Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic
Читать онлайн книгу.auf Gegenstände. Auch sexuelle Reize lösen reflexartige Reaktionen aus, was die Aufmerksamkeit auf diese Reize lenkt.
Zweitens lösen überraschende oder potenziell bedrohliche Reize eine Orientierungsreaktion aus. Solche Reize können Normverletzungen, Regelbrüche oder auch akustische oder visuelle Pegelsprünge wie z. B. laute Schreie oder Lichtveränderungen sein. Als Folge werden sensorisch die Rezeptorschwellen gesenkt, was die Wahrnehmungsempfindlichkeit unseres Informationsverarbeitungssystems erhöht. Auch tritt eine Verlangsamung der Herzfrequenz für vier bis sechs Sekunden ein (vgl. Lang, 2000). Besonders intensive oder bedrohliche Reize lösen jedoch keine Orientierungsreaktion mehr aus, sondern eine Schreck- oder Abwehrreaktion. Denken wir beispielsweise an einen Horrorfilm, in dem eine ruhige, beschauliche Szene abrupt durch ein schreckliches Szenario unterbrochen wird. Nicht selten wenden wir hier – zumindest zunächst – die Augen ab.
Drittens lässt sich mit dem Priming-Paradigma erklären, warum inhaltsbezogene Reize unwillkürlich stark beachtet werden. Nach dem Priming-Paradigma erfahren solche Informationen unwillkürlich eine erhöhte Aufmerksamkeit, die kurz zuvor in verwandter Form dargeboten wurden und daher noch im Kurzzeitgedächtnis aktiviert sind. Priming ist ein Prozess, bei dem Informationen (der sogenannte Prime) bestimmte Wissenseinheiten im Gedächtnis des Rezipienten aktivieren. Durch die Aktivierung werden diese Wissenseinheiten in einen Zustand temporär leichter Verfügbarkeit versetzt. Wird der Rezipient dann mit weiterer Information konfrontiert, werden die soeben zugänglich gemachten Wissenseinheiten eher betrachtet, sie sind leichter zugänglich. Dies kann zur Folge haben, dass die zugänglich gemachten Wissenseinheiten eher für die Bewertung von neuen Informationen herangezogen werden. Beispielsweise haben Baumgartner und Wirth (2012) gezeigt, dass Rezipienten, die mit positiven Nachrichten konfrontiert werden, bei der darauf folgenden Nachrichtenrezeption auch eher positive Informationen verarbeiten, obwohl die darauf folgenden Nachrichten nichts mit der ursprünglichen Botschaft zu tun hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei den darauf folgenden Nachrichten positive Informationen wahrgenommen werden, wurde durch den ursprünglichen Beitrag erhöht. Allerdings ist das Priming kein reflexhafter, deterministischer Effekt, sondern hängt von gewissen Bedingungen ab: Grundsätzlich ist die Aktivierung und Benutzung der leichter zugänglichen Wissenseinheiten umso wahrscheinlicher, (1) je kürzer der Prime zeitlich zurückliegt, (2) je öfter der Prime auftritt und (3) je besser die aktivierte Wissenseinheit auf die folgende Umweltinformation anwendbar ist (vgl. Peter, 2002).
Definition: Priming
Beim Priming werden Wissenseinheiten im Gedächtnis leichter zugänglich gemacht und daher mit höherer Wahrscheinlichkeit für die Bewertung von darauf folgenden Stimuli herangezogen.
Sowohl für unwillkürliche als auch für kontrollierte Aufmerksamkeit gilt das Prinzip der Ressourcenallokation, das von Kahnemann (1973) vorgeschlagen wurde. Damit ist gemeint, dass Menschen nur eine begrenzte kognitive Energie haben, mit der sie sich Reizen widmen können (vgl. auch Lang, 2000). Unsere Kapazitäten zur Informationsverarbeitung sind limitiert. Je mehr Energie wir für eine Aufgabe einsetzen und je stärker wir uns darauf konzentrieren, desto weniger sind wir in der Lage, unsere Aufmerksamkeit auf andere, alternative Reize oder Aufgaben zu lenken. Wenn wir beispielswiese eine Zeitung lesen, um die neuesten Nachrichten zu verfolgen, wird es uns schwerfallen, dass wir uns parallel auf unsere Lieblingsmusik konzentrieren. Allerdings können Menschen ihre Aufmerksamkeitsressourcen auch auf verschiedene Quellen verteilen, vor allem wenn nur ein Kanal semantisch verarbeitet, das bedeutet, sinngemäß verstanden werden muss.
Ressourcenbegrenzung und Ressourcenallokation
Die Ressourcenbegrenzung erklärt eine Reihe von Phänomenen der Rezeptionsforschung. Beispielsweise untersuchen Studien, ob Humor in politischen Botschaften (z. B. in politischen Reden oder in einer Late Night Show) das Lernen von politischen Informationen erhöht oder verringert (vgl. Matthes, 2013). Aus der Humorforschung ist bekannt, dass das Verstehen von Humor kognitive Kapazitäten bindet. Wenn andere Menschen einen Witz erzählen, kommt es oft vor, dass man sich auf die Pointe konzentrieren muss, um den Witz zu verstehen. Die Studie von Young (2008) zeigt, dass Humor in politischen Botschaften dazu führen kann, dass die Rezipienten mehr kognitive Ressourcen auf das Verständnis des Humors lenken und daher weniger stark die Argumente prüfen und auch behalten können. Dies kann dazu führen, dass Humor die Überzeugungskraft von Botschaften erhöht, da er eine kritische Prüfung der Botschaft unterbindet.
Die amerikanische Forscherin Lang hat viele Erkenntnisse zur Ressourcenbegrenzung aufgegriffen und summarisch in einem Modell, dem Limited Capacity Model of Motivated Mediated Message Processing, zusammengefasst und auf Medien angewandt (vgl. Lang, 2000, 2006). Das Modell geht wie auch andere Ansätze der kognitiven Psychologie davon aus, dass Menschen nur eine limitierte Kapazität für die Verarbeitung, Speicherung und den Abruf von Informationen zur Verfügung haben. Wir verwenden bei der Medienrezeption nur jeweils so viel Energie, wie nötig ist, um das Rezeptionsziel zu erreichen. Dabei können wir gezielt Ressourcen auf bestimmte Medienstimuli lenken (beispielsweise bei hohem persönlichem Interesse für eine Information), oder wir reagieren automatisch mit Ressourcenallokation auf mediale Reize (beispielsweise bei emotionalen oder potenziell bedrohlichen Inhalten). Wichtig an dem Modell ist, dass es die Ressourcenbegrenzung auf alle Stufen des Informationsverarbeitungsprozesses bezieht, also auf die Aufnahme, die Speicherung und den Abruf. Je mehr Energie auf einer Stufe verwendet wird, desto weniger ist für die anderen Stufen verfügbar. Und je geringer die insgesamt eingesetzten Ressourcen sind, desto eher kann es sein, dass die Ressourcen für einen der Prozesse nicht ausreichen. Das Modell unterscheidet ebenfalls in Anlehnung an psychologische Modelle zwei motivationale Systeme, ein Annährungs- und ein Vermeidungssystem. Die Idee ist, dass eines der beiden Systeme oder beide zusammen automatisch bei der Medienrezeption aktiviert werden. Sie bestimmen mit, wie viel Ressourcen bei der Rezeption bereitgestellt werden. Je mehr das Annährungssystem angesprochen wird, desto mehr Ressourcen werden auch bereitgestellt. Wird das Vermeidungssystem aktiviert, werden mehr Ressourcen dafür verwendet, Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen, um auf die negative Information zu reagieren. Gleichzeitig werden negative Informationen abgespeichert, um sich auf zukünftige negative Situationen vorzubereiten. Mit dem Modell kann beispielsweise erklärt werden, warum reizarme Medienbotschaften besser verstanden und verarbeitet werden als hoch komplexe Inhalte. Auch Botschaften, die eine starke Orientierungsreaktion auslösen (z. B. Erotik in der Werbung) verbrauchen viele Ressourcen, wodurch weniger Energie für Speicherung und Abruf verwendet werden kann.
2.3 Informationsverarbeitung: Speicherung und Abruf
Bisher haben wir erklärt, welche Informationen bei der Rezeption wahrgenommen werden bzw. worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Nun wenden wir uns der Frage zu, wie die wahrgenommenen Informationen abgespeichert und abgerufen werden können.
2.3.1 Gedächtnis als assoziatives Netzwerk
Bereits weiter oben haben wir die Grundfunktionsweise unseres kognitiven Apparates kennengelernt. In der Kognitionspsychologie wird das Langzeitgedächtnis des Menschen als assoziatives Netzwerk verstanden (vgl. Higgins & Brendl, 1995). Die Gedächtnisinhalte sind untereinander durch sogenannte Assoziationen (auch assoziative Bahnen genannt) verbunden. Wenn ein bestimmter Gedächtnisinhalt aufgerufen wird, nennen wir ihn aktiviert. Damit gelangt die Information vom Langzeitgedächtnis in den Arbeitsspeicher. Diese Aktivierung bezieht sich aber nicht nur auf diesen einen Inhalt, sondern kann sich in weiterer Folge zu verbundenen Inhalten ausbreiten. Dies nennt man Aktivierungsausbreitung. Je stärker dabei die Verbindung zwischen zwei Gedächtnisinhalten ist, desto stärker werden sie jeweils mitaktiviert, sobald ein Inhalt aktiviert wurde. Beispielsweise aktiviert ein Nachrichtenbeitrag das Konzept Arbeitslosigkeit. Bei einigen Rezipienten ist der Begriff Arbeitslosigkeit im Gedächtnis mit dem Begriff neue Bundesländer vernetzt. Folglich wird der Begriff neue Bundesländer automatisch mitaktiviert.
Die Aktivierung von Gedächtnisinhalten hängt von zwei Aspekten ab (vgl. Higgins & Brendl, 1995; Peter, 2002): Zum einen von der Häufigkeit, mit der ein Inhalt in der Vergangenheit aktiviert wurde und zum anderen vom zeitlichen Abstand, mit dem der Inhalt zuletzt aufgerufen wurde. Je kürzer der Abstand, desto stärker die Aktivierung. Daraus folgt auch, dass die Inhalte umso stärker dauerhaft bzw. chronisch verfügbar sind, je häufiger sie aktiviert werden. Chronisch