mahl sogleich ein; Simone Spada aber schritt bis zum Morgengrauen im Zimmer auf und ab und verwünschte die allzu langsam schleichende Zeit, während er selbst von einem unter seinem Gemache hausenden Viehhändler aus dem Land Wursten zu allen Teufeln gewünscht wurde.
Wie Fausta La Tedesca auf dem Schloß Pyrmont, so hatte in dieser bösen Nacht Simone Spada im Schützenhause zu Hameln seine wachen Träume, welche ihm den Schlaf vertrieben. Auch sein Gemach hüllte der Mond mit bleichem Schimmer, woraus dem Arzt die Bilder und Gestalten emporstiegen.
Da tauchte vor ihm die große, berühmte Stadt Bologna auf mit ihren Laubengängen, ihren schweren, massenhaften Palästen, ihren hängenden Türmen und dem Studentengewimmel ihrer Gassen. Im Schatten von San Domenico erblickte er sein Geburtshaus, wo er unter den Augen seines gelehrten Vaters Antonio Spada und seiner Mutter Marcella seine Kindheit und sein frühes Jünglingsalter in stillen Studien verlebte. Die Hallen der Universität, die Säle der Bibliothek mit ihren hunderttausend Bänden, ihren Weltkugeln, Bildern und Bildsäulen dehnen sich vor seinem Auge. Der Knabe ist ein Jüngling geworden, ein Student der Medizin, welchen der Vater einführt in die Tiefen der Wissenschaft. Eine verhängnisvolle Gestalt, finster und drohend, hebt sich im bleichen Mondlicht – das ist der deutsche Arzt Benedictus Meyenberger, der Freund Antonio Spadas – ein unglücklicher Mann!
Ein schweres Geschick hat ihn aus seinem nordischen Vaterland nach Italien, wo er einige Jahre im Hause von Simones Großvater verlebte, zurückgetrieben. Sein ihm geraubtes Kind sucht er und den Verderber seines Weibes. Und was er sucht, findet und verliert er wieder zu Bologna, und grenzenloses Leid fällt darüber auf Simone Spada.
Es hebt sich Venedig aus dem bunten Traum. Tot sind die Eltern Simone Spadas; mit dem Gastfreund des Vaters sucht von neuem Simone nach dem verlorenen Kinde, nach der Fausta La Tedesca.
Es ist eine schöne Nacht, leise wogt das Meer um eine öde Insel der Lagunen; auf dem feuchten Sande steht der deutsche Meister dem Räuber seines Glückes gegenüber; der volle Mond und die Fackel, welche Simone Spada hält, leuchten dem Kampfe der beiden Todfeinde. Der Leichnam Alexander Pazzis wird in die Fluten geworfen, ein Kahn tritt seine Rückfahrt zur Stadt an – – – was bricht urplötzlich die fröhliche Tanzmusik im Palast Barbarigo mit solchem Mißlaut ab? Ein Schatten ist über den Glanz des Festes gefallen, aus dem Arm Cesare Campolanis reißt der alte deutsche Arzt sein verlorenes Kind – Fausta La Tedesca!
Wehe dir, Simone Spada!
Vor ihrem Vater flieht Fausta. Gleich einem Irrlicht verschwindet sie hin, um in der Ferne wieder aufzutauchen. Wer hält und fesselt die Magierin Fausta La Tedesca? In hundert Formen und Farben, unter hundert Namen führt sie die ihr Folgenden in die Irre durch ganz Italien. In Padua sinkt der junge Doktor Simone in sein Blut durch das Schwert Cesare Campolanis. Sie ist hier, sie ist da – verschwunden! Mächtige Freunde und Beschützer stehen ihr zur Seite! Kardinäle, Prinzen, große Künstler. In Florenz wird sie gesehen am Hofe der Medicis; dann taucht sie in Rom auf, darauf in Neapel, und hier gibt sie endlich das Schicksal in die Hände ihrer Verfolger. Im Hafen flaggt das hanseatische Schiff »die Jungfrau von Wineta«, welches von Syrakus kommt und auf der Heimfahrt begriffen ist. Auf diesem Schiffe führen Benedictus und Simone die große Sünderin fort, daß sie im fremden Lande, unter einem fremden Himmel Buße tue in Einsamkeit und Dunkelheit.
Wehe dir, Simone Spada, schrecklich sind deine Träume!
Und nun, was nun? Was nun, da sie wieder unter den Lebenden wandelt und die Herzen vergiftet und die Leiber tötet?
Was nun? Ja, was nun? Wie war der Arzt Simone, warum war er jetzt nach Hameln geritten? Er wußte selbst keine Rechenschaft davon zu geben! Fieberglut und Frost fühlte er wechselnd in seinen Adern und Knochen! Westwärts lag ja eigentlich jetzt sein Weg, nordwestwärts gen Osnabrück, wo der alte Benedictus nach seinen langen, schmerzenvollen Wanderungen seine letzte Ruhestelle gefunden zu haben glaubte. Mußte er nicht den Alten aufreißen aus seinem dunkeln Winkel durch die Nachricht, daß die schöne, schreckliche Tochter ihrer Bande ledig sei und zu neuem, verderblichen Flug die Schwingen rühre?
O diese Nacht, diese Nacht! Wollte sie denn niemals ein Ende nehmen?
Wie es in dem Gehirn des Nachtwandlers sauste und summte, wie sein Atem flog – wie sich das Fieber immer tiefer ihm ins Gehirn wühlte!
»Gen Osnabrück, gen Osnabrück! Gott sei gelobt, da kommt der Morgen! Nun werden die Stadttore wohl wieder geöffnet sein! – Paul, Paul, zu Pferde, zu Pferde!«
Wohl kam der Morgen wie alle Dinge in dieser Welt, wenn man nur warten kann und will; und der Knabe Paul führte die Pferde hervor, aber – der Arzt Simone Spada konnte das seinige nicht besteigen; halb ohnmächtig sank er aus dem Sattel seinem Diener in die Arme.
»Zu Schiff, zu Schiff, die Weser hinab nach Minden – vorwärts im Namen aller Heiligen, vorwärts!«
Der Wirt vom Schützenhause rief: sogleich fahre ein Kahn stromab, und die Fremden könnten mit demselben fahren, wenn sie wollten.
»Zu Schiff, zu Schiff!« murmelte Simone; die Knechte des Gasthauses führten die Pferde durch die Weserpforte an den Fluß; auf den Arm seines Dieners gestützt folgte wankend der Arzt. Noch lag der Morgennebel auf den Wassern, als die Schiffer mit großem Geschrei vom Ufer abstießen. Auf ein schlechtes Lager, bereitet von Strohbündeln und Säcken, sank Simone und verhüllte das Haupt mit seinem Mantel; in den Nebel hinein glitt der Kahn, und als die Sonne die Dünste, welche über dem Strome lagerten, aufgesogen hatte, war das Schiff mit den seltsamen Fremdlingen längst den Augen des am Ufer lungernden Wirtes vom Schützenhause und seiner Knechte verschwunden.
Das war eine böse Fahrt!
Wie die fürchterliche Sonne des Jahres 1556 auf das Gehirn des kranken Simones ihre Strahlenpfeile herabschoß! Wie die Gegend langsam, langsam vorüberschlich: Dörfer, Flecken, Städte, Berge, Wälder, Felder, Wiesen! O Qual, Qual!
Oft genug hielt das Schiff an, ehe es durch die Porta Westfalica glitt und in Minden landete, wo der Arzt trotz dem Fieber, das ihn verzehrte, sein Roß wieder bestieg, um halb bewußtlos durch das Wiehengebirge und quer durch das offene Land gen Osnabrück zu jagen. Zerschlagen an Leib und Seele ritt er hier endlich ins Tor ein und hielt an in einer dunkeln, engen, schmutzigen