Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic
Читать онлайн книгу.vorgeordnete Rolle.
Zudem unterscheidet man vereinfacht das semantische und das episodische Gedächtnis (vgl. Anderson, 2001; Renkl, 2009). Im semantischen Gedächtnis sind Informationen wie Wissen, Konzepte oder Definitionen abgespeichert. Beispielsweise das Wissen, wie eine Fernsehsendung aufgebaut ist und abläuft. Im episodischen Gedächtnis sind dagegen Erlebnisse oder Erfahrungen abgebildet, die aber nicht nur die eigene Person betreffen müssen. Beispielsweise können Rezipienten Informationen abrufen, welche Handlungen in einem Krimi vollzogen wurden oder was man selbst während der Rezeption gemacht hat. Neben dem semantischen und dem episodischen Gedächtnis unterscheidet man noch das metakognitive Gedächtnis, das Wissen über das Wissen (meist über eigene Personenmerkmale oder Vorgehensweisen) beinhaltet (ausführlicher vgl. Renkl, 2009).
Merksatz
Das semantische Gedächtnis beinhaltet Informationen wie Wissen, Konzepte oder Definitionen. Hingegen werden im episodischen Gedächtnis Erlebnisse oder Erfahrungen abgebildet.
Das bedeutet zusammengefasst: Semantische oder episodische Wissenseinheiten werden im Gedächtnis abgespeichert und können bei ihrer Aktivierung automatisch verwandte Wissenseinheiten aktivieren. Manche Wissenseinheiten sind chronisch verfügbar und damit ist grundsätzlich die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie aufgerufen werden. In der Kognitionsforschung gibt es eine Reihe von Vorstellungen, wie Gedächtnisinhalte organisiert und abgespeichert sind. Wichtige Konzepte und Ansätze sind dabei die Schema-Theorie, der Konnektionismus sowie mentale Modelle, die wir in den nächsten drei Abschnitten kennenlernen werden.
2.3.2 Schemata
Eine prominente These der Kognitionsforschung besagt, dass unser Wissen in Form von Schemata organisiert ist (vgl. im Folgenden Matthes, 2004). Der Begriff Schema bzw. Schemata (Mehrzahl) wurde von Bartlett (1932) in die psychologische Forschung eingeführt. Bartlett untersuchte die Erinnerungsleistung von Versuchspersonen bei der Reproduktion einer indianischen Volkssage. Dabei stellte er fest, dass die Versuchspersonen zahlreiche Einzelheiten wegließen und stattdessen die Sage gemäß ihrer eigenen Erwartungen modifizierten. Aus diesen Ergebnissen schloss Bartlett auf generische Wissensstrukturen, sogenannte Schemata, die für die Fehler in der Reproduktion verantwortlich sind.
Vereinfacht ausgedrückt ist menschliches Wissen gemäß der Schema-Theorie ähnlich wie in einem Schubladensystem organisiert: Prinzipiell gibt es unendlich viele Schubladen, da es für jede Situation, Objekt etc. ein Schema gibt. Im Prozess der Informationsverarbeitung wird entweder eine Schublade geöffnet – was wiederum zum Öffnen von verknüpften Schubladen führen kann – oder alle Schubladen bleiben geschlossen, d. h. die Information wird nicht verstanden. In diesem Fall können auch neue Schubladen gebildet werden. Schemata sind also vorstrukturierte, relativ stabile Wissenspakete, die aktiviert oder nicht aktiviert werden. Wenn es sich um Handlungsabläufe handelt, nennt man diese Skripts (z. B. ein Skript für einen typischen Fernsehabend).
Definition: Schemata
Schemata sind strukturierte, relativ stabile Wissenskomplexe der Rezipienten. Sie umfassen Wissen über Ereignisse, Abläufe, Situationen und Objekte und sind untereinander durch ein Netz von Assoziationen verbunden.
Schemata sind an zwei Stellen des Informationsverarbeitungsprozesses relevant (vgl. im Folgenden Rumelhart, 1980; Taylor & Crocker, 1981): Trifft eine Information auf das Informationsverarbeitungssystem, wird zunächst das Schema identifiziert, welches am besten auf die einströmende Information passt. Diese Phase der Schema-Identifikation haben wir bereits als Bottom-up-Informationsverarbeitung kennengelernt. Welches Schema identifiziert wird, bestimmt, ob und wie diese Information verstanden und eingeordnet wird. Des Weiteren steuert ein einmal identifiziertes Schema die Verarbeitung der kommenden Information und auch die Aktivierung von verknüpften Schemata. Diese Phase entspricht der Top-down-Informationsverarbeitung und macht den eigentlichen Kernbereich der Schema-Theorie aus (vgl. Schwarz, 1985, S. 277 f.). Ferner weisen Schemata eine pyramidale Struktur auf und sind untereinander durch ein Netz von Assoziationen verbunden (vgl. Fiske & Taylor, 1991; Rumelhart, 1980; Taylor & Crocker, 1981). Dies wurde ebenso mit dem Netzwerkcharakter des menschlichen Gedächtnisses bereits beschrieben.
Beispiel
Wie verstehen Sie folgenden Satz? »Glücklicherweise hatte er seinen Ausweis dabei und musste daher weniger bezahlen.«
Wahrscheinlich haben Sie an die Mensa oder einen anderen Ort gedacht, bei dem Sie mit Ihrem Studentenausweis eine Ermäßigung bekommen. Vielleicht haben Sie aber auch an etwas anderes gedacht. In jedem Fall trifft zu, dass Sie den Satz nur verstehen konnten, wenn Sie ein passendes Schema aktiviert haben. Dies ist die Phase der Schema-Identifikation. Das aktivierte Schema bestimmt, wie Sie den Satz verstehen. Das heißt aber auch, dass Sie den Satz nicht verstehen können, wenn Sie kein passendes Schema aktivieren. Folgt auf diesen Satz ein zweiter Satz, werden Sie den zweiten Satz vor dem Hintergrund des aktivierten Schemas interpretieren. Dies entspricht der Phase der konzeptgesteuerten Informationsverarbeitung.
Schema-theoretische Argumentationen finden sich bis heute in zahlreichen kommunikationswissenschaftlichen Forschungsfeldern, so in der Nachrichtenforschung, in der Forschung zu Genres und Gattungen, in der kognitiven Filmpsychologie, im dynamisch-transaktionalen Ansatz sowie auch in der Agenda-Setting-Forschung und in der kommunikationswissenschaftlichen Framing-Forschung. Besonders die einzelnen Funktionen von Schemata haben sich für die kommunikationswissenschaftliche Forschung als sehr relevant erwiesen. Diese werden wir im nächsten Abschnitt kennenlernen.
Funktionen von Schemata
Schemata haben drei eng verknüpfte Funktionen (Matthes, 2004):
Entlastungsfunktion,
Strukturierungsfunktion und
Ergänzungsfunktion.
Erstens entlasten Schemata das Informationsverarbeitungssystem (Entlastungsfunktion), da durch den Rückgriff auf ein Schema nicht jeder Stimulus neu und umfassend verarbeitet werden muss. Rezipienten können so eine Fülle von massenmedial vermittelten Informationen aufnehmen, schnell verstehen und effizient einordnen (vgl. Brosius, 1991). Eine zweite Funktion von Schemata besteht in der Strukturierung von Erfahrungen. Dies nennt man die Strukturierungsfunktion. Wie bereits angeschnitten wurde, weisen einmal aktivierte Schemata den danach eintreffenden Informationen eine Bedeutung zu. Die neu eintreffenden Informationen werden in das Schema eingeordnet und damit auch gemäß dem bereits bestehenden Schema strukturiert (vgl. Taylor & Crocker, 1981, S. 97). Mit anderen Worten, ein Schema ist gewissermaßen die Brille, durch die die Mediennutzer das aktuelle Geschehen verfolgen – sie strukturieren die Medieninformationen genauso, wie die bereits bestehenden Schemata strukturiert sind. Diese strukturierende Funktion ist die Basis für schema-induzierte Erinnerungsleistungen. Damit ist gemeint, dass die Informationen, die dem eigenen Schema entsprechen, einfacher und schneller erinnert werden als schema-irrelevante Informationen (vgl. Taylor & Crocker, 1981).
Schemata sind aber nicht nur für Erinnerungslücken verantwortlich, sondern auch für Ergänzungen. Personen fügen systematisch Informationen hinzu, die nicht Teil des ursprünglichen Stimulus sind. Minsky (1975) führt in diesem Zusammenhang den Begriff der Standardwerte (default options) ein. Ist beim Abgleich von Schema und Stimulus ein schema-konstituierendes Element nicht im Stimulus vorhanden, führt dies nicht notwendigerweise zum Misfit, sondern es werden Standardwerte eingesetzt, wie sie in ähnlichen Situationen vorkommen. Würde man beispielsweise einer Versuchsperson einen Arzt beschreiben und die Person anschließend bitten, die Beschreibung wiederzugeben, könnte es sein, dass die Versuchsperson einen weißen Kittel erwähnt, obwohl dieser nicht Teil der ursprünglichen Beschreibung war. Derartige Ergänzungen ermöglichen eine sinnvolle Kontextualisierung von Informationen. Dies ist die dritte Funktion von Schemata, die Ergänzungsfunktion.
Diese drei Funktionen von Schemata erklären, wie die Rezipienten bei der Medienrezeption Wissen über Themen, Personen, Objekte oder Sachverhalte verarbeiten bzw. abspeichern (vgl. z. B. Conover & Feldman, 1984; Miller, Wattenberg & Malanchuk, 1986). Ist ein Schema vorhanden, kann die Information schnell und effizient eingeordnet und verarbeitet werden. Diese Argumentation findet sich beispielsweise in Forschungsarbeiten zur Nachrichtenrezeption: Schemata ermöglichen den