Gib mir die Hand. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.„Und habt ihr miteinander gesprochen?“
„Ja, natürlich haben wir über dies und jenes geredet!“
„Nein — ich meine: ob ihr euch ausgesprochen habt? Ihr habt euch doch so . . . so mancherlei zu sagen!“
„Nicolai und ich! . . .“ Weiter versetzte Lisa nichts. Es klang bitter genug.
„Viel zu verschweigen haben wir uns!“ fügte sie dann müde hinzu. „Und das tun wir ja auch! Wozu reden, wenn man doch sicher ist, mit keiner Silbe verstanden zu werden . . .“
Der Alte schnalzte ärgerlich und traurig mit der Zunge, stand auf, goss sich ein Glas Schnaps ein und stürzte es hinunter. Dann seufzte er tief und frug: „Also jetzt willst du hier bleiben, Lisa?“
„Ja. Wenn es geht . . .“
„Nun — es wird schon gehen!“ suchte er sie zu trösten. Sehr hoffnungsvoll klang seine Stimme dabei nicht: „Es kommt ja alles nur auf Nicolai an.“
„Er wird sich nicht ändern.“
„Aber er muss es einmal, mein Kind!“
„Er kann es gar nicht, Papa! Er ist, wie er ist!“
„Ja, ja, Nicolai!“ Das verschlissene kleine Männchen schüttelte das Haupt. „Es ist nicht recht von ihm: er und die Madame Yannopoulo sind beinahe unzertrennlich. Ich habe schon ein paarmal von meinem Standpunkt als Schwiegervater ihm ernstlich ins Gewissen geredet . . .“
Lisa lächelte nur bitter. Wie sollte man einem Manne Moral predigen, dessen regenbogenfarbene Hundertrubelscheine man am Tag vorher mit Dank in die Tasche gesteckt?
Ihr Vater schien zu ahnen, was sie dachte. „Es hat nichts geholfen!“ murmelte er mutlos. „Freilich . . . wie stehe ich vor ihm da? Das müsstest du eben selbst tun, Lisa, mit aller Entschiedenheit deine Rechte wahren . . .“
„Ich! Du kennst doch Nicolai! Du weisst doch, wie er die Achseln zuckt und einen über seine Papyros hinweg ironisch anschaut! Lieber alles, als noch einmal diesen Blick!“
„Ja — aber was soll dann werden, Lisa?“
„Gar nichts! Es wird eben so weitergehen, mein Leben lang, bald hier in Odessa, bald im Ausland. Admählich wird man alt und stumpf und denkt sich nichts dabei, und schliesslich stirbt man ja auch einmal . . .“
„Aber nein . . .“ Sie stand plötzlich auf, trat zum Fenster und schaute hinaus auf die ärmliche Gasse. „Es kann nicht so bleiben! Ich gehe daran zu Grunde! Ich fühle es deutlich!. . . Er weiss es auch . . . er sieht ruhig zu . . . so sicher ist er seiner Sache. Aber vielleicht täuscht er sich doch! Vielleicht finde ich doch einmal mehr Kraft, als ich glaube . . .“
Der kleine Ehrenbürger war ihr gefolgt und streichelte ihr betrübt mit der hilflosen zitterigen Zärtlichkeit eines selbst gebrochenen Menschen den Arm. „Nur eines versprich mir, Lisa! Eines tu nicht!“
„Und was ist das, Papa?“
„Geh nicht ganz fort von ihm!“
„Ich wollt’, ich könnt’ es!“ Kaum hörbar klang das zwischen ihren blassen Lippen.
Draussen auf der Strasse hielt ihre Equipage mit den Orlofftrabern und dem ausgepolsterten Tataren, der verächtlich von seinem Bock auf die herumstehenden armseligen Gaffer blickte. Ihr Vater wies darauf hin und nickte gramvoll mit dem kleinen grauen Kopf. „Schau — solch einen Wagen hatte deine selige Mutter auch . . . solch einen Kutscher, einen zweiten Kutscher . . . einen deutschen Diener . . . eine böhmische Köchin . . . sie hatte ein grosses Haus . . . jeden Sommer ging sie mit Kind und Regel ins Ausland . . . ich hab’ ihr das alles zahlen können . . . ich hab’ damals viel Geld verdient . . . da stand nicht ein Orchestrion, das nicht einmal mir gehört, im Magazin wie jetzt . . . nein . . . eine ganze Reihe . . . überallhin wurden sie verschickt . . . und in Orgeln war das Geschäft noch besser . . .“
Warum erzählte er ihr, auf einmal das alles? Das wusste sie ja doch. Immer und immer war, je mehr die Familie verarmte, in ihr die Rede von damals gewesen, als die Einfuhr von Orchestrions aus dem Schwarzwald nach Südrussland sich noch lohnte — als der Adel noch Geld hatte, bis die Bauernbefreiung seinen Wohlstand erschütterte, — als die Traktire aufkamen, die riesigen Volksteehäuser, in denen ein ebenso riesiges Spielwerk nie fehlen durfte, — als selbst Grossfürsten solch einen Zeitvertreib in ihren Wintergärten, zwischen Palmen versteckt, anbringen liessen. In jener Zeit hatte — Lisa entsann sich dessen aus ihrer Kindheit noch wohl — die ganze Woche über das Haus von der verworrenen vieltönigen Musik der im Erdgeschoss durcheinanderspielenden Instrumente gedröhnt. Sonntags, wenn plötzlich alles unheimlich still war, war sie wohl mit ihren beiden älteren Schwestern hinuntergeschlüpft, und die Kleinen staunten die ihnen haushoch vorkommenden, in Reih und Glied aufgestellten geheimnisvollen Schränke an, in deren jedem eine ganze Musikkapelle zu sitzen schien, und hielten den Vater, der damals noch eine blendendweisse Weste und Lackstiefel trug und zwischen den Kolossen doppelt winzig aussah, beinahe für einen Hexenmeister, weil er den Ungetümen mit einem Handgriff so schöne Töne entlocken konnte. Das alles stand ihr deutlich vor Augen — nur wie der Vater jetzt eben darauf kam, begriff sie nicht.
„Ja — mein Kind — ich war reich!“ sagte der alte Ehrenbürger trübe. „Und nun bin ich arm. Du kennst das nicht. Denn du hast mit neunzehn Jahren einen reichen Mann geheiratet. Dir erscheint das alles selbstverständlich. Was du irgend brauchst oder dir nur einbildest zu brauchen, das ist da. Du weisst nicht, wie weh das tut, wenn man an das Geld gewöhnt war und es auf einmal nicht mehr hat. Davor möchte ich dich schützen. Deswegen meine ich: gehe ja nicht ganz von Nicolai fort! Du bist nun einmal auf ihn angewiesen. Wenn er seine Hand von dir zieht — ich kann dir nichts geben und auch sonst niemand von den Deinen.“
„Gott bewahre mich, dass ich je deswegen bei ihm bliebe!“ sagte Lisa vor sich hin.
Ihr Vater hörte es nicht. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt und goss sich, um den Kummer, den er über seinen eigenen Rat empfand, zu bemeistern, ein neues „Wässerchen“ ins Glas. Das klirrte, als er es wieder hinstellte, und er murmelte dabei: „Ihr müsst euch versöhnen — glaube mir!“
„Ja, Papa!“ Alles, was sich in Lisas Herzen nach aussen gedrängt, nach Trost und Verständnis gesucht hatte, war durch seine Worte vorhin zurückgescheucht.
„Und höre, Lisa . . . wenn du jetzt mit Nicolai doch ruhig über alles sprichst . . . wir hatten neulich eine kleine Differenz . . . ein Geschäft von kaum hundert Rubeln . . . sieh doch, wie er jetzt darüber denkt . . .“
„Ja, Papa!“ Sie sagte es mechanisch, mit leeren Augen. Sie wusste schon, worin das Geschäft bestand: ihr Vater lieh sich das Geld und gab es nie wieder. Davon lebte er ja.
Ein Widerwille erfasste sie, eine Verzweiflung, dass sie am liebsten aufgesprungen und weggeeilt wäre. Aber gleich darauf dachte sie wieder: Was soll er denn sonst machen — der arme alte Mann? Er möchte leben. Alle möchten leben — auch die vom Schicksal Not und Elend erfahren haben. Gerade die — die können nicht begreifen, dass man so wenig Freude am Dasein haben kann wie ich . . .
„Man muss Geld haben!“ wiederholte ihr Vater, beharrlich. Das eisgraue dürftige Männchen kam von diesem Gedanken nicht los. Er beschäftigte ihn Tag und Nacht, seit er in das Unglück geraten. Sie sah den hoffnungslosen Kummer in seinen alten, trüben Augen, und nun empfand sie wieder ein tiefes und schmerzliches Mitleid mit ihm, dem, wie all den Kaufleuten, die sie kannte, das Geld allein den Wertmesser für alle Dinge abgab, das Geld die Gilde, zu der sie gehörten, und damit ihre Geltung nach aussen bestimmte, das Geld die Welt war. Aber sie antwortete nicht. Es war ja umsonst. Sie wurde doch nicht begriffen.
Durch das Schweigen hallte von aussen eine bärenartig tiefe Stimme, die Türe wurde ungestüm aufgerissen und ein vierschrötiger Mann mit langmähnigem blondem Haar und wirrem Vollbart trat ein. Die vorstehenden Backenknochen und breiten Nasenflügel verrieten die slawische Abstammung. Aber er sagte auf Deutsch guten Tag.
Das