Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic

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Medienrezeptionsforschung - Helena Bilandzic


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genau umgekehrten Effekt kommen: Es werden dissonante Informationen sogar bevorzugt gesucht, um eine spätere Entscheidungsrevision vorzubereiten.

      Unter der Lupe: selektive Zuwendung bei der Zeitungslektüre

      Donsbach (1991) hat in einer breit angelegten Feldstudie die selektive Auswahl von Zeitungsartikeln untersucht. In einem ersten Schritt wurde eine Leserbefragung durchgeführt, die die Voreinstellungen der Leser zu verschiedenen politischen Themen ermittelte. In einem zweiten Schritt wurden diesen Lesern in einem sogenannten Copy-Test verschiedene Zeitungsartikel aus der realen Berichterstattung von vier Zeitungen gezeigt. Die Leser sollten angeben, ob sie diese Artikel ganz gelesen, teilweise gelesen, nur die Überschrift gelesen oder nicht gelesen haben. Damit konnte herausgefunden werden, welchen Artikeln sich die Leser zugewendet haben. In einem dritten Schritt wurden nun diese Artikel inhaltsanalysiert, um den Einfluss von inhaltlichen und formalen Merkmalen zu bestimmen. Nun konnte ermittelt werden, welche Leser (mit welchen Voreinstellungen) welche Inhalte auswählen. Die Ergebnisse zeigen ein heterogenes Bild: Kam ein Politiker in einem positiven Kontext vor, dann wurde er von seinen Anhängern (Konsonanz) stärker beachtet als von seinen Gegnern (Dissonanz). Dies entspricht den Annahmen der Dissonanztheorie. Wurde hingegen der Politiker in einem negativem Licht dargestellt, so wurden die Artikel von seinen Anhängern genauso stark beachtet wie von seinen Gegnern. Aber auch die formale Aufbereitung der Artikel hatte einen wichtigen Einfluss: Die formale Betonung der Beiträge wie Schlagzeilengröße, Überschrift oder Bebilderung war für die Auswahl der Artikel noch entscheidender als die Konsonanz oder Dissonanz zwischen Lesermeinung und dargebotener Information.

      Der zweite Aspekt der selektiven Auswahl umfasst die selektive Wahrnehmung von bereits ausgewählten Inhalten. Die selektive Wahrnehmung von bereits ausgewählten Inhalten können wir uns folgendermaßen vorstellen: Rezipienten neigen dazu, die Medieninformationen in die Richtung ihrer Voreinstellung verzerrt zu interpretieren. Dieses Phänomen ist auch unter dem Namen Confirmation Bias (vgl. Fischer, Jonas, Frey & Schulz-Hardt, 2005) bekannt, und wir kennen ähnliche Befunde ebenfalls schon von der Schema-Theorie (vgl. Kapitel 2). Die selektive Wahrnehmung von bereits ausgewählten Inhalten umfasst darüber hinaus auch die Beurteilung der Qualität von Informationen: Menschen neigen dazu, Informationen, die zu den eigenen Kognitionen inkonsistent sind, kritischer zu prüfen als konsistente Informationen (vgl. Fischer et al., 2005).

      Zusammengenommen schützen die beiden Selektionsschritte die Rezipienten gewissermaßen vor einem zu starken Medieneinfluss. Interessanterweise ging Festinger (1957) davon aus, dass die selektive Zuwendung zu Informationen ausschließlich beim Vorhandensein von kognitiver Dissonanz erfolgt. Ohne Dissonanz, so Festinger, ließen sich auch keine selektiven Zuwendungseffekte erwarten. Genau diese Hypothese wurde aber in der bisherigen Literatur nicht eingehend geprüft (vgl. Holbrook, Berent, Krosnick, Visser & Boninger, 2005). Im Vordergrund der Forschungsbemühungen stand vielmehr die allgemeine Frage, ob Zuschauer Informationen bevorzugen, die ihren Voreinstellungen entsprechen (vgl. z. B. Donsbach, 1991). Dies lässt sich, streng genommen, allerdings nur implizit aus der Theorie der kognitiven Dissonanz ableiten (vgl. Holbrook et al., 2005). Die Theorie der kognitiven Dissonanz ist wegen ihres breiten Erklärungsanspruchs nicht widerspruchsfrei belegt, und es existiert auch eine Reihe von Weiterentwicklungen oder alternativen Erklärungsansätzen (vgl. zusammenfassend Frey & Gaska, 2001). Bei der Vorhersage und Erklärung von empirischen Ergebnissen ist sie zudem sehr flexibel, d. h. sie kann Deutungen für zwei sich widersprechende Ergebnisse liefern (vgl. Cotton, 1985). Dies ist eine wichtige Kritik an der Theorie. Zudem gibt es eine Vielzahl von intervenierenden Variablen und notwendigen Bedingungen für das Entstehen und den Abbau von Dissonanz.

      Eine jüngere, vielversprechende Perspektive ergibt sich durch die Einbeziehung von Persönlichkeitsvariablen. Beispielsweise entwickelten Cialdini, Trost und Newsom (1995) eine Skala zur Erfassung einer Präferenz für Konsistenz. Damit ist die interindividuelle Eigenschaft gemeint, nach konsistenten Kognitionen zu streben bzw. Inkonsistenzen zu tolerieren. Durch die Einbeziehung dieser Persönlichkeitseigenschaft kann besser erklärt werden, bei welchen Personen es verstärkt zu selektiven Nutzungsmustern auf Basis der eigenen Prädispositionen kommen sollte.

      Merksatz

      Die Selektion von einstellungskonsistenten Informationen ist kein universelles Phänomen. Sie ist vielmehr abhängig von einer Reihe von Randbedingungen wie der Negativität des Stimulus, den kognitiven Ressourcen der Rezipienten oder der wahrgenommenen Relevanz des Stimulus.

      In Bezug auf die Selektion von Medieninhalten ist die pauschale Annahme, dass Menschen nur Inhalte auswählen, die ihren eigenen Einstellungen nicht widersprechen, sicherlich zu kurz gegriffen. Donsbach (1991) nennt eine Reihe von Faktoren, die diesen Effekt wieder abschwächen können: Erstens ist die einstellungskonsistente Selektion geringer, je mehr Zeit die Rezipienten für die Rezeption aufbringen. Zweitens sind die Effekte nur bei neutralen oder positiven Inhalten feststellbar, negative Inhalte unterliegen nicht der einstellungsbasierten Selektion. Drittens wird der Effekt der einstellungskonsistenten Selektion verringert, wenn die Beiträge als sehr relevant empfunden werden, also mehrere Nachrichtenwerte ansprechen. Hinzu kommt, dass Rezipienten nicht bei allen Medienangeboten einstellungsbasiert selektieren können. Zwar kann man sich entscheiden, ob man eher die eine oder die andere Zeitung abonniert oder den einen oder anderen TV Sender eher einschaltet (wie in den USA z. B. den konservativen Sender FOX), allerdings ist es deutlich schwerer und aufwändiger, die Einstellungskonsistenz eines einzelnen Medienbeitrages schon an der Überschrift oder an der Anmoderation zu erkennen. Dies ist vor allem bei Medienbeiträgen der Fall, in denen mehrere unterschiedliche Sichtweisen beleuchtet werden. In den experimentellen Studien zum konsistenztheoretischen Ansatz wird den Versuchspersonen die Wahl zwischen verschiedenen Beiträgen überlassen. Dies ist aber in der Realität gar nicht immer der Fall (vgl. Mutz & Martin, 2001). Generell und sicherlich etwas überspitzt fragen Chaffee, Saphir, Graf, Sandvig und Hahn (vgl. 2001, S. 248), wie die Menschheit über Tausende von Jahren überleben konnte, wenn sie nur nach einstellungskonsistenten Informationen sucht und neue Erkenntnisse oder Überraschungen vermeidet. Dieses eher verhaltene Fazit entspricht auch den jüngsten Erkenntnissen der empirischen Forschung: Zwar lässt sich eindeutig das Phänomen der einstellungskonsistenten Selektion nachweisen, allerdings zeigt sich nicht, dass einstellungsinkonsistente Informationen vermieden werden (vgl. Garrett, 2009; Matthes, 2012). Studien belegen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit einstellungsinkonsistenten Informationen konfrontiert zu werden, bei Massenmedien größer ist als bei der interpersonalen Kommunikation (vgl. Mutz & Martin, 2001).

      In diesem Kapitel haben wir die wichtigsten Ansätze der Selektionsforschung kennengelernt. Obwohl sie nicht direkt den Prozess der Rezeption beschreiben, sind sie dennoch für die Rezeptionsforschung wichtig. Selektionsmuster und -gründe determinieren die Erwartungen an die Rezeption und damit auch grundlegende Rezeptionshaltungen. Wir haben dabei zwei zentrale Ansätze herausgegriffen. Allerdings gibt es noch andere. Beispielsweise kann auch die Mood-Management-Theorie (vgl. Kapitel 5) dazu herangezogen werden, eher automatische Selektionsprozesse zu beschreiben. Ebenso wurden Ansätze aus der Journalismusforschung, wie die Nachrichtenwert-Theorie, bereits in Bezug auf Medienselektionsprozesse diskutiert (vgl. Eilders, 1999).

      Es ist deutlich geworden, dass die beiden zentralen Ansätze zur Medienselektion von unterschiedlichen Prämissen ausgehen: Während der Nutzen- und Belohnungsansatz postuliert, dass Medienselektionsprozesse intentional und bewusst ablaufen, wird diese Annahme im konsistenztheoretischen Ansatz nicht formuliert. Auch zeigt ein Blick auf die empirische Literatur, dass der Nutzen- und Belohnungsansatz sowohl die Selektion von Unterhaltungs- als auch von Informationsangeboten beschreiben kann. Die Forschung im konsistenztheoretischen Ansatz bezieht sich allerdings ausschließlich auf informationsorientierte Medienangebote, insbesondere solche, die einstellungskonsistent oder inkonsistent sein können. Schließlich sehen wir im konsistenztheoretischen Ansatz neben der Auswahl von Informationen auch einen Fokus auf die Vermeidung von Informationen. Dies spielt beim Nutzen- und Belohnungsansatz jedoch keine Rolle.

      Insgesamt findet sich in der Rezeptionsforschung allerdings kein theoretischer Ansatz,


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