Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic

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Medienrezeptionsforschung - Helena Bilandzic


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vielmehr klar auf die gewünschten Gratifikationen hin ausgerichtet. Sie sind intentional.

       Zweitens, und eng damit verbunden, liegt die Initiative zur Mediennutzung auf Seiten der Rezipienten, nicht auf Seiten des Medienangebotes. Dabei steht die Frage »Was machen die Menschen mit den Medien?« im Vordergrund und nicht: »Was machen die Medien mit den Menschen?«

       Drittens stehen Medienangebote bei der Befriedigung von Bedürfnissen in Konkurrenz mit anderen Mitteln der Bedürfnisbefriedigung. Beispielsweise kann das Bedürfnis nach Information sowohl durch Zeitungsrezeption als auch durch interpersonelle Kommunikation gestillt werden.

       Viertens sind den Rezipienten ihre Nutzungsmotive grundsätzlich bewusst, so dass wir in empirischen Studien direkt danach fragen können. Anders formuliert, Menschen sind in der Lage, Auskunft über ihre Motive zur Nutzung einzelner Medienangebote zu geben. Meist werden den Befragten in der empirischen Forschung Aussagen wie »Ich nutze, um mich …« vorgelegt.

       Fünftens vollzieht der Nutzen- und Belohnungsansatz explizit keine Bewertung der Motive, die von den Befragten angegeben werden. Es werden demnach nicht Motive niedriger Natur von Motiven höherer Natur unterschieden. Das bedeutet, Forscher nehmen keine Wertung vor, ob ein Motiv gut, erstrebenswert oder ideal ist.

      Insgesamt versucht der Nutzen- und Belohnungsansatz überdauernde Motive der Mediennutzung in Bezug auf verschiedene Mediengattungen zu erarbeiten. Es geht daher nicht um die situative Variation von Motiven im Rezeptionsprozess, sondern vielmehr um zeitlich überdauernde Motivbündel, die allgemeine Erwartungen der Mediennutzer an Medieninhalte widerspiegeln. Daher wird in diesem Forschungsgebiet zumeist mit standardisierten Fragebögen gearbeitet, bei denen ausführliche Motivkataloge den Befragten vorgelegt werden. Mittlerweile findet sich in der Forschung eine ganze Reihe von Motivfragen, die sich entweder der medienübergreifenden Nutzung widmen oder einzelne Medien in den Blick nehmen bzw. die Motive zur Zuwendung verschiedener Medien miteinander vergleichen.

      Unter der Lupe: die Motiv-Skala von Gleich (1997)

      Gleich (1997) unterscheidet die Fernsehmotive »Information«, »Soziale Nützlichkeit«, »Ablenkung/Geselligkeit«, »Spannung/Unterhaltung« und »Interesse an TV-Personen«. Dem Autor geht es um den Zusammenhang zwischen den fünf genannten Fernsehmotiven und parasozialer Interaktion (vgl. Kapitel 8). Es zeigt sich, dass insbesondere die Erwartung, aus dem Fernsehen soziale Informationen zu beziehen, durch die man für das eigene Leben profitieren kann, und das Interesse an TV-Personen zur parasozialen Interaktion beitragen. Zur Befriedigung der TV-Motive sind TV-Personen direkt funktional, indem sie soziale Informationen vermitteln (z. B. angemessenes Verhalten in bestimmten Situationen), an denen sich die Zuschauer in selbstreferentieller Weise orientieren. Im Folgenden geben wir die Skala zur Erfassung von TV-Motiven wieder, die beispielhaft für die Forschungslogik des Nutzen- und Belohnungsansatzes ist. Auf den Einleitungstext »Ich sehe fern, …« werden den Befragten die folgenden Aussagen, in der Forschungspraxis Items genannt, zur Zustimmung oder Ablehnung vorgelegt:

      1 weil man über die neuesten Ereignisse und Entwicklungen sofort informiert wird. (Information)

      2 weil man viel Neues/Wissenswertes erfährt. (Information)

      3 um mich zu informieren. (Information)

      4 weil ich im Fernsehen aufregende Sendungen (z. B. Krimis o. ä.) anschauen kann. (Spannung/Unterhaltung)

      5 weil es amüsant, witzig und lustig ist. (Spannung/Unterhaltung)

      6 weil das Fernsehen einen so richtig fesseln kann. (Spannung/Unterhaltung)

      7 weil sonst niemand da ist, mit dem ich mich unterhalten oder etwas unternehmen kann. (Ablenkung/Geselligkeit)

      8 weil ich mich von meinen Problemen ablenken möchte. (Ablenkung/Geselligkeit)

      9 um nicht das Gefühl zu haben, alleine zu sein. (Ablenkung/Geselligkeit)

      10 weil ich durch das Fernsehen erfahre, was einem vielleicht auch passieren könnte. (Soziale Nützlichkeit)

      11 weil ich dadurch von anderen lernen kann. (Soziale Nützlichkeit)

      12 weil das Fernsehen zeigt, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten kann/soll. (Soziale Nützlichkeit)

      13 weil ich bestimmte Personen im Fernsehen gerne sehe. (Interesse an TV-Personen)

      14 um ganz bestimmte Personen (z. B. Moderatoren, Schauspieler, Sportler etc.) zu sehen, die ich gerne mag. (Interesse an TV-Personen)

      Diese Fragen werden mit statistischen Auswertungsverfahren wie der Faktorenanalyse zu übergeordneten Motivdimensionen gebündelt. In nahezu allen abgebildeten Skalen findet sich das Motiv der Information. Sehr häufig kommen die Motive Zeitvertreib, Gewohnheit, Entspannung und Geselligkeit vor. Weitere aufgeführte Motive sind Eskapismus, Soziale Nützlichkeit, Spannung/Unterhaltung, aber auch Interesse an TV-Personen, Selbstfindung oder Erlebnissuche in der Vorstellungswelt (vgl. Gleich, 1997; Vorderer, 1996; Schweiger, 2007).

      Definition: Eskapismus

      Eskapismus beschreibt das Motiv der Rezipienten, durch den Konsum von Medien ihrer Alltagswelt, den in der Gesellschaft erfahrenen negativen Erlebnissen und Rollenerwartungen sowie eigenen Problemen zu entfliehen.

      Grob lassen sich Nutzungsmotive in die folgenden vier Gruppen einteilen (vgl. Bonfadelli, 2004):

      1 Kognitive Bedürfnisse bezeichnen den Wunsch der Rezipienten nach Informationsgewinn und Orientierung. Sie zielen darauf ab, dass Rezipienten befähigt werden, ihre Umwelt zu verstehen, indem sie durch Mediennutzung ihr Wissen erweitern und ihre Selbsterfahrung ausbauen. In der Agenda-Setting-Forschung zum Beispiel meinen kognitive Motive die Orientierung in Bezug auf gesellschaftlich wichtige Themen, auf verschiedene Aspekte oder Facetten eines Themas und journalistische Bewertungen desselben (vgl. Matthes, 2006).

      2 Affektive Bedürfnisse dienen der Stimmungskontrolle sowie der Entspannung, der Rekreation sowie der Suche nach aufregenden Erlebnissen, was zumeist durch die Rezeption von Unterhaltungsangeboten erreicht werden kann. Hierunter fällt auch eine mögliche Verdrängung der eigenen Lebensprobleme, was in der Literatur als Eskapismusthese diskutiert wird (vgl. Katz & Foulkes, 1962; für eine Diskussion Vorderer, 1996). Die Eskapismusthese postuliert, dass Menschen sich deshalb Medien zuwenden, weil sie dadurch der Realität, in der sie leben, kognitiv und emotional entfliehen können. Dies wird ermöglicht, indem Medienangebote positive Emotionen erzeugen, stellvertretend für die reale Welt Sehnsüchte befriedigen (beispielsweise durch das Miterleben von Handlungen in einem Film) oder schlicht und ergreifend durch die Ablenkung von den eigenen Sorgen und Nöten. Anders formuliert, Medieninhalte bieten den Rezipienten interessante und aufregende Erfahrungen, an denen sie qua Rezeptionserleben teilhaben können.

      3 Sozial-interaktive Bedürfnisse meinen den Wunsch von Menschen nach Geselligkeit und sozialem Kontakt. Im Kontext der Medienrezeption ist damit zum einen gemeint, dass Medien Anschlusskommunikation ermöglichen, womit Kontakt zu anderen Menschen hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Zum anderen können sich Menschen mit Medienakteuren identifizieren bzw. mit ihnen parasozial interagieren (vgl. auch Kapitel 8).

      4 Integrativ-habituelle Bedürfnisse meinen den Wunsch nach Geborgenheit, Stabilität und Sicherheit, der durch habituelle und ritualisierte Mediennutzung befriedigt werden kann, zum Beispiel durch das Sehen der Tagesschau jeden Abend um 20 Uhr.

      Merksatz

      Nutzungsmotive lassen sich in kognitive Bedürfnisse, affektive Bedürfnisse, sozialinteraktive Bedürfnisse und integrativ-habituelle Bedürfnisse einteilen.

      In der empirischen Forschung hängen die gefundenen Motivdimensionen stark von der jeweiligen Stichprobe, den formulierten Items und den mehr oder weniger explizierten theoretischen Vorstellungen der Forscherinnen und Forscher ab, so dass eine Gesamtschau auf alle bisher gefundenen Motive einen etwas beliebigen Eindruck macht. Dies liegt in erster Linie am explorativen Vorgehen der meisten Studien, in denen es eher darum geht, Motivdimensionen zu finden statt sie theoretisch vorherzusagen und zu


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