Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic

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Medienrezeptionsforschung - Helena Bilandzic


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wenn sie vernetzte Informationen ausschöpfen und andererseits auch selbst Inhalte produzieren und bereitstellen (vgl. Jenkins, 2006).

      Computer und Mobiltelefon ermöglichen den Zugang zum Internet und damit auch den Zugang zu den dort angebotenen Varianten der traditionellen Massenmedien Fernsehen, Hörfunk und Zeitung. Beim Internet kann man noch einmal unterscheiden nach den verschiedenen Diensten (z. B. Onlinenachrichten, Blogs, Wikis, Computerspiele, soziale Netzwerke, Streams, Podcasts). Auch wird Inhalt zunehmend nicht nur für ein Massenmedium produziert, sondern crossmedial über verschiedene Medien (und Dienste) hinweg. Dadurch rücken die tatsächliche technische Plattform in den Hintergrund und die Inhalte, die Erlebensweisen und die Praktiken in den Vordergrund (d. h., das, was die Rezipienten tun, vgl. Konzept des Kommunikationsmodus, Hasebrink, 2004). Fernsehen wird beispielsweise immer noch über konventionelle Fernsehgeräte empfangen; immer mehr Nutzer sehen jedoch auch auf ihrem Computer fern, über eine TV-Karte oder nutzen gezielt Sendungen, die sie auf den Webseiten der Fernsehsender vorfinden. Fernsehen bedeutet dann nicht, dass man den Fernseher anschaltet, sondern dass man den Dienst Fernsehen in Anspruch nimmt, egal, ob über ein konventionelles Fernsehgerät, den Computer oder das Mobiltelefon.

      Es wäre allerdings falsch zu sagen, dass das technische Medium keine Rolle mehr spielt. Die Tätigkeit (z. B. das Sehen eines Fernsehprogramms oder Lesen eines Nachrichtenartikels) mag im Kern über Medien hinweg die gleiche sein; die technischen Möglichkeiten jedoch erlauben auch andere Nutzungsweisen (z. B. erlaubt ein Digitalrecorder zeitversetztes Fernsehen) und andere Erlebensweisen (z. B. ermöglicht ein großer Bildschirm ein intensiveres Vertiefen in einen Film als ein Smartphone-Display). Umgekehrt regen auch veränderte Nutzungsweisen die Entstehung neuer Angebote und technischer Möglichkeiten an (z. B. richten viele Fernsehsender wegen der Beliebtheit sozialer Netzwerke Angebote für die eigenen Produkte ein).

      Konvergenz hat auch zur Folge, dass sich die typische massenmediale Kommunikationssituation auflöst. Massenkommunikation und Individualkommunikation finden nun im gleichen Medium statt; die grundlegenden Akte des Konsums können deutlich stärker variieren als früher (vgl. Couldry, 2011, S. 219). Eine der Kernveränderungen, die die heutige Medienlandschaft erfahren hat, ist die unkomplizierte Möglichkeit für den nicht-professionell medienproduzierenden Menschen, eigene Inhalte ins Netz zu stellen und bestehende durch eigene Verknüpfungen zu vernetzen (vgl. Carpentier, 2011b; Engesser, 2013; Livingstone, 2012). Dies sorgt für eine Auflösung der traditionellen Rollen von Kommunikator und Rezipient, insbesondere durch die Aufhebung der Einseitigkeit und Linearität, die noch in Maletzkes (1963) Definition von Massenkommunikation zentral war. Die Implikationen für den Blick auf Information, Gemeinschaft und vor allem die Machtverhältnisse zwischen Laienproduzenten und professionellen Medienproduzenten, ja für Öffentlichkeit insgesamt, sind enorm – von der Audience Autonomy als Kontrolle der Nutzer über den eigenen Medienkonsum (vgl. Napoli, 2011, S. 8 ff.) bis hin zu einer neuen, stärkeren, von unten geformten Öffentlichkeit (vgl. Carpentier, 2011a; Dahlgren, 2011).

      1.3.2 Publikum und Als-Publikum-Agieren

      Die massenkommunikative Situation, in der viele Menschen mit den gleichen, zentral und professionell produzierten Inhalten erreicht werden können, wird also ergänzt von einer Situation, in der Inhalte dezentral produziert und unter Gleichgestellten verbreitet werden (vgl. Ridell, 2012, S. 19). Menschen können dabei zugleich Rezipienten und Produzenten sein. Dies hat dazu geführt, dass bisweilen das Publikum als tot proklamiert wurde (vgl. Bruns, 2008, S. 254), und andere Termini für Rollenbeschreibungen vorgeschlagen wurden, etwa Nutzer (user), oder Produser (als Wortneuschöpfung zwischen Producer und User, vgl. Bruns, 2008).

      Die neue Terminologie hat jedoch auch ihre Schwächen: Livingstone (2012) legt dar, dass User im Gegensatz zu Publikum keinen Bezug mehr zur sinngenerierenden Tätigkeit des Publikums hat: Lesen, Sehen und Hören von Text und Bildern muss im Gebrauch durch den Rezipienten in der Bedeutung entschlüsselt werden. Nutzen hingegen kann man auch Waschmaschinen, Bohrer und Autos – hier steht keine sinngenerierende Tätigkeit im Vordergrund. Zudem, so Livingstone, wird das Publikum beim Ersatz durch User individualisiert, so dass die Gemeinsamkeit, der kollektive und öffentliche Charakter verloren gehen (vgl. Livingstone, 2012). Der Begriff des Publikums ist immer noch funktional und notwendig. Die Forderung, ihn zu ersetzen, ist von einer Überschätzung der Onlinemedien getragen: Zum einen tragen auch bei partizipativen Online-Medien längst nicht alle Menschen zur aktiven Contentproduktion bei – die klassischen Publikumsaktivitäten Lesen, Sehen und Hören sind auch hier dominant (vgl. Carpentier, 2011b). Zum anderen sind nach wie vor die traditionellen Massenmedien ein wichtiger Bestandteil im Medienrepertoire von Menschen: Das Radio wird derzeit im Durchschnitt 199 Minuten pro Tag gehört (vgl. Rühle 2014) und das Fernsehen 221 Minuten pro Tag gesehen (vgl. Zubayr & Gerhard, 2014).

      Auch die hybride Kategorie des Produser ist trotz einer oberflächlichen Plausibilität problematisch: Sie lässt die Unterschiede zwischen den beiden Tätigkeiten Nutzung und Produktion verschwimmen – Tätigkeiten, die natürlich immer noch getrennt ablaufen und die sich fundamental voneinander unterscheiden. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma ist es, die Tätigkeit und nicht die Rolle zu betonen. Ein Mensch gehört nicht beständig zum Publikum, sondern nur dann, wenn er oder sie als Publikum agiert. Fiske (1992) hat lange vor der Existenz des Web 2.0 vorgeschlagen, Abstand vom Substantiv »Audience« zu nehmen und stattdessen das Verb »to audience« (als Publikum agieren) zu verwenden. Der Modus des Audiencing besteht demnach in der Auseinandersetzung mit bereits produzierten Materialien, eines kulturellen Produktes oder einer Medienrepräsentation; der Modus des Producing besteht darin, diese Materialien herzustellen (vgl. Ridell, 2012, S. 20).

      Ridell (2012) schlägt vor, die beiden Handlungsmodi Audiencing und Producing (definiert durch bestimmte typische Aktivitäten und je spezifische strukturelle Bedingungen) analytisch strikt voneinander zu trennen, aber im Kontext eines übergreifenden, medienbezogenen Handlungsprojektes zu sehen. So beginnt eine Beschäftigung mit Wikipedia oft mit der Absicht, Informationen über ein Thema nachzuschlagen (Audiencing); wenn ein Problem oder ein Fehler mit dem Inhalt entdeckt wird, kann ein Mensch motiviert werden, diesen Fehler durch eigene Hinzufügungen oder Korrekturen zu beseitigen (Producing). Ridell argumentiert nun dafür, diese Handlungen nicht als eine einzelne hybride Tätigkeit zu betrachten, sondern als eine Abfolge von aufeinander bezogenen, aber unterscheidbaren Handlungen in jeweils verschiedenen Handlungsmodi (vgl. Ridell, 2012, S. 23 f.).

      Ähnlich wie im Konzept des Audiencing hat auch bereits Maletzke (1963) die Tätigkeit in den Vordergrund gestellt: die Zuwendung zu einem massenmedial vermittelten Inhalt. Heute würde man den Akzent weniger auf die massenmediale Vermittlung legen, sondern eine mediale Vermittlung zur Bedingung machen: Jemand gehört dann zum Publikum, wenn er oder sie handelt wie ein Publikum (also produzierten Inhalt nutzt, wahrnimmt und interpretiert). In konvergenten Medienumgebungen ändert sich im Prinzip nichts an diesem Grundsatz; das technische (tertiäre) Medium mag heute variabel sein, aber die Vermittlungsmedien, die primären und sekundären Medien (Text, Bild, Ton), bleiben die gleichen und müssen vom Rezipienten auch als solche verarbeitet werden.

      Damit können wir auch den Gegenstand dieses Lehrbuches näher fassen und auf die Prozesse des Audiencing, des Als-Publikum-Agierens, eingrenzen. Bei uns geht es also nicht um den Modus der Produktion, sondern um den Modus der Rezeption. Auch wenn diese beiden Modi in der Realität häufig zusammen auftreten und sich in einem übergeordneten Handlungsprojekt (z. B. Wiki-Nutzung, vgl. Ridell, 2012) realisieren können, kann man diese Prozesse auf einer analytischen Ebene trennen, um sie im Detail zu durchleuchten und zu beschreiben. Wir behandeln die Mikroprozesse, die beim Audiencing über Medienplattformen hinweg im Prinzip ähnlich funktionieren: Verarbeiten von Sinn in Text und Bild, Aufmerksamkeit, Mitfühlen, Spannung erleben, Relevanz verspüren oder Medienpersonen wahrnehmen.

      Gegenstand der Medienrezeptionsforschung

      Medienrezeptionsforschung beschäftigt sich mit Phänomenen des Audiencing, des Als-Publikum-Agierens. Sie erklärt Prozesse der Verarbeitung und des Erlebens von medial vermittelten Inhalten in allen Medien, bei allen Themen und bei Texten jeder Genese (etwa professionelle oder Laienproduktion).

      Dabei wird unser Medienspektrum nicht auf Massenmedien, professionell produzierte Inhalte oder Inhalte von politisch-gesellschaftlicher oder


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