Wörterbuch zur Sicherheitspolitik. Ernst-Christoph Meier
Читать онлайн книгу.ihr Fokus in zunehmendem Maße nicht mehr auf dem Schutz Europas, sondern auf der Systemrivalität mit China und dem indopazifischen Raum liegen muss. Die europäischen Verbündeten können sich zwar weiterhin auf einen substanziellen Beitrag der USA zum Schutz Europas verlassen, und die USA werden noch auf lange Zeit die weltweit führende Land-, Luft-, See-, Raum- und Nuklearmacht bleiben. Aber die Europäer können nicht mehr darauf zählen, dass die USA beim Schutz Europas unkonditioniert die Hauptlast tragen. Seit Trump, und wohl auch unter Biden, gilt, dass die Europäer zum einen sehr viel mehr selbst zu ihrer Verteidigung in Europa und für ihre militärische Handlungsfähigkeit in Krisen an der europäischen Peripherie aufbringen müssen. Zum anderen erwarten die USA verständlicherweise, dass – im Gegenzug zu fortgesetzter amerikanischer Bündnissolidarität und militärischer Präsenz in Europa – die europäischen Verbündeten an der Seite der USA stehen, wo diese auf europäische Solidarität angewiesen sind – nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit China.
Deutsche Bündnispolitik im Zeichen geopolitischer Bedrohungen und Herausforderungen
Für die deutsche Bündnispolitik folgt aus dieser veränderten geopolitischen Weltlage, dass sich Deutschland in ganz ungewohnter Weise mit Geopolitik befassen und Sicherheits- und Verteidigungspolitik, anders als bisher, als Politikfeldern eine deutlich höhere Priorität einräumen muss.
Unbestreitbar klar ist, dass auf absehbare Zeit Europa weiterhin auf den Schutz der USA und damit auf den transatlantischen Verbund angewiesen bleibt. Aber es darf nicht in die alte Mentalität vor Trump zurückfallen, sondern muss das eigene Schicksal stärker selbst in die Hand nehmen, d. h. gemeinsam eine europäische sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit und die dafür nötigen Strukturen, Prozesse, Kräfte und Fähigkeiten entwickeln – auch und besonders im verteidigungspolitischen und militärischen Bereich.
Für Deutschland bedeutet dies: Es muss einen seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht entsprechenden Verteidigungsbeitrag für den Schutz NATO-Europas leisten; es muss seine Bündnisverpflichtungen erfüllen und seine Bündnis- und Verteidigungspolitik der neuen geopolitischen Realität anpassen. Im Kern kommt es auf drei Punkte an:
1.Der Schwerpunkt der deutschen Verteidigungspolitik und die Ausrichtung des deutschen Verteidigungsdispositivs muss in der Wiederherstellung glaubwürdiger Abschreckungs- und Bündnisverteidigungsfähigkeit der NATO gegenüber der seit 2014 wiederaufgekommenen Bedrohung durch Russland liegen. Hierbei werden die deutschen Streitkräfte in erster Linie zum Schutz Nordosteuropas, in zweiter Linie Südosteuropas benötigt.
2.Zugleich bleibt es weiterhin erforderlich, zur Wahrung von Frieden, Sicherheit und Wohlstand an Europas Peripherie an komplexen zivil-militärischen Stabilisierungsmissionen, vorzugsweise unter Führung der EU mit der NATO in unterstützender Rolle, teilzunehmen.
3.Darüber hinaus wird Deutschland eine China-Politik entwickeln müssen, bei der es gegenüber China sichtbar für die internationale regelbasierte Ordnung eintritt und u. a. das deutsche Interesse an freien See- und Handelswegen im europäischen Verbund und an der Seite der USA und der pazifischen Partnernationen mit begrenzten militärischen Aktivitäten, vorwiegend maritimer Art, als Ausdruck politischer Solidarität sichtbar demonstriert.
Bei der Anpassung des deutschen Verteidigungsdispositivs an die neuen Realitäten kann es in der Gesamtschau daher weder um eine bloße Rückkehr zum erfolgreichen Verteidigungsdispositivs des Kalten Krieges gehen, noch um ein bloßes Weiter-so auf Basis des auf zivil-militärische Stabilisierungsmissionen gerichteten »Vernetzten Ansatzes« (comprehensive approach) in »out of area«-Einsätzen der letzten Jahrzehnte, mit lediglich robusteren, in Richtung hochintensive Konfliktaustragung nachgebesserten Mitteln. Vielmehr bedarf es einer vollständigen Neugestaltung des deutschen Verteidigungsdispositivs. Dieses muss:
a.die eingetretenen geopolitischen und strategischen Veränderungen vollumfänglich berücksichtigen;
b.sich am anspruchsvollsten Kriegsbild orientieren (glaubwürdige Abschreckung und kollektive Bündnisverteidigung gegen einen nahezu gleichwertigen Gegner, hochintensive militärische Land-, Luft- und Seekriegsoperationen);
c.zugleich ermöglichen, in Friedenszeiten weiterhin angemessene Beiträge zu Stabilisierungsmissionen zu leisten;
d.die sicherheitspolitischen Implikationen der Machtentfaltung Chinas angemessen einbeziehen (Resilienz in Europa, Beiträge zur maritimen Präsenz zum Schutz der europäischen Peripherie und von Seewegen in den indopazifischen Raum, solidarische Unterstützung von westlich-demokratischen Partnernationen in der indopazifischen Region).
Mit einer solchen ausgewogenen Positionierung – in der NATO Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung in Europa mit Schwerpunkt Nordosteuropa, mit der EU weiterhin Beiträge zu zivil-militärischer Stabilisierung von Europas südlicher Peripherie, gemeinsam mit Frankreich, Großbritannien und an der Seite der USA eine begrenzte maritime Präsenz auch im indopazifischen Raum – kann Deutschland einen seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht entsprechenden Verteidigungsbeitrag leisten. Im Gegenzug für die damit einhergehende Entlastung der USA in Europa würde Deutschland erwarten können, dass die USA und ihre pazifischen Verbündeten der Herausforderung Chinas erfolgreich begegnen und damit indirekt auch deutsche Interessen schützen, ohne dass es dazu in dieser Region massiver deutscher Präsenz und Mitwirkung bedarf.
Ohne derartigen gewichtsgemäßen Beitrag Deutschlands ist weder eine erfolgreiche Verteidigungsfähigkeit Europas gegenüber der Bedrohung durch Russland gegeben, noch wäre eine europäische Selbstbehauptungsfähigkeit gegenüber der zunehmenden Herausforderung durch Chinas machtpolitisches Ausgreifen vorstellbar.
Fazit und Ausblick
Deutschland muss lernen, mit einer ungewohnten, unerwünschten und sehr zum Negativen veränderten geopolitischen Gesamtlage zurechtzukommen: Russland hat sich seit März 2014 als revisionistische Großmacht und potenzielle militärische Bedrohung NATO-/EU-Europas erwiesen. China wird mit seinem strategischen Ausgreifen (doppelte Seidenstraße, maritime Aufrüstung) zur Großmacht mit Weltmachtambitionen. Die europäische Schutzmacht USA fokussiert sich zunehmend auf eine mögliche Auseinandersetzung mit China um die führende Weltmachtrolle; ihre Priorität liegt auf dem indopazifischen Raum, nicht mehr auf Europa. Es gibt deutliche Anzeichen für eine zunehmende strategische Zusammenarbeit Russlands und Chinas, darüber hinaus mit Nordkorea, Syrien, Iran. Anfänge einer antiwestlichen Gegenallianz? Zugleich erleben wir eine Krise des Westens: in den USA »America first«, in Deutschland »Kultur der militärischen Zurückhaltung«, in Großbritannien »Brexit«, in Osteuropa illiberale Demokratien – ist dies der Anfang vom Ende des euro-atlantischen Zusammenhalts?
In diesem neuen geopolitischen Umfeld gilt es unverändert, wie bereits im Weißbuch 2006 betont, am engen, in der NATO institutionalisierten transatlantischen Verbund mit den USA festzuhalten und den hohen Stellenwert der NATO für Deutschland und Europa zu bewahren: »Die Nordatlantische Allianz bleibt Kernstück unserer Verteidigungsanstrengungen. Bündnissolidarität und ein verlässlicher, glaubwürdiger Beitrag zur Allianz sind Teil deutscher Staatsräson. Die militärische Integration und die wechselseitige politische Solidarität mit unseren Partnern garantieren die Wirksamkeit des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses. Deutschland steht zu seiner internationalen Verantwortung in der Allianz und zu seinen Verpflichtungen, die wir in unserem sicherheitspolitischen Interesse eingegangen sind. Die Entwicklungen in der Allianz bestimmen die deutsche Verteidigungspolitik maßgeblich.«
Das Problem Deutschlands besteht gegenwärtig im Kern darin, dass es in Brüssel die Bereitschaft zeigt, seine angestammte Hauptrolle in der konventionellen Bündnisverteidigung wieder einzunehmen, und sie mit entsprechenden Zusagen für die NATO Verteidigungsplanung verbunden hat, jedoch in der heimischen Diskussion diese Positionierung – über sicherheitspolitische Expertenzirkel hinaus – nicht in die breite Öffentlichkeit und Gesellschaft kommuniziert worden ist. Die Erwartungen der Verbündeten (»Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung«) und das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft (»zivile Friedensmacht«) fallen seither immer weiter