Wörterbuch zur Sicherheitspolitik. Ernst-Christoph Meier
Читать онлайн книгу.beim NATO-Gipfel 2018 in Brüssel mit Präsident Trump, der über die Frage der Lastenteilung und der Implementierung des vereinbarten und wiederholt bekräftigten Zwei-Prozent-Zieles so weit ging, mit einem Austritt der USA aus der NATO zu drohen. Mit seinem Beharren auf Einlösung des Verteidigungsinvestitions-Versprechens von Wales besonders auch durch Deutschland stand Trump keineswegs allein. Aus Sicht der Mehrheit der Verbündeten hatte Deutschland seit 2014 mit dem »Münchener Konsens« wiederholt seine gestiegene Bereitschaft zu größerer Verantwortung und gewichtsgemäßen Beiträgen erklärt. Das Versprechen von Wales mehrfach zu bekräftigen, dann aber um ein Viertel unter einer der zentralen Zielmarken bleiben zu wollen, wurde von der Mehrheit der NATO-Regierungen als enttäuschend minimalistisches Verhalten gegenüber den europäischen Verbündeten gesehen. Denn bei der Erfüllung oder Nichterfüllung des Zwei-Prozent-Ziels durch Deutschland bis 2024 ging es zugleich auch um die – damit fraglich gewordenen – zukünftigen Beiträge, insbesondere das von Deutschland bei der Verteilung der NATO Fähigkeitenziele auf die Nationen im Frühjahr 2017 akzeptierte, sehr ambitionierte Fähigkeitenpaket, mit dem es zugleich ein beispielhaftes Zeichen für andere Verbündete gesetzt hatte.
Bei alledem ist von Bedeutung, dass Deutschland den Anpassungsprozess der NATO seit 2014 nicht nur mitgetragen, sondern in führender Rolle und enger Abstimmung im Quad-Kreis mit den USA, Großbritannien und Frankreich maßgeblich mitgestaltet hatte und dabei stets für »Maß und Mitte« eingetreten war, zum Teil gegen massive Widerstände derer, die zunächst weiterreichende Vorstellungen von wiederherzustellender Verteidigungsfähigkeit – im Sinne einer neuen Vorneverteidigung an den Ostgrenzen der Allianz – hatten. Insbesondere hat Deutschland die Grundlinie »Erhöhte Responsiveness« (statt Verteidigung mit bereits im Frieden vorne präsenter Großverbände, wie im Kalten Krieg) und den »Harmel 2.0«-Ansatz von Abschreckung, Verteidigungsfähigkeit und auch Dialogangebot als Kompromisslösungen durchgesetzt. Seither hat es nun auch eine besonders große Verantwortung dafür, dass dieser Ansatz funktioniert, und eine moralische Pflicht, dafür die mehrfache Hauptrolle als Rahmennation auszufüllen, die es übernommen hat: für VJTF und NRF, für die NATO Vornepräsenz in Litauen, für die Entwicklung von Verstärkungs-Großverbänden und Hochwertfähigkeiten, für das NATO Joint Support and Enabling Command und als Host Nation für die Verbündeten bei Aufmarsch und Verlegung von Streitkräften im Transitland Deutschland.
So geriet trotz des seit 2014 positiven bündnispolitischen Leistungsbild Deutschlands – konzeptionell die Anpassung mitgestaltet, das Bündnis zusammengehalten und bei der Umsetzung der meisten Beschlüsse seit dem Wales-Gipfel 2014 vorbildlich geliefert, den Afghanistan-Einsatz als zuletzt zweitstärkster Truppensteller durchgehalten – das Vertrauen in Deutschlands Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit beim Brüssel-Gipfel 2018 ins Wanken.
Dies hat dazu geführt, dass Deutschlands bündnispolitische Verlässlichkeit gegenwärtig infrage steht. Beim transatlantischen Kernproblem »faire Lastenteilung« (wofür die Zwei-Prozent-Vereinbarung steht) ist Deutschland Anführer einer Minderheit und wird von der Mehrheit als wortbrüchig wahrgenommen; dies schadet seiner Gestaltungsmacht in der Allianz schwer. In der NATO wird die deutsche Zurückhaltung durch überproportional starke Streitkräftebeiträge der USA ausgeglichen. In der EU hingegen kann die Vision eines »Europas der Verteidigung« mit einer sich entwickelnden strategischen Autonomie ohne entsprechende militärische Beiträge Deutschlands nicht einmal ansatzweise entstehen. Damit ist Deutschland mit Blick auf die mangelnde Selbstbehauptungsfähigkeit Europas im neuen Zeitalter der geopolitischen Großmächterivalität zu einem Teil des Problems geworden; es muss nun dafür sorgen, Teil der Lösung zu werden.
Herausforderung China
Seit 2018 ist über die weitreichenden Anpassungen mit Blick auf die Bedrohung der territorialen Integrität von NATO-Mitgliedstaaten durch Russland und die Herausforderungen im Süden und an der südöstlichen Peripherie Europas hinaus eine weitere sicherheitspolitische Problematik hinzugekommen, mit der sich die Allianz zunehmend befassen muss und zu der sich auch Deutschland positionieren muss: die Machtentfaltung Chinas im indopazifischen Raum und entlang der See- und Handelswege nach Asien (Belt and Road), seine zunehmende Präsenz auf dem afrikanischen Nachbarkontinent und sein zunehmender Einfluss auch in Europa. Neben den USA und Russland ist auch China bereits zu einer europäischen Macht geworden. Die EU nimmt China als Handelspartner, Wirtschaftskonkurrenten und Systemrivalen wahr. Die USA sehen in China vor allem den Herausforderer ihrer führenden Rolle als Weltmacht und im indopazifischen Raum, der wirtschaftlich dynamischsten und wichtigsten Weltregion. Sie sind als Schutzmacht entschlossen, gemeinsam mit verbündeten demokratischen Nationen, ebenso wie in Europa gegenüber Russland, so auch im indopazifischen Raum für die Werte und Interessen des freien Westens einzutreten und die bestehende regelbasierte Ordnung gegen Chinas aggressive Machtentfaltung unter Missachtung internationalen Rechts (Südchinesische See, Hongkong, Taiwan) einzudämmen. Allerdings können die USA beides nicht mehr aus eigener Kraft gleichzeitig leisten; in beiden Regionen sind sie auf Bündnispartner angewiesen, die zu einer fairen strategischen Arbeitsteilung bereit sind.
Für Deutschland bedeutet dies, in seiner Bündnis- und China-Politik die richtige Balance finden zu müssen. Deutschland hat sich handels- und wirtschaftspolitisch bereits in eine erhebliche Abhängigkeit von China begeben, die allerdings von gegenseitiger Natur ist. Eine gänzliche Abkoppelung und auf Eindämmung Chinas zielende Politik wäre für Deutschland kaum vorstellbar. Ebenso wenig wäre bei der für die nähere Zukunft immer deutlicher sich abzeichnenden Konfrontation zwischen den USA und China eine äquidistante Haltung Deutschlands möglich; dies ließe sich nicht mit dem fortbestehenden Schutzbedarfs Europas gegenüber Russland vereinbaren. Denn fortbestehende amerikanische Sicherheitsgarantien (einschließlich des einzigartigen nuklearen Schutzschirms und substanzieller militärischer Präsenz auch weiterhin in Europa, die diese Garantien glaubwürdig nachweisen) sind künftig nur zu erwarten, wenn umgekehrt die europäischen Verbündeten sich in ihrer China-Politik mit der westlichen Führungsmacht USA und den indopazifischen Partnern solidarisch verhalten. Wie schon in ihrer Bündnispolitik mit Blick auf Russland wird sich Deutschland auch gegenüber China absehbar um eine Sicherheitspolitik der gemeinsamen Selbstbehauptung mit militärischer Stärke, aber zugleich auch des Interessensausgleichs mit Maß und Mitte bemühen, wie sie in der neuen Indopazifik-Strategie der Bundesregierung zum Ausdruck kommt. In diesem Kontext entsendet, wie zuvor schon Großbritannien und Frankreich, 2021 auch Deutschland erstmals eine Marineeinheit (Fregatte) in die indopazifische Region zur Teilnahme an gemeinsamen Übungen und zur Demonstration seines Interesses an der Wahrung der geltenden internationalen regelbasierten Ordnung.
Bündnispolitische Implikationen für das deutsche Verteidigungsdispositiv und die Bundeswehr
Mit dem Wegfall der vormaligen existenziellen Bedrohung seiner territorialen Integrität hat sich Deutschland von einem massiv unterstützten Verbündeten in prekärer Frontlage zu einem wichtigen Unterstützer für andere und von einem security consumer zu einem security provider gewandelt. Dies gilt sowohl für Stabilisierungsmissionen als auch für die seit 2014 wieder in den Vordergrund getretene NATO Kollektive Bündnisverteidigung. Doch in dieser Unterstützungfunktion bestehen gravierende Unterschiede: Bei Stabilisierungsmissionen ist Deutschland eine Nation von vielen, und es kommt auf die deutschen militärischen Beiträge nicht zwingend an; hier hat Deutschland stets die Wahl, Art, Umfang, Zeitpunkt, Dauer und Intensität seines militärischen Einsatzes nach eigener Interessenlage zu bestimmen (»conflicts of choice«). Im Unterschied zu den westlichen Nationen mit ständigem Sitz und Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (USA, Frankreich, Großbritannien) hat es auch keine besonders herausgehobene Verantwortung für internationales Krisenmanagement. Es hat sich daher eine »Kultur der militärischen Zurückhaltung« leisten können. Bei Abschreckung und kollektiver Bündnisverteidigung zum Schutz Europas liegen die Dinge völlig anders: Hier ist Deutschland gefordert, sich so schnell wie möglich mit allem einzubringen, was es militärisch verfügbar machen kann, um der Eskalation einer Krise zu einem Krieg durch glaubwürdige Abschreckung und wirksame Verteidigungsfähigkeit vorzubeugen. Würde Abschreckung nicht greifen, käme es zu einem »war of necessity«, nicht zu einem »conflict of choice« wie bei Stabilisierungsmissionen. Gemäß Art. 3 des Nordatlantikvertrags ist Deutschland verpflichtet,