Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

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Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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Trotz der Mittagsglut war hier voller Verkehr. Die winzigen Droschken rasten in Menge sich kreuzend und überholend über die schallenden Granitfteine, auf den Bürgersteigen drängten sich die weissen Sonnenschirme der Herren, die bunten der Damen unter den ausgespannten Leinwanddächern der Schaufenster; im spärlichen Schatten der verdorrten und verstaubten Akazien sassen überall die jüdischen Makler auf den Promenadebänken und liessen Getreideproben von Hand zu Hand gehen, oder standen, die Köpfe zusammensteckend, an den Strassenecken beisammen. Denn hier unter freiem Himmel, in den Hausfluren, allenfalls drüben in dem zur Mittagszeit von den „Saitschikis“, den Hasen, wie man die kleinen Spekulanten und Agenten nannte, wimmelnden Café Fanconi wurden hauptsächlich die Geschäfte des Odessaer Handels nach Vätersbrauch gemacht. Die prunkvolle neue Börse an der Ecke der Puschkinstrasse war ein gähnend leerer Luxusbau, den man höchstens einmal aus Neugierde betrat.

      Lisa musste aufmerken, um keinen der vielen Grüsse, die ihr galten, zu versäumen. Alle Augenblicke winkte eine aufgeregte Dame aus einem vorbeifahrenden Wagen oder lüftete auf dem Fussweg ein Freund ihres Mannes seinen Strohhut. Heute abend erzählte man sich jedenfalls überall in Arkadia und Langeron, in der Kleinen Fontäne und auf dem Boulevard, in all den Restaurants am Meer, wo man sich nach der Glut des Tages erholte, als Neuigkeit, dass die schöne Madame Sandbauer aus dem Ausland zurückgekommen sei. Sie scheine sich also wohl mit ihrem Mann wieder vertragen zu wollen. Auf wie lange — da lächelte man und irgend jemand fing an von der neuen Weizenernte zu sprechen . . .

      Sie neigte beinahe mechanisch den Kopf, wenn sie einem Bekannten begegnete. Sonst sah sie nicht rechts und links. Es war auch nicht viel Eigenartiges auf den Strassen des grossen Hafenortes zu bemerken. Früher, als Odessa beinahe nur durch den Wasserweg mit der Levante, und von da mit Europa verbunden gewesen war, hatte es ziemlich ausgeprägt den Charakter einer von zahlreichen Italienern und Griechen bewohnten Mittelmeerstadt getragen. Das hatte sich mit der Legung der Schienenwege durch die bis dahin die Hälfte des Jahres hindurch nahezu pfadlosen, von Schnee bedeckten oder vom Regen in schwarzen Brei verwandelten Steppen geändert. Seitdem waren in Menge die Russen aus dem Inneren des Reiches gekommen — sie hatten das eigentümlich Südländische der Stadt verwischt und sie doch nicht slawisch zu machen vermocht. Odessa wurde einfach farblos und blieb dabei international durch und durch, jetzt noch vielleicht die unrussischste aller russischen Städte. Nur die zahlreichen Uniformen der Militärs und Zivilbeamten, der Studenten und Gymnasiasten und die langen dickgefütterten und buntgegürteten Weiberröcke der Droschkenkutscher, die kohlengeschwärzten Fetzen der Schwarzarbeiter erinnerten an das Zarenreich, nur ein selten einmal auftauchender roter Fess oder die wildmalerische Gestalt eines gedankenvoll vor einer blauweissen Aschingerschen Bierquelle stehenden Tscherkessenhäuptlings an die Nähe Asiens. Sonst hätte das elegante, die Strassen durchflutende Publikum ebensogut irgendwo anders die Kaufläden betrachten, die neuesten Moden zur Schau tragen, miteinander plaudern und flirten können.

      Nun lenkte Abdul, der tatarische Kutscher, die Orlofftraber in eine Seitengasse ein. Man kam in geringere Quartiere. Die Häuser wurden unsauber, Haufen von Juden standen scheu, neuer Tumulte gewärtig, vor ihren höhlenartig dunklen Wohnungen, Betrunkene torkelten vorbei — das war die Gegend, wo Lisas Vater in einer hauptsächlich von deutschen Handwerkern bewohnten Strasse sein „Magazin“, wie er beharrlich einen beinahe völlig leeren, tennenartigen Hofraum nannte, und eine kleine Wohnung besass.

      Er stand, als der Wagen hielt, auf der Schwelle, ein kleines, dürftiges, fadenscheinig gekleidetes Männchen, und sprach hüstelnd und den zitterigen Zeigefinger hin und her bewegend mit grämlicher Fistelstimme zu einem Gorodowoi, einem weisskitteligen Stadtsoldaten, der vor ihm lehnte. Dabei sah er bedrückt und gekränkt aus.

      „Wer bist du?“ sagte er leise und drohend. „Und wer bin ich? Ein Gorodowoi, mein Lieber, ist nichts Besonderes. Ihrer gibt es Tausende! Ich aber bin, erblicher Ehrenbürger! Verstehe wohl! Ich habe vierzig Jahre in die erste Gilde gezahlt — ich war Mitglied der Stadtverwaltung . . . Wie kannst du es also wagen und ohne Gruss in mein Haus eindringen wollen . . .“

      Der Polizist lachte über sein ganzes breitknochiges rotes Gesicht, und das erboste den Alten noch mehr, so dass er, in eine neue Strafpredigt ausbrechend, die hinter ihm vorgefahrene Equipage gar nicht bemerkte. Lisa hatte Zeit, ihn, nachdem sie ausgestiegen, von der Seite zu betrachten, und ihr erster schmerzlicher Gedanke war: man muss ihm gleich wieder frische Wäsche und Kleider kaufen! Daran hat, solange ich weg war, niemand gedacht . . .

      Und nötig war es in der Tat, wenn es auch nie lange half. Seit ihr Vater sich daran gewöhnt hatte, den ganzen Tag über alle zehn Minuten sich ein Gläschen Atschischtschina“ — „Ungemischten“ — aus der Flasche mit wasserhellem Branntwein einzugiessen, vernachlässigte er sich auch im Äusseren vollkommen. Man musste für ihn sorgen. Sonst liefen ihm noch einmal die Kinder auf der Strasse nach.

      „Ich bin ein Ehrenbürger,“ wiederholte er beharrlich zu dem Gorodowoi. „Wie sollten sich bei mir Barfüssler verborgen halten? Du brauchst nicht erst nachzusehen. Überhaupt — warum kommst du erst jetzt? Der Krawall war schon vor einer Stunde! Nun — Gott mit dir!“

      Er winkte ungeduldig mit der Hand zum Abschied, und der Stadtsoldat grinste wieder und ging trotz seines Verbots in das Haus hinein. Auch die Umstehenden lachten. Zu ernst schien niemand hier in der Nachbarschaft den heruntergekommenen kleinen Ehrenbürger zu nehmen.

      Der erkannte jetzt seine schöne Tochter und trippelte ihr entgegen. In seinen ewig feuchten alten Augen war eine aufrichtige Freude. Er umarmte und küsste Lisa und geleitete sie ins Haus und wiederholte dabei immer wieder: „Nun also . . . da bist du! . . . da bist du . . .“

      Dann übermannte ihn noch einmal der Zorn. Er blickte giftig nach dem Gorodowoi. „Bei mir Haussuchung halten!“ grollte er. „Ich werde mich persönlich beim Gouverneur beschweren. Ich war früher gut mit ihm bekannt.“

      „Was ist denn geschehen?“

      „Ein Judentumult. Wie immer. Ein Hebräer fährt vorbei, in einer Droschke. Weiss vor Angst. Ein Haufe hinter ihm her. Er gibt dem Iswoschtschik Geld! ,Fahre Galopp . . . ich bitte dich!‘ Aber sie fassen ihn doch. Sie reissen ihn heraus. Er hebt die Hände: „Ich hab’ euch nichts getan!‘ Aber ein baumlanger Kohlenträger brüllt: ,Hast du nicht Christus gekreuzigt? und will ihm mit einer Latte auf den Kopf schlagen. Da springt, ein Vorbeigehender dazwischen. Den streift die Latte an der Stirne, so dass er blutet und seine weisse Schirmmütze zu Boden fällt — aber er, begreisst du, boxt! Er boxt, so wie es die Engländer machen — eine Faust unters Kinn, die andere in die Magengrube. Er schlägt den Kerl einfach nieder und die übrigen weichen vor ihm zurück. Sie erkannten ihn — von früher — vom Hafen her . . . da war er unter ihnen gewesen . . . es war der Roba Roloff . . . der jetzt bei euch im Geschäft ist . . . und wie er ihnen einfach sagt: ,Geht weg, Brüder!‘ — da gehen sie. Trollen sich einfach die Strasse entlang. Ja . . . so war es . . . ein ganzer Kerl . . . Er hat — Kräfte . . .“

      Der Alte setzte sich und seufzte. Sie waren in einen ziemlich grossen Raum getreten, der ihm zur rechten Hand, wo ein Stuhl und Schreibtisch stand, als „Bureau“, auf der linken, nahezu leeren Seite als „Magazin“ diente. Ein einzelnes mittelgrosses Orchestrion befand sich da. Ein paar herausgenommene Rollen und Stifte lagen am Boden. Der Mechanismus war auf der Reise nach Odessa beschädigt und von der Schwarzwälder Firma ihm, dessen einstiges grosses Einfuhrgeschäft zu einer Reparaturwerkstätte herabgesunken war, brieflich zur Ausbesserung anvertraut worden. Derartige Gelegenheitsarbeiten waren das einzige, was ihm noch zufiel. Lisa hätte ihn am liebsten ganz von hier fort und in ihr Haus unter ihre Obhut genommen. Aber dagegen sträubte er sich beharrlich. Er wollte seine Freiheit wahren, auch gegenüber dem reichen Schwiegersohn, so oft er den auch anborgte.

      „Nun also . . . da bist du!“ murmelte er noch einmal und hüstelte dann plötzlich und schaute scheu zur Seite. Er schämte sich zuweilen vor seiner eleganten Tochter. Er kam sich so gedrückt und dürftig neben ihr vor.

      „Und wie geht es dir?“ frug Lisa.

      „Mir? Gut! Sieh — da flicke ich eben ein Pneumatik-Cottage-Orchestrion! Ich bin noch rüstig. Trotz meiner Siebzig. Aber dein Schwiegervater . . . der macht es nicht mehr lange!“

      Sie


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