Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

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Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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eine Scheu, mit ihrem Gast über seinen Aufenthalt im Hafen zu reden.

      Aber Roloff sagte ganz ruhig: „Ich habe nicht mehr gesehen als jeder andere auch, der sehen will. Eine grosse Menge aus der menschlichen Gesellschaft ausgestossener Bettler.“

      „Und denen soll man, meinen Sie, weil sie Ausgestossene sind, alles verzeihen?“

      „Man soll hier oben nichts verzeihen, gnädige Frau! Eher umgekehrt: die da unten denen hier!“

      Lisa beugte sich etwas vor. „Und wenn man nicht richten soll, kann man diesen Ärmsten nicht wenigstens helfen — vielleicht durch Ihre Vermittlung?“

      „Man kann es versuchen. Ich habe es selbst schon versucht. Aber die allermeisten sinken wohl wieder zurück. Der Drang nach oben — der muss von innen kommen.“

      „Auch bei solchen Unglücklichen, die vom Leben schon so hart zugerichtet sind?“

      „Gerade bei diesen!“ sagte Roloff. „Man kann am Leben zu Grunde gehen, gnädige Frau . . . aber ich glaube, man kann auch daran genesen. Ich meine . . . das Leben . . . das ist vielleicht Gist und Gegengift zugleich. Aber mir scheint eben . . .“ er erhob sich . . . „man muss dabei den Mut haben, sein eigener Arzt zu sein . . .“

      Er stand — vielleicht absichtlich — so weit von ihr, i dass sie ihm nicht nach russischem Brauch die Hand reichen konnte. Er wollte ihr das wohl unauffällig ersparen. So sagte sie nur unwillkürlich wieder stockend: „Nun finden Sie wohl meinen Mann im Kontor!“

      Und er erwiderte: „Hoffentlich, gnädige Frau!“ Dann verbeugte er sich tief und ging.

      Seine Schritte verhalten. Lisa sass da, ohne sich zu rühren, und schaute vor sich hin. Roloffs letzte Worte klangen in ihr nach: „Man muss den Mut haben, sein eigener Arzt zu sein!‘ — Ja — wer den Mut hatte!

      Ein Mann vielleicht! Einer, dem es schlecht gegangen — dem lehrte es der Kampf ums Dasein, die Not. Aber die anderen, die anscheinend Glücklichen und Sorglosen, die das Schicksal nie von aussen rauh angepackt, — nein, denen es von innen allmählich, unmerklich, tückisch das Lebensblut aus den Adern gesogen — die waren zu schwach — die waren zu müde — die trauten sich selbst zu wenig, um sich zu befreien. Die mussten erlöst werden durch einen Willen, der stärker war als sie . . .

      Um sie herum zirpten die Grillen eintönig, rastlos im Grase, über dem die heisse Luft leise zitterte; unten murmelte das Meer, sein schwacher Hauch umfächelte ihre Stirne — sie schloss die Augen und begann zu träumen, ganz dem tiefen Mittagsfrieden hingegeben, der sie umfing. Eigentlich war es gar nichts Besonderes gewesen, was Roloff ihr gesagt hatte. Aber die Art, wie er es gesagt, das war das Eigene. Es war solch eine seltsame Ruhe in ihm. Die war nicht gemacht. Er merkte sie vielleicht selbst gar nicht. Sie ging von seinem Blick aus, seiner Haltung, seinem Schritt — nicht nur von seiner Sprache. Der schwere Ernst des Lebens spiegelte sich darin wieder. Er wusste, was das Leben war, besser als andere. Er kannte die grossen Kaufleute hier oben und die Bettler unten im Hafen, er kannte in seiner Landwohnung in Hadschi-Bey die Einsamkeit eines einsiedlerischen Mannes und kannte doch — ihr Gefühl sagte es ihr, so zurückhaltend er auch gewesen — von früher her die Gesellschaft der Frauen. Und was musste er früher erlebt haben, wovon er nicht sprach — vor seinem Sturz in die Tiefe und seiner Auferstehung?

      Nun kam doch allmählich in der glühenden Stille die Ermüdung der langen Eisenbahnfahrt über sie. Ihre Gedanken verwirrten sich und wanderten und lösten sich zu einem Halbschlummer, in dem sie doch undeutlich das Rauschen des Meeres, das Singen der Grillen, fernes Möwengeschrei und Hundegebell in ihren Traum hinein hörte . . .

      Ein seltsamer, beängstigender Traum, wie ihn die Hitze und die unbequeme Lage erzeugte. Sie war wieder klein, kaum vierzehn Jahre, und ging zu ihren Grosseltern, den längst toten, in das alte Haus an der Alexander-Perspektive. Aber das Haus war geschlossen — alle Läden zu. Es war Winter und wieder Judenverfolgung in Odessa. Die Schneeflocken und die Bettfedern stiebten durcheinander auf der Strasse, und unbekannte, furchtbar böse Männer trugen Beile in der Hand und stapften durch den Schnee auf sie zu. Sie wollte fliehen und war doch auf den Platz gebannt und rief Nicolai um Hilfe. Aber der blieb in der Ferne, da, wo er stand, und rührte sich nicht. Und die Männer kamen dicht heran, und einer lachte und sagte im Vorbeigehen: ‚Brüder . . . der tun wir nichts!‘ Und sie zogen weiter und drehten sich noch einmal um und zeigten ihre wirrbärtigen, von Kohlenstaub unkenntlichen Gesichter, in denen nur die weissen Augäpfel rollten und die weissen Zähne blitzten, und sie dachte sich aufatmend: Gott sei Dank, dass Roloff ihnen befohlen hat, mir nichts zu tun . . .

      Dann hatte sie, wieder halb zur Wirklichkeit zurückkehrend, das Gefühl, es müsse jemand neben ihr in der Laube sein . . . sie glaubte ein gedämpftes, zögerndes „Barinja“ zu hören und schlug die Lider auf. Vor ihr stand der Diener und meldete: „Der Wagen ist vorgefahren!“

      „Der Wagen?“ Sie war noch ganz verwirrt. „Ich habe ihn doch auf sechs Uhr bestellt.“

      „Es ist sechs Uhr Abends, Barinja!“

      Sie wollte es anfangs gar nicht glauben, dass sie den Nachmittag verschlafen und verträumt, aber ein Blick nach dem Strand hinunter zeigte ihr, dass die Sonne schon tief stand. Die Klippen warfen lange Schatten über den Sand und dazwischen wimmelte es jetzt überall in der Ferne von Badenden beiderlei Geschlechts und klang das Geschrei und Gelächter der Kinder.

      Während sie nach dem Hause ging, um sich zurechtzumachen, wollte ihr der Alpdruck des Traumes nicht aus dem Sinn. Sie war noch ganz benommen davon, als sie in die Stadt hineinfuhr, wo sie, der Verabredung gemäss, ihren Mann im Bureau abholen sollte, bis sie sich endlich damit beruhigte, dass das doch ganz einfach eine Rückspiegelung ihrer Erlebnisse am heutigen Tag gewesen. Das war sehr naheliegend. Sie sagte es sich selbst. Aber ein unbestimmtes, quälendes Empfinden blieb.

      Das Kontor der grossen Getreidefirma Sandbauer und Sohn lag im vornehmsten Stadtteil zur ebenen Erde. In dem Korridor, den Lisa flüchtig durchschritt, sassen in langer Reihe die jüdischen Makler, Papierdüten mit Weizen- und Maisproben in der Hand — im Bureau daneben beugte sich ein Dutzend Köpfe über Rechnungen und Briefe, die Korrespondentinnen — je eine junge Russin, Deutsch-Jüdin, Griechin und Engländerin — klapperten auf der Schreibmaschine oder stenographierten nach dem halblauten, in sechs Sprachen wechselnden Diktat des Disponenten —, der Lagerist lief wichtig und eilig wie immer, ganze Pakete von Getreidemustern in den abstehenden Rocktaschen, mit einer tiefen Verbeugung an der Gattin des Chefs vorüber auf die Strasse, um zurück nach den Kornschuppen zu fahren, und in seinem, durch Drahtgitter von der Aussenwelt gesonderten Verschlag kauerte Sruhl Freidkind, der endlos lange, wie ein Bogen gekrümmte Buchhalter, auf dem Drehstuhl, zählte lautlos und blickte dazwischen zuweilen zur Decke hinauf, um dann wieder mit einem drohenden: „Nü — werd’s?“ seinen Lehrling Mowsche Mitzenmacher, einen „jungen Mann“, der der Übung halber mitrechnete, zur Eile zu mahnen.

      Nicolais Privatkontor hatte einen eigenen Eingang. Als Lisa klopfte, hörte sie schon drinnen seine weiche helle Stimme in eifriger Rede, dazwischen ganz kurz einmal Roloffs tiefen Bass. Die beiden Männer standen sich an einem Tisch gegenüber. Zwischen ihnen lagen aufgeschichtete Haufen von Wechseln und Schlussscheinen, Schiffskonnossementen und hektographierten Korrespondenzen. Sie waren vollkommen ruhig und geschäftsmässig. In diesen Räumen gab es nichts anderes.

      Bei Lisas Eintritt machte Roloff eine tiefe Verbeugung und zog sich noch ein paar Schritte nach dem Fenster zurück. Nicolai nickte ihr zu, mit einem Blick nach dem Sofa, wo sie schon oft, wenn sie ihren Mann abholte, gesessen und gewartet hatte, bis die auf Russisch, Polnisch, Griechisch, Jüdisch-Deutsch und Englisch geführten Unterhandlungen mit Aufkäufern, Maklern, Gutsbesitzern, Reedern, Seekapitänen und Zollbeamten, die Klagen über Dürre und Heuschreckenplage, das Hin und Her des Handels zu Ende waren und nur noch zahllose Zigarettenstummel und ein dichter Rauchschleier im Zimmer an die stunden- und halbe Tage langen Debatten all dieser aufgeregten Geschäftsleute erinnerten.

      Sie nahm Platz und fast zugleich rückte sich auch Nicolai einen Rohrstuhl heran und warf sich darauf. Roloff liess er vor sich stehen. Solcher Hochmut war sonst nicht seine Art. Das war Absicht. Sie kannte ihn und fühlte es. Er


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