Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

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Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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Sandbauer stand vor ihr, die vollerblühte junge Frau vor dem gealterten Mädchen — der Mensch, der das letzte Geheimnis des Lebens kannte, vor dem, der immer nur darauf gewartet und ihm endlich entsagt, und es war mehr Mitleid mit jener in ihrer Stimme, als Trauer um ihr eigenes Schicksal oder Reue über ihre Schwäche, während sie ruhig versetzte: „Du hast ja nie geliebt!“

      „Wenigstens nie mit ganzem Herzen. Und du hast nie verzweifelt. Und du hast nie in der Verzweiflung daran gedacht, deinem Leben ein Ende zu machen, und es nicht getan, weil ein anderes Leben da war, das ein Recht auf dich hatte. Und du hast nie ein Kind gehabt und du hast es nie wieder hergeben müssen . . . das alles hast du nicht erlitten und ich hab’s durchgemacht und bin doch kaum sechsundzwanzig Jahre. Wie kannst du mir da raten, Tonja! Ich bin älter als du, obwohl ich viel jünger bin. Ich bin viel unglücklicher als du, aber wenn ich noch einmal wählen sollte zwischen deinem Leben und meinem — ich würde doch wieder meines nehmen, so weh es tut. Besser, es schmerzt, als es ist gar nichts da . . .“

      Tonja erwiderte nichts. Sie war Weib genug, um zu verstehen, was Lisa sagte. Die reichte ihr die Hand und verliess das Zimmer, Tränen unterdrückend, aber den Kopf erhoben, als sei sie stolz auf ein Leid, in dem das Schicksal von tausend und abertausend anderen Frauen mitzuklingen schien.

      Unten hatten inzwischen ihr Vater und ihr Schwager an dem Orchestrion herumgebastelt. Eben traten sie gegen die Wand zurück, um die neu eingesetzte vox humana zu prüfen, und aus dem geschlossenen Kasten tönte plötzlich laut, mit jauchzend heller Stimme die Melodie des Hirtenknaben aus dem „Tannhäuser“.

      „ Holda kam aus dem Berg hervor,

      Zu ziehn durch Fluren und Auen,

      Gar süssen Klang vernahm da mein Ohr,

      Mein Auge begehrte, zu schauen . . .“

      „Karaschô,“ murmelte der Sibirier, beifällig das buschige Haupt wiegend. „Jetzt ist’s gut!“

      Sein Schwiegervater aber nahm Lisa am Arm und erhob mühsam, um das Instrument zu übertäuben, seine zitterige Greisenstimme zu ihrem Ohr. „Lisa — habe ich es dir schon erzählt: ich habe mit Tonja draussen am Liman eine kleine Sommerwohnung. Mache mir die Freude und komme nächster Tage einmal zu uns heraus!“

      In seinen besseren Zeiten hatte der alte Kaufmann wie all die anderen sein Landhaus an der Kleinen Fontäne besessen, und an dieser Vorstellung, dass man den Sommer nicht in der Stadt bleiben könne, hielt er hartnäckig fest. Wenn es auch nur zwei Stübchen an dem fernen Salzsumpf in der Steppe waren, es war doch seine Villeggiatur, und eine Ablehnung seiner Einladung hätte ihn gekränkt.

      So sagte sie ihm rasch zu und trat auf die Strasse. Es drängte sie fort aus der grenzenlosen Verödung zwischen diesen verarmten, verbitterten, vom Schicksal halb zermalmten Menschen, die die Ihren waren, und ihr doch so fremd, aus dem quälenden Widerwillen gegen alles Menschenlos und Menschenleben, der in ihr beim Anblick dieser dumpfen Winkelwelt aufstieg und ihr im Kreis der Familie ihre eigene Einsamkeit nur noch trostloser zum Bewusstsein brachte.

      Vom Hof her verklang, während die Pferde anzogen, helltönend das Frühlingslied der vox humana:

      „ Der Mai!

      Der Mai war kommen . . .“

      und sie dachte, im Wagen zurückgelehnt, den Blick in den blauen Himmel über den Dächern verloren: „Wann kommt mein Mai . . .?“

      V

      Noch einmal kam Lisa auf der Rückfahrt in das Getümmel der Judenverfolgungen hinein. Ein Haufen Kerle, an der Spitze ein kleiner, zerlumpter und bebrillter Mensch, der eine rote Fahne trug, rannte lautlos auf blossen Sohlen über das heisse Pflaster und schleuderte dabei rechts und links Steine in die Fenster. An denen war niemand sichtbar. Die Strasse lag lautlos in der Mittagsglut. Man hörte nur das Klirren des zerspringenden Glases. Dann fern ein schriller Pfiff. Von einem berittenen Stadtsoldaten geführt, flitzte im Galopp ein Kosakentrupp heran, das Gesindel zerstob wie ein Spuk am lichten Tag, Abdul, der Tatar, gab, bleich vor Schrecken, mit aufmunternden Kehltönen den Orlofftrabern die Köpfe frei, und gleich darauf war um den Wagen wieder alles still, nichts als Staub, Sonne und die verwelkten Bäume des Wegs zur Kleinen Fontäne.

      Lisa hatte nicht einmal Angst empfunden. So leicht vergriff sich diese Horde an einer „Barinja“, einer Herrin, doch nicht. Und überhaupt . . . seit sie wieder in Odessa war, war ihr Wollen und Denken gelähmt. Sie war teilnahmlos gegenüber den Eindrücken der Aussenwelt. Träumerisch müde, mit halbgeschlossenen Augen sass sie da, bis die Equipage wieder vor der Villa Sandbauer hielt.

      Nun war sie endlich in ihrem Haus allein und stieg die halbdunklen Treppen hinauf, an ihren eigenen Räumen vorbei, zu dem seit zwei Jahren kahl und leer daliegenden Kinderzimmer. Dahin konnte sie nicht mit Nicolai gehen. Die Gegenwart ihres Mannes wäre ihr dabei wie eine Entheiligung erschienen. Das war für sie, wie für andere der Weg zur Kirche. Man will allein sein mit seinem Gott und mit seinem Schmerz. Dieser Schmerz war die Jahre hindurch unverändert stark und tief geblieben — er war mit ihr zu einem Teil ihres Selbst verwachsen, ohne das sie sich ihr Dasein gar nicht mehr denken konnte. Wenn sie jetzt in die Vergangenheit zurückblickte, dann war es ihr, als sei sie erst Mensch geworden, da sie Mutter wurde, und als habe sie das Leben erst begriffen, da der Tod an sie herantrat.

      In dem Zimmer lehnten noch die Puppen mit grossen erstaunten Augen in den Ecken, am Boden stand der dreiräderige Karren mit der kleinen Sandschaufel, das Bettchen war aufgeschlagen — nichts hatte sich geändert seit jenem Tag, da man den kleinen Sarg die Treppe hinabgetragen und die Gatten oben einer den anderen gehalten und sich unter stummen Tränen noch einmal zu einem langen Kuss gefunden hatten, in dem sie sich eins fühlten in ihrem Leid und ihrem Drang nach Trost. Aber das war nicht von Bestand gewesen. Nicolai lebte rasch. Ehe noch draussen auf dem Kirchhof am Rand der Steppe die Kränze über dem kleinen Grab vergilbten, war er schon wieder der alte, und sie musste sich einsam in ihr Schicksal finden: zwei Menschen liebte sie — ihr Kind und ihren Mann. Das eine hatte sie durch den Tod, den anderen durch das Leben verloren. Nun war nichts mehr da. Die Tage kamen und gingen, und sie wartete und wusste doch selbst nicht auf was.

      Sie weinte nicht. Dazu war schon zu lange Zeit verstrichen. Sie bemerkte manchmal zu ihrem eigenen quälenden Bangen, dass sie bereits Mühe hatte, sich die Gestalt des Kindes, sein blasses Gesichtchen so greifbar deutlich in der Erinnerung vorzustellen, wie es früher vor ihr gestanden. Mit trockenen Augen schloss sie langsam, vorsichtig, als gelte es, einen Schlafenden nicht zu erwecken, die Türe und schritt wieder hinab in die unteren Räume des Hauses. Dort war für zwei zum Frühstück gedeckt. Aber Nicolai befand sich ja in der Stadt und sie selbst setzte sich gar nicht erst zu Tisch. Die Einsamkeit, die Stille, das Halbdunkel in der ganzen Villa beklemmten sie. Sie vermochte diese schwüle dumpfe Luft, diesen aus allen Möbeln und Teppichen dringenden Kampfergeruch, durch den trotzdem massenhaft die Motten schwirrten, nicht zu ertragen.

      Im Garten, in den sie hinaustrat, glühte die Sonne freilich noch stärker. Aber vom Meer wehte doch ein leiser Hauch herüber. Man wusste die Weite um sich. Man konnte atmen. Ihr Lieblingsplätzchen, eine von Akaziengebüsch gebildete Laube am Abfall des Parks zur See, war zudem eben erst von dem aufmerksamen Gärtner mit Wasser besprengt. Da war es schattig und verhältnismässig kühl. Da liess es sich gut ruhen und den leisen Stimmen der Stille lauschen, die jetzt allein noch, wo sonst das grosse Mittagsschweigen die Welt beherrschte, um sie lebten — dem eintönig sich wiederholenden Plätschern der Wellen am Ufer unten, dem hundertstimmigen Zirpen der Zikaden im Gras, dem schwachen Flüstern der Seebrise in Baum und Strauch.

      Draussen auf dem Meer musste der Wind stärker sein. Da funkelten immer noch weisse Schaumkronen in dem stahldunklen, sonnenüberzitterten Blau, neigten sich zerschellend vornüber und leuchteten an anderer Stelle wieder auf. Ein mächtiges Dampfboot glitt durch sie hin dem Hafen zu. Mit dem Fernrohr, das in einem Lederfutteral in der Laube hing, hätte man seinen Namen lesen können. Nicolai und andere Grosskaufleute, die ganze Schiffsladungen verfrachteten, pflegten wohl des Abends oder am Sonntag von hier aus den Verkehr im Hafen, die Abfahrt- und Ankunftszeiten ihrer Lastdampfer zu überwachen. Aber sie rührte nicht die Hand, um das Instrument zu ergreifen. Es war


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