Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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Wo fand sich denn noch ein freund­li­ches Ru­he­plätz­chen? Im an­de­ren Le­ben je­den­falls. Wenn die See­le vom Er­den­staub be­freit war. Die See­le! Sie be­gann über die­ses un­er­forsch­li­che Ge­heim­niss nach­zu­grü­beln in dem sie sich plötz­lich je­nen poe­sie­vol­len Träu­me­rei­en hin­gab, wo eine Vor­stel­lung der an­de­ren folgt, ohne ein Bild zu schaf­fen. Wo weil­te wohl jetzt die See­le ih­rer Mut­ter? Die See­le, die zu die­sem re­gungs­lo­sen eis­kal­ten Kör­per ge­hört hat­te? Wohl weit von hier. Ir­gend­wo im un­er­mess­li­chen Him­mels­rau­me. Aber wo? Ver­flüch­tet wie der Duft ei­ner ab­ge­stor­be­nen Blu­me? Oder plan­los um­her­schwei­fend wie ein un­sicht­ba­rer Vo­gel, der dem Kä­fig ent­schlüpft ist?

      War sie zu Gott zu­rück­ge­kehrt? Oder be­lie­big un­ter neu­en Schöp­fun­gen ver­streut, mit Kei­men ver­mischt, die zur Frucht her­an­reif­ten?

      Ganz in ih­rer Nähe viel­leicht? Weil­te sie etwa noch in die­sem Zim­mer, um­kreis­te sie den star­ren Kör­per, den sie ver­las­sen? Jo­han­na glaub­te einen Hauch zu ver­spü­ren, wie die Berüh­rung ei­nes Geis­tes. Sie hat­te Furcht, ge­wal­ti­ge Furcht, so hef­tig, dass sie sich kaum zu re­gen wag­te; ihr Atem stock­te, sie ver­moch­te nicht sich um­zu­wen­den, um hin­ter sich zu schau­en. Ihr Herz poch­te laut vor Ent­set­zen.

      Plötz­lich nahm der Schmet­ter­ling sei­nen un­sicht­ba­ren Flug wie­der auf und be­gann rings an die Wän­de zu klat­schen. Ein Schau­er durch­rie­sel­te sie von oben bis un­ten; aber dann er­kann­te sie das Brum­men des ge­flü­gel­ten We­sens wie­der und be­ru­hig­te sich. Sie er­hob sich und wand­te sich um. Ihr Blick fiel auf den Schreib­tisch mit den Sphinx-Köp­fen, den Auf­be­wah­rungs­ort der »Re­li­qui­en.«

      Eine son­der­ba­re zart­füh­len­de Idee durch­zuck­te ihr Hirn. Sie woll­te le­sen, le­sen in die­sen der To­ten so teu­ren Brie­fen, heu­te in der Stun­de der letz­ten Nacht­wa­che, wie sie ein from­mes Buch ge­le­sen ha­ben wür­de. Es kam ihr vor, als er­fül­le sie eine süs­se hei­li­ge Pf­licht, einen Akt kind­li­cher Pie­tät, der der To­ten drü­ben in der and­ren Welt Freu­de be­rei­ten wür­de.

      Es wa­ren die al­ten Brie­fe ih­rer Gro­ß­el­tern, die sie nicht ge­kannt hat­te. Sie woll­te ih­nen über dem Kör­per der Toch­ter die Hand rei­chen, sich mit ih­nen in die­ser düstren Nacht ver­ei­nen, als hät­ten sie Teil an die­sem Leid; sie woll­te eine Art ge­heim­nis­vol­le Zärt­lich­keits­ket­te bil­den zwi­schen den To­ten von da­mals, der stil­len Lei­che dort und ihr selbst, die noch auf Er­den ver­blie­ben war.

      Sie öff­ne­te die Schreib­tisch­plat­te und ent­nahm der un­te­ren Schieb­la­de ein Dut­zend der klei­nen gelb­li­chen Pa­pier­bün­del, wel­che in mus­ter­haf­ter Ord­nung ne­ben­ein­an­der la­gen.

      Mit ei­ner Art wohl­be­dach­ter Sen­ti­men­ta­li­tät brei­te­te sie die­sel­ben auf dem Bett zwi­schen den Ar­men der To­ten aus und schick­te sich an zu le­sen.

      Es wa­ren jene ehr­wür­di­gen Brief­schaf­ten, wie man sie in al­ten Fa­mi­li­en­schreib­ti­schen fin­det; jene Brief­schaf­ten, die die Luft ei­nes and­ren Jahr­hun­derts at­men.

      »Mei­ne Teu­re!« be­gann der ers­te Brief; auf ei­nem zwei­ten stand »Mein lie­bes Töch­ter­chen!« dann kam: »Mein Herz­chen!« – »Mein an­ge­be­te­tes Töch­ter­chen!« – Lie­bes Kind!« – »Lie­be Ade­laï­de« – »Lie­be Toch­ter«, je nach­dem sie sich an das Kind, an die Toch­ter und spä­ter an die jun­ge Frau rich­te­ten.

      Und das al­les at­me­te so viel lei­den­schaft­li­che Zärt­lich­keit, so viel Lie­be zum Kin­de; es er­zähl­te so viel große und klei­ne Ge­heim­nis­se, und da­zwi­schen wie­der al­ler­hand Din­ge, die dem Fer­ner­ste­hen­den gleich­gül­tig wa­ren: »Papa hat die Grip­pe; die Zofe Hor­ten­se hat sich den Fin­ger ver­brannt; die Kat­ze ›Cro­que­r­at‹ ist tot; die Tan­ne rechts vom Tore ist ge­fällt wor­den; Mut­ter hat ihr Ge­bet­buch auf dem Rück­weg von der Kir­che ver­lo­ren, sie glaubt dass es ge­stoh­len ist.«

      Auch von Leu­ten war dar­in die Rede, die Jo­han­na zwar per­sön­lich nicht ge­kannt hat­te, de­ren Na­men sie sich aber noch dun­kel aus ih­rer ers­ten Ju­gend­zeit er­in­ner­te.

      Mit wah­rer Zärt­lich­keit ver­tief­te sie sich in die­se Ein­zel­hei­ten, wel­che ihr wie eine Art To­te­ner­we­ckung vor­ka­men. Es war ihr, als tre­te sie plötz­lich in die Ver­gan­gen­heit ein, als sehe sie alle Ge­heim­nis­se, das ei­gent­li­che Her­zens­le­ben ih­rer Mut­ter vor sich. Sie be­trach­te­te wie­der den Leich­nam, und plötz­lich be­gann sie ganz laut zu le­sen; sie las für die Tote, als wol­le sie ihr Zer­streu­ung und Tracht brin­gen.

      Es kam ihr vor, als ob der Ge­sichts­aus­druck der Ver­stor­be­nen ein glück­li­cher wäre.

      Ei­nen nach dem and­ren leg­te sie die Brie­fe zu Füs­sen des Bet­tes; sie mein­te, man müs­se sie statt der Blu­men ihr in den Sarg mit­ge­ben.

      Sie öff­ne­te ein neu­es Packet. Es war eine an­de­re Schrift. »Ich kann Dei­ne Zärt­lich­keit nicht ent­beh­ren. Ich lie­be Dich zum Ra­send­wer­den« las sie halb­laut.

      Wei­ter nichts; kei­ne Un­ter­schrift.

      Ver­ständ­nis­los dreh­te sie das Pa­pier um. »Ma­da­me la ba­ron­ne Le Per­thuis des Vauds« lau­te­te deut­lich die Adres­se.

      Dann öff­ne­te sie das fol­gen­de Bil­let: »Kom­m’ heu­te Abend, so­bald er fort ist. Wir wer­den eine Stun­de für uns ha­ben. Ich bete Dich an.«

      »Ich habe eine Nacht in ra­sen­dem Ver­lan­gen nach Dir durch­träumt. Ich hielt Dich in mei­nen Ar­men, Dei­nen Mund un­ter mei­nen Lip­pen, Dei­ne Au­gen un­ter mei­nen Au­gen. Und dann hät­te ich mich vor Wut aus dem Fens­ter stür­zen kön­nen, wenn ich dar­an dach­te, dass Du zu die­ser Zeit ne­ben ihm ruh­test, ihm ganz zu ei­gen wärst …«

      Jo­han­na hielt ver­ständ­nis­los inne. Was war das? An wen, für wen, von wem wa­ren die­se Lie­bes­be­teue­run­gen?

      Wie­der fort­fah­rend fand sie stets wie­der die­se wahn­wit­zi­gen Lie­bes­schwü­re, die­se Stell­dich­eins mit Mah­nun­gen zur Vor­sicht, und stets zum Schluss die fünf Wor­te: »Ver­bren­ne vor al­lem die­se Zei­len!«

      End­lich öff­ne­te sie ein nichts­sa­gen­des Bil­let, eine ein­fa­che Zu­sa­ge zu ei­nem Di­ner, aber mit der­sel­ben Hand­schrift und »Paul d’En­ne­ma­re« un­ter­zeich­net. Es war der­sel­be, den der Baron im­mer »mein gu­ter al­ter Paul« nann­te, wenn er von ihm sprach, und des­sen Gat­tin die in­tims­te Freun­din der Baro­nin ge­we­sen war.

      Jo­han­na’s Zwei­fel wur­den jetzt plötz­lich zur vol­len Ge­wiss­heit. Ihre Mut­ter hat­te einen Lieb­ha­ber ge­habt?

      Und mit ei­nem hef­ti­gen Ruck schleu­der­te sie die­se schänd­li­chen Pa­pie­re von sich wie ein gif­ti­ges Rep­til, das sich an ihr em­por­ge­wun­den hat­te. Sie lief an’s Fens­ter und wein­te bit­ter­lich, wo­bei ein hef­ti­ges Schluch­zen ihr die Keh­le zu­schnür­te. Dann brach sie ganz ver­nich­tet am Fuss der Fens­ter­brüs­tung nie­der und ver­barg ihr Ge­sicht in den Vor­hän­gen, da­mit man ihre Seuf­zer nicht hör­te. So wein­te sie in tiefs­ter Verzweif­lung bit­ter­lich vor sich hin.

      Sie wür­de viel­leicht die gan­ze Nacht so zu­ge­bracht ha­ben, wenn nicht das Geräusch von Schrit­ten im Zim­mer ne­ben­an sie mit ei­nem Sat­ze


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