Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.so lange, wie es noch möglich ist. Die Schwester übersetzte das Ergebnis dieser Untersuchung ins Oshivambo, und die Patientin gab ihre Zustimmung, indem sie mit dem Kopf nickte, ohne dass ein Wort über ihre Lippen kam. Dr. Hutman schrieb den Namen dieser Patientin auf seinen Operationszettel, den er wieder faltete und in seine linke Brusttasche steckte.
Dr. Witthuhn wartete im Korridor. Er begrüßte den Professor in englischer Sprache, als dieser das Krankenzimmer verließ. Dabei entschuldigte er sich für die Verzögerung der angesetzten Operationen infolge des abgedrehten Wassers. Er war jedoch zuversichtlich, dass am Nachmittag die Operationssäle wieder mit Wasser versorgt seien. Da die beiden sich in ein Gespräch vertieften, ging Dr. Ferdinand einige Schritte zurück in Richtung Ausgang. Dr. Hutman eilte an den im Korridor stehenden Tisch, holte seinen Zettel hervor, setzte sich auf den Stuhl und feilte an seiner Operationsliste herum. Beim Verlassen des Saales stellte Dr. Witthuhn den deutschen Kollegen dem Professor vor, der gleich mitteilte, dass sie sich schon bekannt gemacht hatten. Dr. Witthuhn brachte seine Freude zum Ausdruck, einen Kollegen mit hoher Qualifikation und reichen Erfahrungen an diesem Hospital zu haben. „Wir warten nur noch auf die Arbeitserlaubnis aus Pretoria, damit er in der Chirurgie anfangen kann.“ Der Professor lächelte Dr. Ferdinand wohlwollend an und meinte, dass ein solcher Kollege hier dringend gebraucht würde und von großem Nutzen für die Bevölkerung sei. Dr. Hutman stand abseits mit ernster Miene und gespitzten Ohren, um den Inhalt des Gespräches mitzubekommen. Die Ärzte verließen den Saal, wobei Dr. Ferdinand auf die ausnehmend höfliche Art des Professors achtete, in der sich dieser von den zurückbleibenden Schwestern verabschiedete.
Es war Freitag, und für zehn Uhr war das akademische Programm angesagt. Durch die Saalrunde mit dem Professor trat eine Verspätung von etwa zwanzig Minuten ein. Die Ärzte hatten ihre Plätze wie bei der Morgenbesprechung eingenommen, die uniformierten auf der einen und die drei zivilen auf der anderen Seite, als der Spezialist aus Ondangwa, begleitet von Dr. Witthuhn, Dr. Hutman und Dr. Ferdinand, eintrat. Der Professor setzte sich neben die uniformierten Kollegen und behielt sein freundliches Gesicht, als Dr. Witthuhn einige einleitende Sätze sprach, in denen er für die Bereitschaft des Professors dankte, über die Chirurgie des Kolonkarzinoms zu sprechen und anschließend für die Fragen der Kollegen aus ihrer täglichen Arbeit zur Verfügung zu stehen. Er teilte weiter mit, dass die Arbeiten an der Wasserhauptleitung gegen ein Uhr abgeschlossen sein würden, so dass die Operationssäle am Nachmittag zur vollen Verfügung stünden. Dr. Witthuhn setzte sich neben die schwarzen Kollegen und Dr. Ferdinand. Der Professor hatte Stellung neben einer links vom Schreibtisch aufgestellten Tafel bezogen und begann seinen Vortrag mit der einleitenden Floskel, dass er sich freue, am Oshakati Hospital zu sein und den Kollegen im Rahmen der Weiterbildung und zu ihren Fragen zur Verfügung zu stehen. Der Sachvortrag war nach den klinischen Gesichtspunkten klar aufgebaut und gut verständlich. Aus den ersten Sätzen ging hervor, dass das Karzinom des Kolons, jene bösartige Geschwulst am Dickdarm, in früheren Jahren unter der schwarzen Bevölkerung so gut wie unbekannt war. Erst in den letzten Jahren kamen die ersten Fälle dieser Erkrankung auf, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Änderung in der Esskultur und ihrer Ernährungsweise zurückzuführen sei. Diese Änderung stehe mit europäischen Einflüssen, die auf dem afrikanischen Kontinent in zunehmender Weise zu beobachten sind, in unmittelbarem Zusammenhang. Denn dort wie in den Vereinigten Staaten von Amerika sei das Kolonkarzinom weit verbreitet und nähme zahlenmäßig weiter zu. Im diagnostischen Teil hob der Professor die Bedeutung der Früherkennung hervor, da dann mit hoher Wahrscheinlichkeit die anzuwendenden chirurgischen Maßnahmen lebensrettend sind. Doch sei er sich bewusst, dass die Früherkennung der Erkrankung unter Zugrundelegung afrikanischer Bevölkerungsstrukturen und Traditionen in ihren sozialen Verhältnissen mit einem großen, schicksalhaften Fragezeichen zu versehen ist. Die Menschen, besonders in den abgelegenen ländlichen Gebieten, verdienten deshalb mehr Aufklärung; diese sei möglich mit einer Verbesserung kommunikativer Infrastrukturen und dem Anheben des Bildungsniveaus durch Ausbau eines Weiterbildungsnetzes. Dazu gehöre auch die Verbesserung im Gesundheitswesen selbst, was bessere Krankenhausbedingungen in Bezug auf diagnostisches und therapeutisches Gerät und vor allem mehr Ärzte im Krankenhaus voraussetzt. Die Bedeutung eines breit gefächerten und voll funktionsfähigen Labors wurde ebenso betont wie die Bedeutung einer sorgfältigen Erhebung und Aufzeichnung der Krankengeschichte und einer gewissenhaften und umfassenden Untersuchung, die die Inspektion der Analgegend und die Mastdarmuntersuchung mit dem Zeigefinger einschließt. Der Professor sagte, dass die Aufzeichnung der Vorgeschichte und der Befunde der körperlichen Untersuchung von vitaler Bedeutung für den Patienten ist. Im zweiten Teil seines Referats, den er an der Tafel mit „Management“ überschrieb, erläuterte er die Vorzüge und technischen Probleme der verfügbaren chirurgischen Methoden zur Behandlung des Kolonkarzinoms. Dabei wurden die Funktionen eines vorläufigen und eines bleibenden künstlichen Afters (Anus praeter) umfassend dargestellt und differenziert. Die technischen Gesichtspunkte bei der Durchführung der Darmanastomose, wenn die Darmenden miteinander verbunden werden, erwähnte er dagegen mehr am Rande. Mit einer gerafften Statistik bezüglich der Überlebensraten, die er aus dem Kopf vortrug und dabei die Zahlen auf der Tafel festhielt, beendete der Professor ein vortrefflich gehaltenes Referat.
Sechsundzwanzig Hände klatschten den Applaus. Dann erhoben sich die zwei Damen und elf Herren, um bei heißem Tee und belegten Schnitten das Vorgetragene miteinander zu besprechen. Der Professor schaute mit der Tasse Tee in der Hand über die kleine Gruppe von Ärzten aus einer Distanz, die seinem Status durchaus entsprach. Es hätte eine Minute der Besinnlichkeit nach Beendigung des Referats geben können, wenn den Anwesenden die Frage durch den Kopf gegangen wäre, wie denn diese geringe Zahl von Ärzten das Gesundheitswesen in einem relativ dicht besiedelten Gebiet, das täglich vom Krieg heimgesucht wird, halten kann, und das in den verschiedenen Fachbereichen. Dr. Hutman ging als Erster auf den Professor zu, um ihm zu sagen, wie sehr ihm der Vortrag gefallen hat. Hutman kam mit anderen Fragen, die er dem Professor in schmeichelhafter Weise zwischen Selbstzufriedenheit und vorgetäuschter Bescheidenheit vortrug. Doch zeigte sich hier der Gentleman als geduldiger Zuhörer, als er mit Fragen überhäuft wurde, die er gelassen und in ruhigem Ton und in der Sache rasch auf den Punkt bringend beantwortete. Die übrigen Kollegen bildeten einen Kreis und nahmen den Professor zwischen sich. Dr. Ferdinand verfolgte ihre Gespräche aufmerksam, die teils in Englisch und teils in Afrikaans geführt wurden. Die Betonung und Wichtigkeit der digitalen Mastdarmuntersuchung waren für Dr. Ferdinand nicht neu, wurde doch in jeder ärztlichen Grundausbildung darauf hingewiesen und in den klinischen Praktika die Prozedur mit dem Zeigefinger geübt und hundertmal wiederholt. Er sollte aber ein Auge bewahren bezüglich der Gründlichkeit der in Südafrika ausgebildeten Ärzte in der Untersuchung von Patienten. In der Runde kam zur Sprache, dass am Hospital nur ein starres Rektoskop, das bis dreißig Zentimeter reichte, vorhanden war. Höher sitzende Tumore konnten somit nicht auf direktem Wege gefunden und lokalisiert werden. Der Professor erwiderte, das flexible Kolonoskop sei teuer und auch aufwändiger in der Säuberung und Wartung. Es bedürfe einer speziellen Erfahrung, um mit diesem Instrument so umzugehen, dass der Umgang diagnostisch wertvoll und therapeutisch nützlich sei.
Dann nahmen alle wieder ihre Plätze ein. Der zweite Teil des akademischen Programms war Fragen vorbehalten, die an den Professor zu richten waren. Es waren Fragen praktischer Natur. So fragte Dr. van der Merwe, was getan werden konnte, um das gehäufte Auftreten von Wundinfektionen zu verhindern. Dr. Nestor fragte, ob man die nötigen Antibiotika in einer kritischen Situation vielleicht vom Armeelazarett in Ondangwa erhalten könne, und Dr. Hutman stellte mehr theoriebezogene Fragen über das Schilddrüsenkarzinom, ein Kapitel, das er wahrscheinlich über Nacht intensiv in seinem Textbuch nachgelesen hatte. Der Professor ging mit der ihm eigenen Geduld und Freundlichkeit auf die gestellten Fragen ein, wobei er allerdings keine Zusage machen konnte, ob in einer kritischen Situation die nötigen Antibiotika von der Militärbasis in Ondangwa angefordert werden können. Er sagte jedoch zu, dass er dieses Problem bei den Verantwortlichen vortragen und sich für eine positive Entscheidung stark machen wolle. Auf die theoretischen Fragen von Dr. Hutman ging der Professor wie ein Mathematiker mit einem kurzgefassten Abriss über den letzten Stand des Wissens ein.
Diese zwei Stunden akademischen Unterrichts erweiterten und vertieften nicht nur die theoretischen Kenntnisse, sie waren auch in Bezug auf die tägliche Praxis von Nutzen. Dieser Unterricht, der in gut zweitausend Kilometer Entfernung von den südafrikanischen