Wörterbuch zur Sicherheitspolitik. Ernst-Christoph Meier

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Wörterbuch zur Sicherheitspolitik - Ernst-Christoph Meier


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Falle eines regionalen militärischen Konflikts mit Russland – der einzigen Großmacht, die europäische Verbündete militärisch ernsthaft bedrohen könnte – läge Deutschland zwar »weit hinten«. Es wäre als zentrales Transitland im rückwärtigen Raum vor allem für den zeitgerechten Aufmarsch und umfangreiche Kräfteverlegungen in einer sich entwickelnden Krise von herausragender Bedeutung. Deutschland würde mit dieser Lage nicht mehr in Gänze zum Kriegsschauplatz wie im Kalten Krieg werden; allerdings wären Teile seiner kritischen Infrastrukturen (Häfen, Verkehrsinfrastruktur, Führungseinrichtungen etc.) gegnerischen Angriffen ausgesetzt, von hybriden und Cyber-Angriffen bis hin zu kinetischen militärischen Schlägen mit Fernwaffen (Luftangriffe, Flugkörper, Marschflugkörper, weitreichende Artillerie).

      b. Verstärkte Vornepräsenz und Verstärkungen für Nordosteuropa

      Zugleich wären die im angegriffenen Frontstaat »vorne« eingesetzten deutschen Streitkräfte zu Lande, in der Luft und zur See schon unmittelbar bei Ausbruch von – möglicherweise hochintensiv geführten – Kampfhandlungen auf dem Kriegsschauplatz involviert. Dies trifft auf den in der Vornepräsenz in Litauen stationierten deutschen Kampfverband ebenso zu wie auf weitere, als erste Verstärkungskräfte (VJTF-Speerspitze, NATO Response Force) zugeführte deutsche Verbände, welche gemeinsam mit den nationalen Landesverteidigungsverbänden (national home defence forces) der angegriffenen Verbündeten für die Anfangsoperationen (Verzögerungsgefecht, Verteidigung) dringend benötigt würden. Im weiteren Verlauf des Konflikts käme es darauf an, dass Deutschland mit allen verfügbaren militärischen Kräften und Fähigkeiten, im Rahmen seiner  Beistandspflicht in der NATO nach  Art. 5 Washingtoner Vertrag sowie in der EU nach  Art. 47 Abs. 3 des Lissabonner Vertrags seine Verpflichtungen erfüllt und seine gesamten Streitkräfte der NATO für Verteidigungs- und Gegenangriffsoperationen zur Wiederherstellung der territorialen Integrität angegriffener Verbündeter zur Verfügung stellt. In der NATO als konsensbasierter Organisation wäre dabei von größter Bedeutung, dass jeder Mitgliedstaat, einschließlich Deutschlands, sowohl auf politischer Ebene in den Gremien des NATO Hauptquartiers eine zügige Beschlussfassung zur Verlegung und zum Einsatz der NATO Streitkräfte mitträgt und den Entscheidungsprozess nicht etwa verzögert, als auch auf militärischer Ebene unverzüglich die zugesagten Streitkräfte und militärischen Fähigkeiten der NATO für die Führung der Operationen zur Verfügung stellt (Transfer of Authority) und darüber hinaus alle eigenen weiteren Bündnisverpflichtungen (Host Nation Support, Führung rückwärtiger Operationen) erfüllt.

      Die im Falle eines regionalen Konflikts mit Russland von Deutschland benötigten Streitkräfte zur kollektiven Bündnisverteidigung sind ihrem Wesen nach daher einerseits als »Expeditionsstreitkräfte« zu bezeichnen. Sie müssen rasch über weiterhin große Entfernungen verlegt, schnell einsetzbar und kampfbereit und flexibel einsetzbar sein und können nicht wie im Kalten Krieg auf die grenznahe Vorneverteidigung im eigenen Land mit bereits im Frieden aufmarschierten Großverbänden optimiert sein. In diesem ecpeditionary character weiter Teile der deutschen Land-, Luft- und Seestreitkräfte ähneln die Anforderungen denen, die in dem deutschen Streitkräftedispositiv seit Beginn der 1990er-Jahre für ihre Einsätze im Rahmen von Krisenmanagement und Stabilisierungsoperationen »out of area« zugrund gelegt und auf welches sie hin transformiert wurden. Andererseits besteht ein ganz wesentlicher Unterschied im zugrunde liegenden Kriegsbild. Es sind nicht mehr die sog. »kleinen Kriege« oder (nach Münkler) die »neuen Kriege«, aus denen der militärische »Level of Ambition« abgeleitet und auf die das Anforderungsprofil der Streitkräfte ausgerichtet sein muss. Sondern »strukturbestimmend« sind wieder hochintensiv zu führende klassische militärische Land-, Luft- und Seekriegsoperationen in einem – zwar regional begrenzten und nicht mehr kontinentweit ausgetragenen – Krieg, der aber dennoch das gesamte Spektrum von subversiver über hybride und konventionelle Kriegführung bis hin zum Einsatz nuklearer und anderer Massenvernichtungswaffen umfassen kann. In dieser Hinsicht ähneln die neue Lage und die sich daraus ergebenden Anforderungen an das Fähigkeitsprofil der deutschen Streitkräfte und des deutschen Gesamtverteidigungsdispositivs mehr denen des endgültig überwunden geglaubten Kalten Krieges als den zivil-militärischen Stabilisierungsmissionen der letzten drei Jahrzehnte. Die konzeptionelle Problematik besteht somit für die deutsche Verteidigungsplanung darin, den seit nun zwei Jahrzehnten eingenommenen und gewohnten »expeditionary character« (leichte, gut verlegbare, flexibel einsetzbare, effiziente Einsatzkontingente, die über Jahre durch regelmäßige Rotationen im Einsatz durchgehalten werden können) mit den verlernten und nicht mehr vorhandenen Charakteristika von Streitkräften zu verbinden, die für einen hochintensiven Krieg mit klassischen Strukturen, Prozessen, Kräften und Fähigkeiten geeignet sind:

      •schwere Bewaffnung (Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie, bewegliche Heeresflugabwehr, bodengebundene Luftverteidigung etc.);

      •zum Gefecht der verbundenen Waffen befähigte Großverbände (Brigaden, Divisionen);

      •entsprechende operative Führungsebene (Korps, Armee, Heeresgruppe);

      •auf Wirksamkeit im Krieg statt auf Effizienz im Friedensbetrieb ausgelegte Logistik;

      •Wiederaufnahme großangelegter regelmäßiger NATO-Verfahrensübungen aller Führungsebenen vom Hauptquartier in Brüssel über die Bundes- und Landesregierungen bis auf die kommunale Ebene (Landkreise);

      •große Feldübungen und taktische Überprüfungen der Land- bzw. Luft- und Seestreitkräfte.

      Diese Ausrichtung auf einen hochintensiven, regionalen Konflikt mit einem nahezu gleichwertigen, hoch gerüsteten Gegner mit umfangreichen und gut eingeübten subversiven, hybriden, konventionellen und nuklearen Kräften und Fähigkeiten ist seit 2014 wieder zur maßgeblichen Grundlage für die NATO- und auch für die deutsche Verteidigungsplanung geworden. Dabei geht es vor allem um den Schutz des Ostseeraums. Die baltischen Staaten und Polen, aber auch Finnland und Schweden und Norwegen als direkt an Russland angrenzende Länder sind in einer besonders exponierten und verwundbaren Lage. Geografisch, historisch und politisch liegt dieser Teil des Bündnisgebiets Deutschland als Ostsee-Anrainer besonders nahe. Es liegt deshalb in Deutschlands eigenem Interesse, im Schutz Nordosteuropas die deutsche Hauptaufgabe zu sehen und den Schwerpunkt der deutschen Verteidigungsanstrengungen hierauf zu legen. Der Mehrwert kampfkräftiger deutscher Verbände und hochwertiger Fähigkeiten, in Verbindung mit der zentralen Funktion als Transitland und logistischer Drehscheibe für ganz Europa in jeder Richtung, ist bei dieser Schwerpunktsetzung Deutschlands besonders hoch und die nächstliegende Möglichkeit effizienter strategischer Arbeitsteilung unter Verbündeten. Sie entspricht zudem der traditionellen Rolle, in der sich die deutschen Streitkräfte in der NATO seit jeher am erfolgreichsten bewährt haben und die über Jahrzehnte auch den größten Rückhalt in der deutschen Bevölkerung hatte: Friedenssicherung durch Abschreckung auf der Basis glaubwürdiger Verteidigungsfähigkeit bei gleichzeitiger Bereitschaft zu Dialog und Entspannung mit Russland.

      c. Militärische Unterstützung in Südosteuropa

      Auch für die Taylored Forward Presence der NATO in Südosteuropa und im Schwarzmeerraum sind anteilige Beiträge aller verbündeten Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschlands, erforderlich, um auch dort eine glaubwürdige Abschreckung und wirksame Verteidigungsfähigkeit nachzuweisen. Deutschland kommt diesem Erfordernis durch Ausbildungsunterstützung und rotierende Übungsteilnahme deutscher Land-, Luft- und Seestreitkräfte nach.

      d. Schutz der europäischen Peripherie und weltweiter Handelswege

      Zugleich ist Deutschland nicht nur direkt oder indirekt von der russischen Bedrohung im Osten Europas betroffen und gefordert, sondern auch die in jüngster Zeit immer deutlicher werdende Machentfaltung Chinas im indopazifischen Raum und entlang der See- und Handelswege nach Europa erfordern von Deutschland eine angemessene Mitwirkung an Gegenmaßnahmen zur Bewahrung der internationalen regelbasierten Ordnung. Auch wenn China aus deutscher Sicht nicht wie Russland als Bedrohung gilt, so erscheint es dennoch erforderlich, seiner militärischen Machtentfaltung entgegenzuwirken. Neben politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen wird Deutschland im europäischen Verbund auch einen militärischen (vorwiegend maritimen) Beitrag leisten müssen, um die berechtigten Interessen gleichgesinnter


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