Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz

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Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays - Rudolf Stratz


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sah sich um. Zum erstenmal seit langem fühlte er sich fremd in dieser verblaßten gespensterfarbigen Welt, fühlte er sich einsam in der Einsamkeit. Zum erstenmal seit langem empfand er den Wunsch, ein menschliches Wesen neben sich zu haben, eine menschliche Stimme zu hören und zu wissen, daß außer ihm noch etwas in der Eisöde lebte.

      Langsam ... vorsichtig begann er den Marsch durch die Welt von Gefahren, die den einzelnen, nicht angeseilten Gletscherwanderer bedrohen.

      Er war geübt. Schon aus der Ferne unterschied sein Blick die Stellen, wo die Hochwelt ihre Menschenfalle, die schneeüberkleideten Gletscherspalten, gerüstet hatte. Unmerkliche geschlängelte Linien, auf denen der Schnee in besonders harmlosem Weiß schimmerte, wiesen die Stätte der Gefahr. Stieß man da, vorsichtig sich am Rande haltend, die Eisaxt ein paarmal in den Boden, so stürzte der plötzlich ein, die Schneebrocken kollerten in die Tiefe, und ein scheußliches, unergründliches Loch gähnte zum Tageslicht.

      Auch beim Stufenhauen mußte er jedes Zucken des Körpers beherrschen. Auch da klafften hart neben den Eishängen, an denen hin er seinem Fuße Bahn schuf, die Schründe und wassergefüllten Eislöcher. Wehe, wenn er ausglitt!

      Aus diesen grünlich spiegelnden Kesseln mit den hohen glatten Rändern gab es keine Rettung. Im Augenblick erstarrte man in der eisigen Flut und sank hinab, tiefer und immer tiefer und erreichte selbst als Leiche nicht den Boden des Schlunds.

      Und Vorsicht, wo man an den Abhängen des Gletschers, unter kühn ragenden Eisklippen und massigen Schneemauern dahinsteigt! Die Erschütterung des nägelbewehrten Schuhs genügt, die Kolosse ins Wanken zu bringen. Ein Krachen und Poltern stürzender Massen, und für immer verschwindet der schwache Menschenleib unter den Trümmern, die in der nächsten Nacht zu neuen, abenteuerlichen Fratzen zusammenfrieren.

      Selbst im Geröll der Moräne lauert noch das Verderben. Im achtlosen Schreiten gleitet der Fuß aus, der Knöchel bricht, und ein Unfall, der sonst sich auf dem Krankenlager ohne Gefahren gibt, kann hier, in den ödesten Stellen des Gebirges, dem Hilflosen, sich mühsam ein paar hundert Schritte Fortschleppenden den Hungertod bringen.

      Vorsicht! ... Vorsicht! ... Sie war ihm, wie jedem gereiften Gletschermann, zur zweiten Natur geworden. Langsam und zäh wand er sich durch die zerrissene Wildnis, hier in einem Sérac, einem Eisschrund, auf kurze Zeit verschwindend, dort auf dem schmalen Kamme einer Schneemauer schreitend, auf Stufen auf und nieder kletternd, über glatte Flächen rutschend und mit jähem Schritt, nach genauer Prüfung, die Risse überspringend, bis er endlich wieder auf festem Felsen stand und die verblaßte Brille in die Tasche schob.

      Dann schritt er, nach einem Blick auf die Karte, rüstig aus. Er hatte heute noch einen starken Marsch vor sich und ebenso die folgenden Tage, auf der wilden, einsamen, nur über vergletscherte Hochpässe führenden Route – einen rechten high level-road im Jargon des Alpenklubs –, die ihn aus dem Berner Oberland ins Wallis, zu den Riesen der Südschweiz führte.

      VI

       Inhaltsverzeichnis

      »... Da kann man sich vorstellen, wie's zur Zeit der seligen Postkutsche bei uns ausgeschaut hat ... damals, als man noch zwischen Berlin und Danzig 'ne geschlagene Woche auf der Landstraße lag ... sieh doch mal hinunter, Elisabeth ... 's ist wirklich ganz hübsch ...«

      Sie schlug langsam die Augen auf, während die Worte ihres Mannes nur halb verstanden an ihr Ohr klangen. Das stundenlange Rütteln des Mietwagens, die Sonnenglut und die Staubwolken, die unablässig auf der Fahrt durch das Haslital rechts und links den Blick verschleiert hielten – das alles hatte sie in einen Halbschlaf versetzt, in eine müde Träumerei, aus der sie jetzt erst erwachte.

      Ihr Gesicht belebte sich. In der Tat ... das war ein interessanter Anblick: diese ungeheuren, rückwärts durch die blendenden, jäh abfallenden Massen des Rhonegletschers abgeschlossene und von vielverzweigten Strömen durchrieselte Steinmulde, die kahlen baum- und strauchlosen Höhen ringsum, von denen die drei Heerstraßen sich in endlosen Windungen zur Gletsch herabsenkten, das fröhliche Treiben auf diesen sicher an den Grenzen des ewigen Schnees vorbeiführenden Chausseen, die langen Züge der vier- und fünfspännigen Postwagen, die unter Peitschenknall, eine lange Staubfahne hinter sich her ziehend, in schlankem Trab die gefährlichsten Kurven passierten. – Und unten im Tal, in seltsamem Gegensatz zu der öden Gebirgswelt, das große moderne Hotel mit den endlosen sich anschließenden Stallungen, dem Gewirr der davor aufgefahrenen Wagen und dem Getümmel der zwischen Deichselstangen und Rädern mit ihren Pferden hantierenden Knechte und der durcheinanderhastenden Passagiere ...

      Der Kutscher ließ die Gäule laufen. Sie fuhren am Hotel vor und erhielten nach kurzer Verhandlung, der die am Portal herumlungernden Angehörigen aller Nationen in gähnender Teilnahme folgten, ihr telegraphisch vorausbestelltes Zimmer angewiesen.

      Es lag zur ebenen Erde. Während Elisabeth mechanisch ihre Abendtoilette zur Table d'hote vollendete, hörte sie dicht unter den Fenstern die Stimme ihres Gatten, der da draußen, auf und ab promenierend, seine Zigarette rauchte.

      Er mußte Bekannte getroffen haben! Mehrere Stimmen klangen aufgeregt durcheinander, helles Mädchengelächter, das Lispeln einer älteren Dame und der Bierbaß eines bejahrten Herrn.

      Diese tiefe, fettige Stimme mußte sie doch kennen! Sie blickte vorsichtig von der Seite durch die Scheiben. Richtig ... da stand ihr Verwandter und Gutsnachbar Herr von Endemer, von seiner zierlichen, mädchenhaft schlanken Frau und zwei halbwüchsigen Töchtern umgeben. Ein hünenhafter wohlbeleibter Greis, mit blaurotem, ewig schmunzelndem Gesicht, lustig blinkenden Augen und spärlichen Schnurrbarthaaren, die wie Katerborsten von den Lippen starrten, beantwortete er in geräuschvoller Fröhlichkeit die Fragen ihres Gatten.

      Wo Endemers herkamen? Aus Zermatt: Tatsächlich brillante Gegend ... zwar überfüllt, aber interessante Gesellschaft ... bessere Stände ... Bergkletterer aus allen Ecken der Welt ... viel angenehme Engländer ... andre Sorten als die Cookschen Reiselümmel da unten im Schweizer Seegebiet, dabei Gegend prachtvoll ... würzige Luft ... treffliche Hotels ... »ich kann dir nur raten ...« schloß Herr von Endemer seinen Bericht, »geh auch hin ... wird dich nicht gereuen! ...«

      Sie sah, wie ihr Gatte die Achseln zuckte. »Ich weiß nicht recht, wo ich meine Frau hinbringen soll«, sagte er und trat mit dem weitläufigen Onkel etwas zur Seite, »die Reise schlägt ihr gar nicht gut an. Ist es nun, weil wir Edith nicht mit haben ... aber wie können wir denn das Kindchen hier mitschleppen, und es ist ja auch vorzüglich aufgehoben ... oder was sonst ... jedenfalls ist sie schon die ganze letzte Zeit melancholisch und schweigsam ... weißt du ... die Stimmung, wo einen die Frauen den ganzen Tag mit einem seelenvollen Märtyrerblick anschauen, ohne daß man weiß, warum, bis man sich schließlich selber ganz dumm vorkommt ... dabei hat sie ganz abnorme Ideen ... will fortwährend ins Hochgebirge zurück, seit sie neulich gegen meinen Willen ...« »Aber das paßt ja vortrefflich!« schrie der joviale alte Herr, »in Zermatt hat sie ja die Auswahl ... da ist ein Berg höher wie der andre.«

      »Du hast mich nicht ausreden lassen!« Sein Ton klang etwas gereizt. »Ich sage ... gegen meinen Willen ... ich habe es ihr direkt verboten, und darüber kann sie sich nicht beruhigen.«

      Herr von Endemer schüttelte wehmütig lächelnd das graue Haupt.

      »Kennste denn die Weiber noch nicht?« sagte er traurig, »denen muß man nie etwas verbieten! Dann heißt's bei ihnen: ›Nu gerade‹, wie bei den kleinen Kindern ... unvernünftig wie sie nu mal sind, waren und sein werden. Nein, mein Junge ... man muß immer so tun, als ob man auf alle ihre Lappalien einginge ... so tun ... verstehst du. Sowie sie dann glauben, daß sie ihren Willen glücklich durchgesetzt haben, beruhigen sie sich und lassen sich ein X für ein U machen. Bring du deine Frau ruhig nach Zermatt und steig mit ihr jeden Tag aufs Mettelhorn oder sonst einen ungefährlichen, nicht ganz ausgewachsenen Berg ... aber immer ordentlich über Geröll und steil bergan ... dann wirste sehen ... nach drei Tagen hat sie genug und bittet dich selbst, sie zu Hause zu lassen!«

      »Aber es ist gefährlich!« »Da sieh mal meine Marjellen


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