Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн книгу.mit herunterhängenden Beinen, oder in der Mitte: nach türkischer Art; so saßen die Reporter oftmals auf diesem Tische zu fünft oder zu sechst und spielten hartnäckig Fangball. Duroy hatte an diesem Spiel gleichfalls Geschmack gefunden und begann, dank der Anleitung von Saint-Potin, ziemlich gut zu spielen.
Forestier, der immer leidender wurde, hatte ihm sein zuletzt gekauftes Bilboquet aus Antillenholz anvertraut, das ihm selbst ein bisschen zu schwer war, und Duroy schwang mit kräftiger Hand die große schwarze Kugel am Ende der Schnur, wobei er leise zählte: »Eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs —«
Er hatte zum ersten Male zwanzig Treffer hintereinander an dem Tage, wo er bei Madame Walter speisen sollte. »Heute ist ein guter Tag,« dachte er, »ich habe Erfolg«; denn die Gewandtheit im Fangballspiel verlieh in der Redaktion der Vie Francaise eine Art Vorrang.
Er verließ zeitig die Redaktion, um sich in Ruhe umkleiden zu können. Während er die Rue de Londres entlangschritt, sah er vor sich plötzlich eine kleine Dame, die ihrer ganzen Haltung nach Madame de Marelle sein musste. Er fühlte, wie es ihm heiß zu Kopf stieg und sein Herz begann laut zu klopfen. Er ging über den Fahrdamm, um sie im Profil sehen zu können. Sie blieb stehen, um gleichfalls hinüberzugehen. Er hatte sich getäuscht; er atmete auf.
Schon oft hatte er sich die Frage vorgelegt, wie er sich benehmen sollte, wenn er ihr begegnete? Sollte er sie grüßen oder sollte er so tun, als sehe er sie nicht?
»Ich werde sie nicht sehen«, dachte er.
Es war kalt; in den Rinnsteinen war das Wasser gefroren. Die Trottoire lagen grau und trocken im Laternenlicht.
Als der junge Mann nach Hause kam, sagte er sich: »Ich muss eine neue Wohnung haben. Mit der geht es nicht mehr.« Er fühlte sich nervös und lustig. Er wäre imstande gewesen, über die Dächer zu klettern, und er wiederholte immer laut vor sich hin, indem er von seinem Bett zum Fenster ging: »Das Glück kommt! Das Glück kommt! Ich muss an Papa schreiben.«
Von Zeit zu Zeit hatte er nach Hause geschrieben, und diese Briefe brachten immer Freude in das kleine normannische Wirtshaus, das dicht an der Straße lag, hoch oben auf dem Hügel, von dem man Rouen und das weite Tal der Seine übersehen konnte.
Von Zeit zu Zeit erhielt er auch ein blaues Briefchen, dessen Adresse mit zitternder Hand geschrieben war, und er las immer die gleichen Zeilen am Anfange des väterlichen Briefes:
»Mein lieber Sohn! Aus diesem Briefe sollst Du erfahren, dass es Deiner Mutter und mir gut geht. Es gibt nicht viel Neues bei uns. Trotzdem möchte ich Dir mitteilen … usw.«
Und im Innern seines Herzens bewahrte er Interesse für die Ereignisse, welche in seinem Dorf vorkamen, für die Nachbarschaft, für den Stand der Äcker und Ernten! Und er wiederholte, während er seine weiße Krawatte knotete:
»Ich muss morgen an Papa schreiben. Wie hätte sich der Alte gefreut, wenn er mich heute Abend sähe!«
Und plötzlich stand vor seinen Augen die kleine, verräucherte Küche seines Elternhauses hinter der leeren Gaststube; die Kessel, die ihren gelben Schimmer an den Wänden entlang warfen, die Katze vor dem Herd, die dampfende Suppenterrine mitten auf dem alten, hölzernen Tisch, und ein Licht, das zwischen zwei Tellern brannte.
Er sah auch den Mann und die Frau, seinen Vater und seine Mutter; die beiden alten Bauern mit langsamen Bewegungen, wie sie ihre Suppe löffelten. Er kannte die kleinsten Runzeln ihrer alten Gesichter, jede Bewegung von ihren Körpern. Er wusste sogar, was sie sich sagten, jeden Abend, wenn sie einander gegenüber saßen. »Ich muss sie doch mal wieder besuchen!« dachte er.
Als er mit seiner Toilette fertig war, blies er das Licht aus und ging hinunter. Auf dem Boulevard versuchten ein paar Dirnen ihn anzureden. Und als hätten sie ihn beleidigt und verkannt, rief er ihnen mit verächtlicher Stimme zu:
»Lasst mich doch endlich in Ruhe!« Für wen hielten sie ihn? Konnten sie denn die Männer nicht unterscheiden? In seinem Frack, den er angezogen hatte, um bei sehr reichen, sehr bekannten und sehr einflussvollen Leuten zu speisen, fühlte er sich als eine neue Persönlichkeit, als wäre er ein Mann der wirklich großen Gesellschaft geworden.
Mit ruhiger Sicherheit betrat er das Vorzimmer, das von hohen Bronzekandelabern erleuchtet war, und gab mit natürlicher Handbewegung Stock und Überzieher den beiden Dienern, die ihm entgegenkamen.
Alle Räume waren hell erleuchtet. Frau Walter empfing ihre Gäste in dem zweiten und größten Zimmer. Sie begrüßte ihn mit einem bezaubernden Lächeln, und er schüttelte den beiden Herren, die vor ihm gekommen waren, die Hand. Es waren die Abgeordneten Firmin und Laroche-Mathieu, die heimlichen Mitredakteure der Vie Française. Herr Laroche-Mathieu galt bei der Zeitung als besondere Autorität, da sein Einfluss, in der Kammer sehr bedeutend war. Man war auch allgemein überzeugt, dass er eines Tages Minister würde.
Dann kam das Ehepaar Forestier. Sie trug ein rosa Kleid, das ihr glänzend stand. Duroy sah mit Erstaunen, wie intim sie mit den beiden Abgeordneten war. Sie plauderte über fünf Minuten in der Ecke am Kamin ganz leise mit Laroche-Mathieu. Charles sah sehr verändert und mitgenommen aus. Er war seit einem Monat beträchtlich abgemagert und hustete unaufhörlich, wobei er immerfort sagte: »Ich müsste mich endlich entschließen, den Rest des Winters im Süden zu verbringen.«
Norbert de Varenne und Jaques Rival kamen zusammen. Dann öffnete sich eine Tür im Hintergrunde des Saales und Herr Walter erschien mit zwei jungen Mädchen von sechzehn und achtzehn Jahren, die eine hübsch, die andere hässlich.
Duroy wusste zwar, dass sein Chef Familienvater war; trotzdem war er sehr erstaunt. An die Töchter seines Vorgesetzten hatte er nur wie an weit entlegene Länder gedacht, die man niemals zu Gesicht bekommt. Außerdem hatte er sie sich als kleine Mädchen vorgestellt und sah sie nun fast erwachsen vor sich. Bei diesem Anblick wurde er innerlich etwas verlegen, eine Verlegenheit, die man beim Umlernen empfindet.
Sie wurden ihm vorgestellt, reichten ihm die Hand und setzten sich dann an einen kleinen Tisch, der wohl besonders für sie bestimmt war; dort begannen sie in einem Haufen von Seidenknäueln zu wühlen, die in einem Flechtkörbchen lagen.
Man erwartete noch jemand, und die Gäste standen schweigend in kleinen Gruppen herum, in jener ungemütlichen Stimmung, die vor dem Essen zu herrschen pflegt, wenn sich dazu Leute aus allen möglichen geistigen Sphären zusammenfinden, nachdem sie am Tage den verschiedensten Beschäftigungen nachgegangen sind.
Duroy