Wörterbuch zur Sicherheitspolitik. Ernst-Christoph Meier
Читать онлайн книгу.positiv gesehen. In dieser Epoche war Deutschland wie keine andere Nation existenziell auf den Beistand der Verbündeten angewiesen, der ihm auch in hohem Maße (Britische Rheinarmee, zwei US Korps, belgisches und niederländisches Korps, kanadische Brigade, dazu die amerikanische, britische und französische Präsenz als Schutzmacht in Berlin) über Jahrzehnte zuteilwurde. Die eigenen Verteidigungsbeiträge Deutschlands waren verglichen mit den heutigen gigantisch: Deutschland stellte mit 12 voll einsatzbereiten Heeresdivisionen (derzeit zwei, nicht einsatzbereit) und 36 Kampfbrigaden (derzeit: 6, nicht vollständig einsatzbereit) sowie entsprechenden Luft- und Seestreitkräften etwa die Hälfte der konventionellen Kampfkraft der NATO in Europa. Die Bundeswehr zählte zu den anerkannt bestausgebildeten, bestausgerüsteten und am besten geführten Streitkräften der Allianz. Dafür wandte die Bundesrepublik in den 60er-Jahren über 5 %, in den 70er-Jahren über 4 %, in den 80er-Jahren über 3 % ihres BIP auf. Erst in den 90er-Jahren sank der Verteidigungshaushalt zwecks »Friedensdividende« auf unter 2 % ab.
b. 1990er-Jahre: Treibende Kraft bei Stabilitätstransfer nach Osten und Krisenmanagement auf dem Balkan
Nach dem Ende des Kalten Krieges verlagerte sich in den 1990er-Jahren der geostrategische Fokus auf sicherheitspolitische Herausforderungen für Europa in immer größeren Entfernungen in südöstlicher Richtung: auf den Balkan ( IFOR, SFOR), den Nahen und Mittleren Osten (UNIFIL), bis hin nach Zentralasien ( ISAF). Dabei wurde Deutschland, das nun ausschließlich von befreundeten, verbündeten, demokratischen Nachbarstaaten umgeben und selbst keiner territorialen Bedrohung mehr ausgesetzt war, von einer unterstützten zu einer unterstützenden Nation. Als nunmehr uneingeschränkt souveräne, mittelgroße europäische Nation musste es in der Außen-, Sicherheits- und Bündnispolitik eine neue Rolle ausfüllen. Statt der vormaligen Ausrichtung ausschließlich auf Landes- und Bündnisverteidigung im eigenen Land sah es sich veranlasst, im eigenen Interesse an Stabilität und Frieden in Europa nun – ähnlich wie Großbritannien und Frankreich – Kontingente von Expeditionsstreitkräften auf immer weiter entfernte Schauplätze zu entsenden. Während in der deutschen Öffentlichkeit das Wunschbild einer geläuterten »zivilen Friedensmacht«, einer »Kultur der militärischen Zurückhaltung« und eine auf »soft power« und Vermittlung fokussierte Rolle die deutsche Sicherheitspolitik prägten, sah sich Deutschland im Bündnis beständig mit steigenden Erwartungen an militärische »hard power« und an Bereitschaft konfrontiert, sich auch an »robusten« Einsätzen entsprechend Deutschlands politischem Gewicht und seiner hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als größte und reichste Wirtschaftsmacht Europas zu beteiligen. Fortan versuchten alle Bundesregierungen, im Spagat zwischen dem heimischen Selbstverständnis und den Erwartungen der Verbündeten, das unabdingbar Notwendige zu leisten, dabei aber mit möglichst begrenzten militärischen Beiträgen, möglichst niedrigen Verteidigungslasten und möglichst geringem Risiko bei Einsätzen auszukommen.
Das Hauptaugenmerk der deutschen Bündnispolitik lag in diesen ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges auf dem Vollzug der deutschen Einheit: Auflösung der Nationalen Volksarmee, Aufnahme von Personal und Material und Stationierung der Bundeswehr in den neuen Bundesländern (»Armee der Einheit«), der Einlösung der eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen (KSE-Vertrag), Flankierung des bis 1994 vollzogenen Abzugs der russischen Streitkräfte aus Deutschland mittels umfangreicher Finanzhilfen. Darüber hinaus war Deutschlands Bündnispolitik auf die Förderung des von NATO-Generalsekretär Manfred Wörner vorangetriebenen »Stabilitätstransfers nach Osten«, die maßvolle Handhabung der Politik der offenen Tür und eine für Russland verträgliche Partnerschaft als Begleitstrategie gerichtet. Zugleich begann auf dem Balkan schrittweise die operative Teilnahme Deutschlands an den erfolgreichen NATO-Missionen IFOR, SFOR und KFOR und die Transformation der Bundeswehr zur »Armee im Einsatz«.
Bei der politischen und militärischen Transformation der NATO von 1990 bis 2013 musste Deutschland unter allen Verbündeten politisch und gesellschaftlich den weitesten Weg gehen, von der ausschließlichen Konzentration auf Abschreckung und Landesverteidigung mit statischem Kräftedispositiv hin zur Teilnahme an militärischen Einsätzen zur Krisenbewältigung, und die nötigen gesellschaftlichen, verfassungsrechtlichen und politischen Veränderungen vornehmen. Die Bundeswehr stellte in einem zügigen Lernprozess in den Einsätzen am Rande des Ersten Golfkrieges 1990, auf dem Balkan seit 1995 und in Afghanistan seit 2003 ihre hohe Leistungsfähigkeit im Bereich Stabilisierung und Wiederaufbauunterstützung unter Beweis. Sie lernte seit den Luftkriegsoperationen der NATO gegen Milosevics Serbien 1999 und der Aufstandsbewältigung auch in ihrem Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans seit 2008, sich auch in Gefechten und schweren Kämpfen mit gegnerischen Kräften und Aufständischen in gleicher Weise zu bewähren wie andere Nationen. Auch Politik und Gesellschaft in Deutschland haben gelernt, damit angemessen umzugehen. Zudem brachte Deutschland in der Regel die seiner Stellung als Hochtechnologie-Industrienation entsprechende hochwertigen militärischen Fähigkeiten und Kräfte ein, die als sog. Force Multiplier oder Critical Assets von besonderem Wert sind. Deutschland war zweitgrößter Beitragszahler zu den NATO-Haushalten (zwischen 16 und 20 Prozent beim NATO-Infrastrukturhaushalt und im Betriebshaushalt) und über Jahrzehnte zweit- oder drittgrößter Truppensteller bei den NATO-geführten Operationen zur Krisenbewältigung. Durch alle diese Leistungen gewann Deutschland vor allem in den 1990er-Jahren im Bündnis enorm an politischem Gewicht.
c. 2001–2013: Afghanistan und Terrorismusbekämpfung,»Kultur der militärischen Zurückhaltung«
Ab 2001 begann mit dem unter dem Schutz der Taliban in Afghanistan vorbereiteten Terroranschlag Al Quaidas gegen die USA, dem dabei ausgelösten erstmaligen Bündnisfall der NATO, dem nachfolgenden Krieg der USA gegen den Irak – dem sich Frankreich und Deutschland widersetzten – und der NATO-Mission in Afghanistan für die deutsche Bündnispolitik eine weitere prägende Epoche. In ihr wurde dem positiven Bild deutscher Bündnispolitik von Kritikern unter den Verbündeten entgegengehalten, Deutschland betreibe mit seiner »Kultur der militärischen Zurückhaltung« sicherheitspolitische »Trittbrettfahrerei« auf Kosten anderer, es engagiere sich nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten mit eigenen politischen und militärischen Initiativen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der Allianz. Verglichen mit den deutschen Aufwendungen für seinen Wohlfahrtstaat seien die Verteidigungsaufwendungen zu niedrig und zu stark sinkend. Trotz deutschen Drängens auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und erklärter Bereitschaft zur Übernahme größerer Verantwortung für globale Sicherheitsangelegenheiten beschränke sich diese Bereitschaft aber auf bloße Soft-Power-Aspekte. Beim Afghanistan-Einsatz (ISAF) wurde im Bündnis allgemein anerkannt, dass sich im deutschen Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans die Bundeswehr in ihren Kampfaufgaben bei der Aufstandsbewältigung (Counter Insurgency), mit amerikanischer Unterstützung, gut bewährt habe. Zugleich wurde aus dem Kreis der im Süden und Osten Afghanistans härter belasteten Nationen kritisiert, bei militärisch robusten Einsätzen habe Deutschland lange Zeit seine Beiträge allzu sehr mit Vorbehalten (Caveats) eingeschränkt.
Vor allem das Verhalten Deutschlands zum Vorgehen der Allianz in Libyen 2011 (Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Nichtteilnahme an den militärischen Operationen der NATO zur Durchsetzung einer Flugverbotszone) leistete den Zweifeln an Deutschlands politischer und militärischer Zuverlässigkeit weiteren Vorschub. Dies führte zu einer Diskussion in der sicherheitspolitischen Gemeinschaft (Strategic Community) Deutschlands. Während sich die Bundesregierung in ihrer »Kultur der militärischen Zurückhaltung« im Einklang mit dem mehrheitlichen Wunsch der Bevölkerung sah, Deutschland möge sich aus militärischen Auseinandersetzungen in Konfliktregionen heraushalten und sich auf die Mehrung seines Wohlstands durch Handel konzentrieren, mahnten die meisten führenden Persönlichkeiten und Experten der sicherheitspolitischen Gemeinschaft an, sich nicht von den engsten westlichen Verbündeten zu entfremden, keine Zweifel an der verlässlichen Bündnissolidarität Deutschlands aufkommen zu lassen und die Entwicklung europäischer Handlungsfähigkeit nicht zu gefährden.
Diese in den USA, aber ebenso bei den wichtigsten europäischen Verbündeten (Großbritannien, Frankreich) kritische Perzeption Deutschlands erschwerten die in dieser Epoche nachdrücklich angestrebte Entwicklung einer eigenständigeren sicherheitspolitischen, auch militärischen Handlungsfähigkeit Europas.