Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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dem Tode nicht ganz ent­sprach, bot er sich an, die Nacht be­tend bei der Lei­che zu­zu­brin­gen.

      Aber Jo­han­na lehn­te zwi­schen ih­ren strö­men­den Trä­nen die­ses Aner­bie­ten ab. Sie woll­te al­lein sein, ganz al­lein in die­ser schmerz­li­chen Ab­schieds­nacht. »Aber das geht doch nicht; wir wol­len alle bei­de blei­ben«, misch­te sich Ju­li­us ein. Sie ver­nein­te durch ein Kopf­schüt­teln, un­fä­hig ein Wort zu spre­chen. »Es ist mei­ne Mut­ter, mei­ne ein­zi­ge Mut­ter. Ich will al­lein mit ihr sein« sag­te sie end­lich. »Las­sen Sie ihr den Wil­len;« mahn­te der Dok­tor »die Wär­te­rin kann im Ne­ben­zim­mer blei­ben.«

      Der Pfar­rer und Ju­li­us füg­ten sich; bei­de wa­ren müde. Nun knie­te sich der Abbé Pi­cot sei­ner­seits nie­der, be­te­te, er­hob sich und ver­ab­schie­de­te sich mit den Wor­ten: »Es war eine Hei­li­ge« un­ge­fähr als wenn er sein »Do­mi­nus vo­bis­cum« sprach.

      »Willst Du nicht et­was neh­men?« frag­te Ju­li­us, der sei­ne ge­wöhn­li­che Stim­me wie­der­er­langt hat­te. Jo­han­na ant­wor­te­te nicht; sie hat­te gar nicht be­merkt, dass er sich zu ihr ge­wandt hat­te. »Du wür­dest gut tun, et­was zu Dei­ner Stär­kung zu neh­men« be­gann er wie­der. »Schick nur schnell nach Papa« ant­wor­te­te sie halb un­wil­lig. Und er ging hin­aus, um einen be­rit­te­nen Bo­ten nach Rou­en zu schi­cken.

      Sie blieb in ei­ner Art re­gungs­lo­sen Schmerz ver­sun­ken zu­rück, als hät­te sie dar­auf ge­war­tet, sich ganz der wo­gen­den Verzweif­lung in die­ser Stun­de des letz­ten Zu­sam­men­seins über­las­sen zu kön­nen.

      Die Schat­ten der Nacht hat­ten sich auf das Ge­mach her­ab­ge­senkt und hüll­ten die Tote in Fins­ter­nis. Die Wit­we Den­tu trip­pel­te auf den Fuss­s­pit­zen um­her und such­te nach al­len mög­li­chen Din­gen, die sie mit der ge­räusch­lo­sen Art ei­ner Kran­ken­wär­te­rin hier und dort zu­recht­leg­te. Dann zün­de­te sie zwei Ker­zen an und stell­te sie lei­se auf den Nacht­tisch am Kop­fen­de des Bet­tes, den sie mit ei­nem wei­ßen Tu­che be­deckt hat­te.

      Jo­han­na schi­en nichts zu se­hen und nichts zu hö­ren. Sie war­te­te dar­auf, al­lein zu sein. Ju­li­us kam zu­rück, nach­dem er ge­ges­sen hat­te. »Willst Du wirk­lich nichts zu Dir neh­men?« frag­te er noch­mals. Sie ver­nein­te aber­mals durch ein Kopf­schüt­teln.

      Er setz­te sich mehr re­si­gniert wie trau­rig nie­der, und war­te­te, ohne wei­ter zu spre­chen.

      So blie­ben sie alle drei, je­des für sich, auf ih­ren Plät­zen.

      Hin und wie­der schnarch­te die ein­ge­schla­fe­ne Wär­te­rin; dann er­wach­te sie plötz­lich.

      Ju­li­us er­hob sich end­lich und nä­her­te sich Jo­han­na. »Willst Du jetzt al­lein blei­ben?« Sie er­griff mit ei­ner un­will­kür­li­chen Hast sei­ne Hand und sag­te: »Ach ja! lass mich al­lein.«

      »Ich wer­de von Zeit zu Zeit nach Dir se­hen«, mur­mel­te er, sie auf die Stirn küs­send. Und er ging mit der Wit­we Den­tu her­aus, die ih­ren Ses­sel ins Ne­ben­zim­mer roll­te.

      Jo­han­na schloss die Tür; dann öff­ne­te sie weit die bei­den Fens­ter. Mit vol­len Zü­gen sog sie den Duft der draus­sen la­gern­den Heu­ern­te ein. Es war ge­ra­de zur­zeit, wo man den rei­chen Be­stand der Wie­sen ab­ge­mäht hat­te, der nun un­ter dem vol­len Mond­licht sei­nen wür­zi­gen Duft aus­ström­te.

      Die­ses süs­se Emp­fin­den mach­te ihr übel; es ver­letz­te sie wie eine bit­te­re Iro­nie.

      Sie nä­her­te sich wie­der dem Bet­te, er­griff die eine leb­lo­se kal­te Hand und be­trach­te­te ihre Mut­ter.

      Sie war nicht mehr so an­ge­schwol­len, wie im Au­gen­blick des Un­falls und schi­en zu schla­fen; viel fried­li­cher so­gar, als es sonst bei ihr der Fall war. Die vom Luft­zu­ge hin und her­be­weg­ten Ker­zen­flam­men ver­än­der­ten je­den Au­gen­blick die Schat­ten auf ih­rem Ge­sicht, so­dass man hät­te den­ken sol­len, sie lebe und habe sich be­wegt.

      Jo­han­na starr­te sie un­abläs­sig an, wäh­rend aus ih­rer frü­he­s­ten Ju­gend­zeit eine Fül­le von Erin­ne­run­gen auf sie ein­stürm­te.

      Sie rief sich Müt­ter­chens Be­su­che im Sprech­zim­mer des Klos­ters vor Au­gen, die Art und Wei­se wie sie ihr die Düte voll Ku­chen gab; eine Men­ge Ein­zel­hei­ten, klei­ner Er­eig­nis­se, Zärt­lich­keits­be­wei­se, Wor­te, Re­dens­ar­ten, stän­di­ger Ge­bär­den, die Fal­ten um ihre Au­gen beim La­chen, der tie­fe er­stick­te Seuf­zer, mit dem sie sich nie­der­setz­te, das al­les kam ihr in Erin­ne­rung.

      Und so stand sie da im An­schau­en ver­sun­ken im­mer wie­der die Wor­te »Sie ist tot« wie halb von Sin­nen vor sich her­mur­melnd. Erst all­mähl­lich ver­stand sie den gan­zen Um­fang der­sel­ben.

      Die­ser Kör­per, der da ruh­te – Mama – ihr Müt­ter­chen – Ma­da­me Ade­lai­de, war also tot. Sie wür­de sich nie mehr re­gen, nie mehr spre­chen, nie mehr la­chen, nie­mals mehr Papa ge­gen­über bei Ti­sche sit­zen. Sie wür­de nie mehr »Gu­ten Mor­gen Jean­net­te« sa­gen. Sie war eben tot!

      Man wür­de sie in einen Sarg le­gen und sie be­gra­ben, und dann war al­les zu Ende. Man wür­de sie nicht mehr se­hen. War das mög­lich? Hat­te sie denn wirk­lich kein Müt­ter­chen mehr? Die­ses teu­re, trau­te Ant­litz, in das sie ge­schaut von dem Au­gen­blick an, wo sie die Au­gen ge­öff­net hat­te, das sie ge­liebt von der Mi­nu­te an, wo sie die Ärm­chen aus­brei­ten konn­te; die­ser Ge­gen­stand ih­rer gan­zen Zärt­lich­keit, die­ses ein­zi­ge We­sen, die Mut­ter, dem Her­zen teu­rer als alle and­ren We­sen, exis­tier­te nicht mehr. Sie konn­te es nur noch ei­ni­ge Stun­den be­trach­ten die­ses re­gungs­lo­se star­re Ant­litz. Und dann nichts, nichts mehr! nur noch eine Erin­ne­rung.

      Sie warf in ei­nem furcht­ba­ren An­fall von Verzweif­lung sich auf die Knie und krall­te die Hän­de krampf­haft in die Fal­ten des Lei­nen­tu­ches. »Ach Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter, mei­ne Mut­ter!« rief sie mit herz­zer­reis­sen­der Stim­me, hal­b­er­stickt in den De­cken und Kis­sen, wäh­rend sie den Mund auf das Bett­zeug press­te.

      Als sie sich dann wie­der ganz von Sin­nen fühl­te, so von Sin­nen wie da­mals in je­ner Nacht ih­rer Flucht durch den Schnee, sprang sie auf und rann­te ans Fens­ter, um sich zu er­fri­schen und die Luft ein­zuat­men, von der die Tote da auf ih­rem letz­ten Ru­he­la­ger nichts mehr spür­te.

      Der ab­ge­mäh­te Ra­sen, die Bäu­me, die Hei­de, das Meer da drü­ben la­gen in fried­li­chem Schwei­gen, ent­schlum­mert un­ter dem mil­den Lich­te des Mon­des. Auch in Jo­han­nas Herz drang et­was von die­ser be­ru­hi­gen­den Mil­de und sie be­gann lang­sam zu wei­nen.

      Dann kehr­te sie wie­der an das Bett zu­rück und setz­te sich nie­der, die eine Hand in die ih­ri­ge neh­mend, als wach­te sie bei ei­ner Kran­ken.

      Ein großer Nacht­schmet­ter­ling, war an­ge­zo­gen von dem Licht­schim­mer, her­ein­ge­flo­gen. Er schlug an die Wän­de wie ein Ball, und flog von ei­nem Ende des Zim­mers zum an­de­ren. Jo­han­na, von sei­nem schnur­ren­den Flu­ge auf­merk­sam ge­wor­den, hob die Au­gen um nach ihm aus­zu­schau­en. Aber sie be­merk­te nichts, als sei­nen Schat­ten, der an der wei­ßen Zim­mer­de­cke um­her­irr­te.

      Dann hör­te sie nichts mehr. Doch nun ver­nahm sie das »Tik-Tak« der Stutz­uhr und ein an­de­res leich­tes Geräusch, oder viel­mehr ein fast


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