Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic

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Medienrezeptionsforschung - Helena Bilandzic


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Schweiger, 2007, S. 17 f.). Der Wandel hin zur Networked Society und zur Medienkonvergenz verlangt von der Rezeptionsforschung auch Antworten auf andere Phänomene der medialen Rezeption, etwa zu virtuellen Welten, Avataren, Computerspielen, Musik, Film oder Internet-Diensten. Inhalte fließen zudem crossmedial und über Genres hinweg, so dass eine Isolation einzelner medial vermittelter Inhalte zuungunsten anderer nicht zielführend ist.

      Unter der Lupe: Reception = Rezeption?

      Reception Studies im Englischen und der deutsche Begriff der Rezeptionsforschung klingen ähnlich, dahinter stehen allerdings ganz unterschiedliche Forschungstraditionen. Reception Studies ist der Name für eine ganze Reihe von Ansätzen, die sich mit der Auseinandersetzung von Publika mit Medientexten (wieder in einem umfassenden Sinne) widmen, aber in enger Verbindung mit dem Ansatz der Cultural Studies Interpretationen mit ethnographischen Methoden (d. h. kontextorientiert, kulturell eingebettet, kritisch) untersuchen (vgl. Livingstone, 1998, S. 237 f.) oder aber aus der Tradition der deutschen Rezeptionsästhetik aus der Literaturwissenschaft stammen (vgl. Sandvoss, 2011; ein umfassenderes, integratives Verständnis hingegen bei Staiger, 2005).

      In der eher amerikanisch geprägten quantitativen Rezeptionsforschung (an der sich dieses Lehrbuch auch vornehmlich orientiert) wird international der Begriff Reception für Rezeption so gut wie gar nicht verwendet. Das Gebiet wird am ehesten mit Media Processes oder Information Processing umschrieben und oft nur in Konjunktion mit der Wirkungsforschung behandelt (vgl. Nabi & Oliver, 2009) oder aber als inhaltlich abgegrenzte Unterbereiche, etwa Unterhaltung (vgl. Bryant & Vorderer, 2006), separat behandelt.

      Die Rezeptionsforschung, wie oben in der Definition geschildert, verfolgt also die theoriefundierte Erklärung und Beschreibung von Prozessen der Verarbeitung und des Erlebens von Medien und medienvermittelten Inhalten. Man kann auch sagen, dass die Rezeptionsforschung sich mit der aktiven Auseinandersetzung des Rezipienten mit der Medienbotschaft befasst. Drei Aspekte charakterisieren diese Auseinandersetzung: die subjektive Interpretation, der zeitliche Ablauf sowie eine bestimmte Intensität und Beschaffenheit.

      Subjektive Interpretation der Medienbotschaft. Die Bedeutung eines Medientextes für einen Rezipienten kann nicht aus dem Text alleine abgeleitet werden. Erst die Rezipierenden konstruieren diese Bedeutung. Der Textgehalt wird nicht eins zu eins auf den Rezipienten übertragen; Menschen müssen Bedeutungen erst konstruieren. Früh und Schönbach bringen dieses Prinzip auf den Punkt, wenn sie schreiben, dass der Stimulus (also die Medienbotschaft) keine fixe Identität hat und erst einer Bedeutungszuweisung durch den Rezipienten bedarf (vgl. Früh & Schönbach, 1982). Dies ist auch eine zentrale Annahme in kulturellen Ansätzen (vgl. Livingstone & Das, 2013). Die zugeschriebenen Bedeutungen können nicht nur vom intendierten Bedeutungsgehalt des Textes abweichen, sondern auch bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausfallen. Regelmäßigkeiten trotz dieser prinzipiell individuellen Interpretationssituation werden ebenfalls angenommen und gesucht, aber nicht nur in sozialen Faktoren, sondern in individuellen Wissensbeständen, emotionalen Befindlichkeiten, Motivationen, persönlicher Relevanz ebenso wie in den inhaltlichen und strukturellen Charakteristika der Medienbotschaft. Gerade die Untersuchung von Charakteristika der Medienbotschaft bringen der Rezeptionsforschung (bzw. der Wirkungsforschung) oft den Vorwurf des Behaviorismus (vgl. Sandvoss, 2011), der Stimulus-ResponseForschung oder der linearen Denkweise ein (vgl. Livingstone & Das, 2013). Diese Vorwürfe beruhen allerdings auf einem veralteten Forschungsstand oder einer selektiven Rezeption der Medienwirkungsforschung; man kann das Stimulus-Response-Modell durchaus auch als Mythos begreifen, den es in der Wirkungsforschung nie tatsächlich gegeben hat (vgl. Brosius & Esser, 1998). Gerade die Rezeptionsforschung geht von variierenden Interpretationen und Wahrnehmungen seitens der Rezipierenden aus; wenn es diese nicht gäbe, wäre auch die Rezeptionsforschung obsolet. Der Rezeptionsforschung geht es jedoch nicht um Idiosynkrasien (Eigenwilligkeiten von Einzelfällen), sondern darum, Muster und Regelmäßigkeiten zu entdecken. Diese Regelmäßigkeiten der Rezeption manifestieren sich in Zusammenhängen etwa mit den Merkmalen der Medienbotschaft oder aber Rezipientenmerkmalen (etwa der Persönlichkeit, den Lebensumständen, demografischen Merkmalen) bzw. dem komplexen Zusammenspiel von Botschafts- und Rezipientenmerkmalen.

      Zeit. Das zweite grundlegende Prinzip der Rezeption ist die Erkenntnis, dass alle Rezeptionsprozesse im engeren Sinne (also Verarbeiten und Erleben) einen Prozess darstellen, der während des Medienkontaktes und in der konkreten Situation, in der ein Medienkontakt stattfindet, abläuft. Die zeitliche Dimension hat in der Rezeptions- und Wirkungsforschung schon lange ihren festen Platz: So bezieht etwa das Dynamisch-Transaktionale Modell (vgl. Früh & Schönbach, 2005) die sequentiellen und simultanen Abläufe von Rezeptions- und Wirkungsprozessen explizit in die theoretischen Erwägungen mit ein; auch aus anderen Perspektiven ist der zeitliche Ablauf relevant geworden (vgl. Suckfüll, Schramm & Wünsch, 2011). In jedem Fall entwickeln sich Selektion, Verarbeitung und Erleben im Verlaufe einer Nutzungssituation weiter, sie sind nicht statisch. In speziellen Fällen ist nicht nur die Auseinandersetzung des Rezipierenden zeitlich variabel, sondern auch der Medientext selbst. Bei audiovisuellen oder auditiven Vorlagen etwa ändert sich der Stimulus selbst kontinuierlich.

      Die Verarbeitungserfahrung und das Erleben treten über die Zeit hinweg in einer bestimmten Situation auf – das hat einige wichtige methodische Implikationen. So kann etwa die empfundene Relevanz einer Fernsehdokumentation an Stellen in der Sendung, in denen es um Frauen geht, für eine Zuschauerin besonders intensiv sein, an anderen Stellen aber weniger intensiv (dynamischer Prozess). Erhoben wird die Relevanz aber in einem Gesamturteil nach der Rezeption (statisches Urteil). Daher ist die Rezeption am besten in der Situation selbst zu erheben, idealerweise prozessbegleitend. Nicht immer ist das möglich, aber eine minimale Voraussetzung ist, dass der Stimulus recht kürzlich wahrgenommen wurde. Deshalb (und wegen der Suche nach Kausalität) ist in der Rezeptionsforschung oft ein experimentelles Setting zu finden. Je weiter entfernt die Erfahrung von der Erhebung, umso eher erfasst man Vorstellungen und Rationalisierungen der eigenen Erfahrung.

      Intensität und Beschaffenheit. Die dritte Beschreibungsebene stellt im Gegensatz zu den ersten beiden Kriterien kein konstantes Merkmal dar, das alle Auseinandersetzungen mit dem Medientext gleichermaßen charakterisiert. Vielmehr können die Kriterien Intensität und Beschaffenheit das konkrete Rezeptionserleben in Kombination beschreiben. Intensität bezeichnet dabei die Stärke des Erlebens und der Verarbeitung. Beispielsweise kann die Immersion in eine Geschichte in ihrer stärksten Ausprägung dazu führen, dass eine Person an einer Haltestelle ihren Bus verpasst, weil sie so vertieft ist, dass sie die Geräusche und Bewegungen aus der Umwelt ausblendet. In ihrer schwächsten Ausprägung versteht ein Leser zwar eine Geschichte, kann sich auf das Buch aber nicht einlassen. Beschaffenheit drückt diskrete innere Zustände aus (d. h. voneinander qualitativ unterschiedliche Zustände). Sie kann sich unterschiedlich äußern, etwa in Bezug zum eigenen Leben und Erfahrungen, in der Emotionalität, oder durch einen Bezug auf Personen im Medientext.

      Die zwei Kriterien Interpretation und Zeit stellen so etwas wie Vorbedingungen dar, den Akt der Mediennutzung als Rezeption zu betrachten: als einen Prozess, in dessen Verlauf die Interpretation der Medienbotschaft entscheidender ist als der objektiv feststellbare Gehalt und der mindestens während der Zeit abläuft, die jemand braucht, um sich mit dem Medientext auseinanderzusetzen. Das dritte Kriterium, die Intensität und Beschaffenheit, drückt das Streben aus, die Verarbeitungsund Erlebensweisen zu klassifizieren und Ursachen wie auch Konsequenzen zu erklären. Dass also Medienrezeption Interpretation im Zeitverlauf darstellt, wird in der Rezeptionsforschung vorausgesetzt; die Kapitel dieses Lehrbuches behandeln dann theoretische Modelle und empirische Forschung zur Beschaffenheit und Intensität von Rezeptionserleben.

      Die Medienrezeptionsforschung befasst sich mit der Verarbeitung und dem Erleben von Medien und medienvermittelten Inhalten. Auch in einer veränderten Medienlandschaft, in der einem Laien sowohl die Rezeption als auch die Produktion und Verbreitung von Medieninhalten möglich sind, kann und muss Audiencing (Als-Publikum-Agieren) theoretisch beschrieben und empirisch untersucht werden und ist zentraler Gegenstand der Rezeptionsforschung. Wir sehen die Rolle des Publikums demnach nicht als statisches, sondern als variables, situatives und handlungsabhängiges


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