Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

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Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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aber doch: immer noch Hoffnung auf Genesung.“

      „Natürlich — aber Hoffnung trügt — das glaubst du eben nicht! Was denken Sie heute von der Lage, Herr Roloff?“

      Der Angeredete steckte die Depesche wieder ein. „Immer das gleiche, Herr Sandbauer: Über kurz oder lang erhalten wir die Nachricht: Scholim ist verschieden.“

      „Das mein’ ich auch!“ Der Alte nickte trübe. Die Drei Männer schmiegen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Endlich entschloss sich Lisa, die, ohne ein Wort von der ganzen Sache zu verstehen, zugehört hatte, zu der Frage: „Wer ist denn nur dieser Herr Scholim, der euch so am Herzen liegt?“

      Roba Roloff, der ihr zunächst stand, lächelte. Dadurch veränderte sich sein gebräuntes Gesicht. Es sah viel gutmütiger und lebenslustiger aus. Sein wahrer Mensch schaute da heraus.

      „Unser armer Freund Scholim macht uns allerdings schwere Sorgen, gnädige Frau!“ sagte er. „Er steht schon die längste Zeit auf recht schwachen Beinen. Aber zum Glück existiert er eigentlich gar nicht.“

      „Er existiert nicht?“

      „Nein. Oder vielmehr, es gibt nur ein Wort Scholim im Jüdisch-Deutsch, das Frieden bedeutet — in unserem Fall der Handelsfrieden, der durch die drohende Getreidesperre gestört werden würde. Und da die Telegraphenzensur uns keine offenen Depeschen über den Stand der Dinge erlaubt, so telegraphiert uns unser Vertreter in Petersburg eben ein ärztliches Bulletin. Das ist das ganze Geheimnis.“

      „Ach so!“ Lisa ärgerte sich ein wenig, als Gattin und Tochter eines Kaufmanns so naiv gewesen zu sein, und ihr Mann sagte trocken: „Es war wohl kaum nötig, dass Herr Roloff dir das verriet. Jedenfalls brauchst du es aber nun nicht gleich weiter zu erzählen! Sonst verdirbst du mir damit das Geschäft.“

      Dominik Sandbauer hatte sich etwas in seinem Krankenstuhl aufgerichtet. „Das Geschäft! Also, du beabsichtigst, mit diesen Getreideverkäufen fortzufahren, Nicolai“

      „Allerdings, Papa — ich halte es für das richtige . . .“

      „Und ich für das Gegenteil!“

      „Verzeihe! Aber einer von uns muss doch die Geschäfte führen. Und da du ja leider verhindert bist . . .“

      „Ich bin allerdings persönlich verhindert!“ sagte sein Vater ruhig. „Aber ich kann mich ja doch vertreten lassen. Ach, Herr Roloff . . . kommen Sie, bitte, etwas näher. Sie sind zwar wenig über ein halbes Jahr bei uns, aber Sie haben sich als eine so ungewöhnliche Kraft erwiesen und derart mein Vertrauen erworben, dass ich Ihnen von heute ab die Prokura für Sandbauer und Sohn erteilen will. Ich nehme dabei an, dass Sie in wichtigeren Sachen nur nach Rücksprache mit mir für die Firma zeichnen werden. Lassen Sie jetzt gleich die Anzeige an unsere Geschäftsfreunde mit Ihrer Unterschrift hektographieren!“

      Roloffs Gesicht blieb so gelassen wie zuvor. Erst schien er etwas entgegnen zu wollen. Aber dann sagte er nur ruhig: „Ich danke sehr, Herr Sandbauer!“, verbeugte sich vor dem Vater und dem Sohn, der ihm, am Fenster stehend, in voller Absicht den Rücken zudrehte, dann vor Lisa und verliess das Zimmer.

      Kaum war er fort, so wandte sich Nicolai hastig um. Seine Frau stellte sich ihm in den Weg. Aber ihre Besorgnis, er werde rücksichtslos seinem Zorn die Zügel schiessen lassen, war unnötig. Ein Blick auf das eingefallene Gesicht des alten Herrn, der, von der ungewohnten Anstrengung erschöpft und schweratmend mit, geschlossenen Augen in den Kissen ruhte, lehrte ihm Mässigung. Mit einem Sterbenden fing man keinen Streit an. In kurzem war ja doch alles vorbei und wurde alles anders . . .

      So lachte er denn nur wild auf, um seinem Groll Luft zu machen: „Wahrhaftig . . . eine stolze Vertretung unserer Firma . . . ein Mensch, den man mit zwei Fingern aus den Schwarzarbeitern im Hafen herausgesischt hat . . . Vorigen Winter hat er für Sandbauer und Sohn Getreidesäcke getragen — jetzt zeichnet er in Prokura für Sandbauer und Sohn. Haha! Es wäre ja zu komisch, wenn es nicht so toll wäre!“

      „Hast du schon einmal jemanden gefunden, der über Herrn Roloff gelacht hat?“ Frug sein Vater. Ich nicht.“

      „Über ihn wird man nicht lachen, aber über uns, Sie einen Abenteurer an die Stelle setzen, wo der Chef allein schalten sollte — einen Aufpasser . . . oh . . . ich verstehe . . . er soll mich in deinem Auftrag überwachen . . . meine ganze Tätigkeit lahmlegen! Aber ich mache das nicht mit! Soll ich mich von unseren jungen Leuten hinter meinem Rücken verhöhnen lassen? Ich fahre jetzt ins Geschäft, schliesse meine Bücher ab und see dann keinen Fuss mehr hinein! Dann mag Herr Roloff drinnen tun, was er will — oder vielmehr, was du willst. Ich kümmere mich um nichts mehr!“

      Der Kranke hob die Hand. Er wollte ihm ins Wort fallen. Aber Nicolai war zu erregt, um noch zu hören. Der schöne blondbärtige Mann zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war blass vor Zorn. „Entschuldige mich, Lisa!“ sagte er heiser. „Aber ich will jetzt gleich weg in die Stadt. Vielleicht holst du mich dann gegen Abend im Kontor ab, ja? Bis dahin habe ich dort meine Sachen erledigt! Du kannst dann Papa melden, dass alles für Herrn Roloff bereit ist. Also adieu!“

      Sie schaute ihm durch das Fenster nach, wie er auf die weissflimmernde Strasse trat, in der seine Lackschuhe tief im Staub versanken, den nächsten Iswoschtschik mit dem Stock herbeiwinkte und in das winzige Wägelchen sprang. Dann trat sie in das Zimmer zurück, zu ihrem Schwiegervater, der wie schlafend in seinem Rollstuhl ruhte. Aber seine welken Lippen bewegten sich. Er war nach der Aufregung wieder in sich zusammengesunken, im Übergang vom Wachen zum Traum.

      Er soll mir das Geschäft nicht verderben . . . der Nicolai . . .“ murmelte er. „Er will es besser wissen als ich, Lisa . . . als ich . . . der ich vor sechzig Jahren schon die Taschen voll Weizenproben gehabt habe und als kleines Kind schon unseren Knechten im Schuppen geholfen hab’, den Mais umzuschaufeln. Und damals waren andere Zeiten wie jetzt. Kein Pflaster. Im Herbst, wenn die Tausende von Getreidewagen aus der Steppe kamen, dann waren alle Strassen in Odessa grundlos . . . man versank im Schlamm . . . man hat damals Stricke längs der Häuser gespannt, um sich daran zu halten, wenn man Sonntags wenigstens zur Kirche gehen wollte . . . der Pfarrer ist einmal doch bis an den Leib in eine Pfütze eingesunken und von der Gemeinde herausgezogen worden. Er hat arg auf Schwäbisch gescholten und dann doch gepredigt. Ich entsinne mich wohl . . .“

      Er rief seine wandernden Gedanken zurück. „Mach das Zimmer wieder dunkel!“ bat er. „Ich will schlafen.“

      Lisa tat es. Dann suchte sie leise in der Dämmerung den Weg zur Türe. Da hörte sie noch einmal die müde Greisenstimme: „Lisa, mein Kind . . . hinter meinem Stuhl steht der Geldschrank . . . zieh den Schlüssel ab und gib ihn mir!“

      Als er ihn hatte, wurde er ruhig und barg ihn sorgfältig in der Tasche. Das war wie eine sinnbildliche Handlung. Solange er lebte, sollte niemand, auch der eigene Sohn nicht, mit dem Gelde schalten, das Dominik Sandbauer so schwer sich erworben, für das er sein ganzes Dasein hindurch all seine Kräfte und seine Gesundheit aufgebraucht hatte. Er lag da noch in seinem Stuhl und besass es. Hinter ihm stand eine unheimliche, mächtig schwarze Masse im Dämmern des Zimmers, der gepanzerte Schrank. Und es war Lisa, während sie behutsam die Klinke ausdrückte und noch einmal zurückblickte, als sei dieser düster ragende, den Kranken überspannende Schatten etwas ganz anderes, etwas, was man fühlt und nicht nennt: der Tod hielt am Lager des alten Kaufherrn Wacht . . .

      IV

      Vom Choutor Sandbauer fuhr Lisa in die Stadt hinein, um ihren Vater aufzusuchen.

      Sie hatte ihm die Stunde ihrer Ankunft nicht angezeigt, um zu verhindern, dass er sie zusammen mit ihrem Mann auf dem Bahnhof erwartete. Sie wusste: Nicolai liebte es nicht, sich öffentlich neben seinem Schwiegervater zu zeigen. Wohl unterstützte er ihn in seiner lässig-freigebigen Art, so dass jener fast ausschliesslich aus seiner Tasche zehrte — aber alles, was sich heruntergekommen, verwahrlost, als Ruine von einst darstellte, war ihm ein Greuel. Es beleidigte weniger seinen Hochmut, obwohl auch der stark genug, ausgeprägt war, als seinen Sinn für die äusserliche Korrektheit, den tadellosen Faltenwurf des Lebens.

      Der Wagen rollte rasch dahin. Seine Räder


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