Die Liebe, die uns rettet. Walther von Hollander

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Die Liebe, die uns rettet - Walther von Hollander


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wohl.“

      „Ich gehe also heute morgen um das Häuserviereck“, spricht Rauthammer weiter, „suche meine kleinen russischen Zigaretten, greuliche Dinger, aber man ist sie gewöhnt. Die guten deutschen Zigaretten schmecken mir nicht mehr. Gehe also und finde es wunderbar hier. Herrlich. Berlin im Sommer. Verstehe nicht, warum die Menschen gerade im Sommer wegreisen. Das bisschen Schmelzhitze ist doch nicht schlimm.“

      „Ich verreise auch“, unterbricht Barbara rasch, „morgen abend ...“

      „Sagte ich es nicht“, nickt Rauthammer, „Glück gehabt. War allerhöchste Zeit, dass ich Sie aus dem Asphaltteich fischte. Man muss sich immer und in allem beeilen. Selbst im Glückhaben. Denn die Zeit ist hinter einem her. Sie wissen es noch nicht. Aber sie ist verdammt hinter allen Menschen her und schmeisst einen von der Welt hinunter, ehe man fertig ist.“

      „Jetzt im Augenblick ist die Zeit auch hinter mir her“, lächelt Barbara, „ich muss mich beeilen. Habe noch allerlei zu besorgen. Ich ...“ Eigentlich will sie ihm sagen, dass sie heiratet. Aber dann denkt sie: es geht ihn gar nichts an. Gar nichts geht es ihn an. Er hat auch nie von seinen persönlichen Angelegenheiten erzählt. Erinnere dich!

      „Morgen oder übermorgen werde ich Ihren Herrn Vater aufsuchen“, erzählt Rauthammer, „er muss mir ein kleines Lebensattest ausstellen. Einen Garantieschein auf fünf oder sechs Jahre. Brauche das ...“

      Er ist vor einem Café stehengeblieben, dessen Tische dicht neben der Strasse aufgebaut sind. „Eine Viertelstunde ... nach fünf Jahren ... alle fünf Jahre eine Viertelstunde ... soviel Zeit hat man immer. Kommen Sie.“

      Sehr merkwürdig.

      Plötzlich sitzt Barbara neben Rauthammer im Café, rührt in einer Schokolade, raucht eine von Rauthammers winzigen Zigaretten (sind übrigens ausgezeichnete, selbstgestopfte Zigaretten – alles Lüge die Zigarettenbesorgung, alles Lüge), sitzt und sieht auf die Strasse hinaus, hört den merkwürdigen Galoppsätzen Rauthammers zu, den springenden Sätzen. Muss manchmal lachen. Muss den Kopf schütteln. Nein – das weiss sie jetzt – die Welt ist nicht so, wie er sie malt, obwohl sie vielleicht so sein könnte. Dabei studiert sie vorsichtig sein Gesicht. Er ist nicht jünger geworden. Natürlich nicht. Von den Haaren, die damals noch gescheitelt werden konnten, ist nur ein grauer Haarkranz rings um den Schädel übriggeblieben. Unter den Augen sind die Jahrzehntsringe gezogen, fünf Ringe, fünf Jahrzehnte. Der Mund ist noch schmaler geworden. Noch zusammengekniffener sind die Lippen.

      Rauthammer erzählt. Er ist lange in China gewesen. Er hat die Kämpfe der letzten Jahre um Mandschukuo miterlebt. Als Zuschauer, als Mitkämpfer oder als Kaufmann? Er sagt nichts darüber. Er berichtet von Russen, von Japanern, von Chinesen, von Abenteurern aller Länder, die ihre Geschäfte da unten machen, blutige Geschäfte, trübe Geschäfte, glänzende Geschäfte. Von alten Kulturen, die langsam zerbröckeln, und neuen Kulturen, die zu wachsen anfangen. Dass die Europäer Schritt für Schritt Boden verlieren, ganz allmählich, wenn man es ein paar Jahre beobachtet, und rasend rasch, wenn man es mit chinesischen Augen ansieht, die mit der Zeitlupe der Jahrhunderte zu betrachten verstehen. Sehr interessant ist das alles. Sehr aufregend. Aber ein bisschen unmenschlich, nein fernmenschlich. So, als ob nur Kräfte da unten miteinander ringen und keine Menschen. So, als ob um etwas Aussermenschliches gekämpft würde und nicht – zunächst mal – um Platz, um Nahrung, um Kleidung, um Wohnung für unzählige Millionen.

      Ausserdem hat sie im Augenblick sehr persönliche Sorgen, Gedanken, Interessen. Sie ist wohl politisch aufmerksam geworden, seitdem Alfred Meimberg ihr klargemacht hat, dass im Politischen heute viele andere Dinge des Menschenlebens mitentschieden werden müssen. Aber am Tage vor der Hochzeit, nicht wahr ...

      Rauthammer bricht sein Referat plötzlich ab. Er wird in einem halben Jahr wieder nach Sibirien oder Mandschukuo gehen. Aber jetzt hat er ein paar Monate Urlaub. Jetzt will er ein bisschen als Europäer leben, als zuschauender Europäer, als Deutscher, aber als zuschauender Deutscher.

      „Wohin reisen Sie“, fragt er, „oder ist es ein Geheimnis? Ich möchte es wirklich gern wissen.“

      „Es ist kein Geheimnis“, antwortet Barbara, „aber ich weiss es nicht. Irgendwohin mit einem Auto.“

      Ob sie selbst fährt, will Rauthammer wissen. Sie kann wohl selbst fahren. Aber sie fährt nicht selbst? Nein, nicht immer.

      „So“, sagt Rauthammer, „so ist das.“

      „Ja“, antwortet Barbara, „so ist das.“

      Sie findet, nun ist endgültig alles gesagt. Sie will aufstehen. Aber Rauthammer hat seine Hand auf ihren Arm gelegt, eine kleine, sehr schmale und starke Hand.

      „Bitte bleiben Sie noch ein bisschen“, flüstert er. „Ich wollte Sie noch etwas fragen.“

      Schweigen. „Fragen Sie“, sagt Barbara nach einer Weile, „ich muss nämlich dann wirklich gehen.“

      „Ich wollte gern wissen“, sagt Rauthammer, und seine Stimme ist wie damals auch manchmal plötzlich klar, „ich wollte nämlich wissen, ob sie mich damals geliebt haben.“

      Barbara nickt. „Ja“, sagt sie einfach, „ich habe Sie damals wirklich geliebt.“

      „Schade“, sagt Rauthammer. „Ich habe es wohl geahnt, aber ich habe es doch nicht genau gewusst. Sehr schade.“

      „Vielleicht ist es schade gewesen, vielleicht auch nicht“, antwortet Barbara, „das ist ja nun alles einerlei.“

      Sie steht schnell auf. Auch Rauthammer hat sich erhoben.

      „Es ist ganz und gar nicht einerlei“, sagt er scharf, „ganz und gar nicht. Denn wenn etwas jemals war, so ist es immer ... das ist doch klar.“

      Barbara erschrickt. Das hat sie vor ein paar Monaten ihrer Freundin Sophie Wahnke gesagt. Und Sophie Wahnke hat gelacht. Sie kann sich das nicht denken. Aber es ist wirklich wahr: wenn man jemals geliebt hat, liebt man immer. Es gibt ewige Liebe oder eine, die nichts wert ist. Ganz klar.

      Sie steht vor Rauthammer, nur durch einen Kaffeehausstuhl getrennt. Sie sieht auf seine Krawatte, eine hellblaue Krawatte mit weissen Punkten. Sie hebt ihre Augen und blickt in seine Augen, die braunen ruhigen Augen in dem unruhigen Gesicht. Sie erinnert sich ganz genau an die Stunden vor fünf Jahren am Bett Rauthammers. Wie er ihr den Sinn des Lebens erklärt hat oder doch seinen Lebenssinn: Aktivität, Rhythmus, Willen. Das seien die drei Grundphänomene, aus denen sich Aufstieg und Abstieg, Leben und Tod ergäben. Der Sieg des Willens über die Materie, das sei die ewige Aufgabe jedes Menschen. Begriffen nur von wenigen. Durchgeführt nur von einzelnen. Diese einzelnen müssten sich zusammentun, müssten sich stärken. Ja, sie gehörten zusammen nach dem Lebensgesetz, einerlei, was die Gesetze der einzelnen Leben und die Zufälligkeiten der einzelnen Schicksale über sie beschlössen. Man sieht, eine recht allgemeine Theorie, gut angespitzt für den Gebrauch in dieser Liebesangelegenheit. Damals aber hat Barbara das alles geglaubt. Auch nachher noch, als Rauthammer schon abgereist war. Bis eines Tages – vor ihrer Abreise nach China – Frau Rauthammer zu ihr kam, eine hochmütige, kalte Frau, um „gewisse Illusionen“ zu zerstören, um „bestimmte, rein äussere Tatbestände“ festzustellen (dass sie nämlich Herrn Rauthammer niemals freigeben würde, niemals), um „das Fräulein Schreiner vor den Nebelreichen der Rauthammerschen Gedankenwelt zu warnen“, denen eine „recht brutale Tatwelt“ gegenüberstünde.

      An wieviel kann man in zehn Sekunden sich erinnern! Wieviel kann man zweimal, dreimal in einer Sekunde wieder spüren.

      „Also jetzt gehe ich wirklich“, sagt Barbara endlich, „leben Sie wohl.“

      Rauthammer nickt. Er kann sie nicht länger halten. Er begleitet sie nur noch bis zum Ausgang aus dem Café. Er geht neben ihr, lächelnd und freundlich wie immer. „Übrigens“, sagt er am Ausgang, als hätte er doch die Macht, Gedanken zu lesen, „übrigens starb meine Frau vor vier Jahren in Hsinking. Bald nachdem sie aus Deutschland nachgekommen war. Ganz plötzlich ... Denken Sie ...“

      Er hält Barbaras Hand, als könnte er sie mit dieser Nachricht festhalten.

      „Das


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