Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.dass die Gemüter bei den jungen, uniformierten, jedoch zumeist kriegsunerfahrenen Ärzten, die ihren Wehrdienst hier ableisteten, wie auch bei den etwas älteren, von der Angst des Krieges geplagten schwarzen Kollegen von der Glätte der Sanftmut überzogen waren, als seien brennende Feuer gelöscht worden. Das Mittel des Gedankenaustausches auf dem medizinischakademischen Gebiet mit dem Ziel, zu lernen, um mehr zu wissen, war deshalb auch ein Heilmittel für die Menschen in der Hoffnung auf ein baldiges Ende der wahnsinnigen und letztendlich sinnlosen Tötungen und Zerstörungen. So verließen die Kollegen mit einem Lächeln auf ihren Gesichtern und einem befristeten Mehr an innerem Frieden den Raum, um ihren „Lunch“ zu nehmen. Einige von ihnen lachten über die spaßige Bemerkung von Dr. van der Merwe, dass er heute mehr gelernt habe als in zwei Wochen an der Universität in Bloemfontein. Sicherlich war die Bereitschaft zu lernen hier größer als dort, wo das Nebeneinanderleben im System der Apartheid mit den bedenklichen und abstoßenden Merkmalen der Ungerechtigkeit gegenüber der schwarzen Bevölkerung noch einigermaßen friedlich verlief. Doch alle spürten, dass das System der Rassentrennung auf immer schwächeren Füßen stand und es nur eine Frage der Zeit war, bis das Pulverfass explodierte und das System der Diskriminierung, in dem die weiße Hautfarbe gegenüber der schwarzen als „superior“ legitimiert war und alles Weitere dementsprechend praktiziert wurde, wegsprengen würde.
Dr. Ferdinand blieb noch einen Augenblick zurück, um Dr. Witthuhn über den Stand der nötigen Arbeitserlaubnis aus Pretoria zu befragen. Er erfuhr, dass die Telefonleitung unterbrochen war, wahrscheinlich infolge einer Minenexplosion. Doch hoffte Dr. Witthuhn, dass die Leitung am Montag der folgenden Woche wiederhergestellt sei. Mit absoluter Sicherheit sei hier jedoch nichts mehr zu erwarten, fügte er hinzu. Mit dem Gefühl, am Ende der Welt gelandet zu sein, in einer Region, die nach Frieden schreit, verließ Dr. Ferdinand den Raum in Richtung Kantine, wo der Superintendent dem Personal Anweisung gegeben hatte, dem deutschen Kollegen die Mahlzeiten zuzuteilen. Er setzte sich an jenen Tisch, an dem die schwarzen Kolleginnen und Dr. Shivute saßen und ihre Teller fast geleert hatten. An diesem Tisch wurde miteinander gesprochen, und man fragte, wie denn die Dinge in Deutschland laufen und wie der Alltag in einem deutschen Krankenhaus aussieht. Dr. Ferdinand erzählte aus seinen deutschen Tagen. Er bemerkte eine Art Bewunderung, die die schwarzen Kollegen der deutschen Sauberkeit in einem freiheitlichen, demokratischen Gesellschaftssystem und dem hohen Lebensstandard, der durch den Fleiß der Menschen dort erreicht wurde, entgegenbrachten. Auch bemerkte Dr. Ferdinand, dass Dr. Nestor stotterte, was sich erst später legen sollte, und dass alle drei mit gedämpfter Stimme sprachen, als wäre da ein beachtliches Maß an Minderwertigkeitsgefühl und ängstlicher Scheu gegenüber den an den Nachbartischen lachenden und Afrikaans sprechenden, uniformierten Kollegen. Vor was sollten sich die drei Kollegen, deren Muttersprache Oshivambo war und deren Kultur mit den Rädern und Füßen einer übermächtigen Militärmaschinerie plattgewalzt und niedergetreten wurde, denn noch fürchten? Diese Frage bewegte Dr. Ferdinand bis zur Unabhängigkeit Namibias. Es sollte ein ganzes Paket von Antworten auf diese Frage geben.
Für vierzehn Uhr war die Operation an dem Patienten mit dem Magenkarzinom angesetzt, und da der Professor Dr. Ferdinand eingeladen hatte, ihm bei der Durchführung über die Schulter zu schauen, ging er pünktlich zum „theatre“, wo er den Professor und Dr. Hutman in grüner Operationskleidung im Teeraum sitzend antraf. Er wechselte ebenfalls die Kleidung und setzte sich neben Dr. Hutman dem Professor gegenüber. Die beiden waren in einem Gespräch, in dem es um die Situation des Oshakati Hospitals, den Mangel an Medikamenten, den verwahrlosten Zustand der Krankensäle und die enormen Arbeitsanforderungen ging, die an die wenigen Ärzte gestellt waren. Der Professor gab dabei zu erkennen, dass er die Leistung eines jeden bewundere. „So sollten einmal die Ärzte in der Republik arbeiten“, meinte er, „das kann ich mir nicht vorstellen.“ Die Antibiotika sollten mit allem Druck auf die Administration angefordert werden. „Wie kann eine große Chirurgie betrieben werden, wenn es keine Antibiotika gibt?“ Der Professor und Dr. Hutman gingen zum gegenüberliegenden Operationssaal, wo der Anästhesist mit der Intubation am Patienten zugange war. Die beiden wuschen sich die Hände über einer großen Zinkwanne, über der drei Wasserhähne angebracht waren. Beim Öffnen von zwei Hähnen mit dem bis zum Ellbogen reichenden Hebel kam zunächst rostbraunes Wasser zum Vorschein, bedingt durch das mehrstündige Abdrehen während der Reparatur an der Hauptleitung. Der Professor und sein chirurgischer Adjutant nahmen es wortlos hin. Beim Überziehen und Zuschnüren der sterilen Kittel waren ihnen zwei Schwestern behilflich. Dann betraten beide den Operationssaal und fanden den Patienten mit sterilen Tüchern abgedeckt. Eine langjährige und geschickte Operationsschwester ordnete die Instrumente auf dem herangefahrenen Instrumententisch mit großer Genauigkeit und zählte Tupfer, kleine und große Kompressen zu Fünfergruppen zusammen. Auf Befragen gab der Anästhesist das grüne Licht, den Eingriff zu beginnen. Der Professor setzte mit dem ihm gereichten Skalpell unterhalb des Schwertfortsatzes an und zog einen kerzengeraden, mittleren Längsschnitt bis zum Nabel, den er links umschnitt. Die Blutstillung erfolgte punktförmig und präzise durch Thermokoagulation. Dann durchtrennte er mit dem Thermokauter die Mittellinie des äußeren und inneren Faszienblattes und schob die Ränder mit dem Stieltupfer zu den Seiten. Das Bauchfell, das an zwei Klemmen zipfelförmig nach oben gezogen wurde, öffnete er vorsichtig mit einer Schere und verlängerte den Schnitt nach oben und unten. Es war ein schlechtes Zeichen, dass sich mit Eröffnung des Bauchraums bernsteinfarbene Flüssigkeit bis zu gut einem Liter entleerte und mit dem Sauger aspiriert wurde. So ergab denn auch der intraoperative Befund ein fortgeschrittenes Karzinom am Magenausgang, das den quer verlaufenden Dickdarm bereits ergriffen und mehrere bis haselnussgroße Metastasen in der Leber gebildet hatte. „Den Patienten können wir nicht mehr retten“, sagte der Professor sorgenvoll. Dr. Ferdinand, der von einem Podest aus dem Professor über die Schulter schaute und diesen Tumor mit den Lebermetastasen für inoperabel hielt, schloss sich seiner Meinung an. Dr. Hutman meinte bei diesem Anblick, dass seiner Meinung nach die Krankengeschichte weiter zurückreichen müsse als sie vom Patienten angegeben wurde. Das bejahte der Professor, führte ein Gummirohr zur Nahrungsaufnahme in den Zwölffingerdarm ein und dichtete die Darmöffnung mit mehreren Einzelknopfnähten ab. Das andere Rohrende führte er durch die Bauchwand und fixierte es mit einer Hautnaht. Dann assistierte er dem jungen Kollegen beim Wundverschluss der Bauchdecke.
Es war ein später Freitagnachmittag. Der Professor und Dr. Hutman hatten die Kleidung gewechselt und standen in ihren Uniformen bereit, das „theatre“ zu verlassen. Der Professor fuhr mit seiner rechten Hand durch das Haar, während Dr. Hutman sich vor dem Spiegel betrachtete und sorgfältig kämmte. Dr. Ferdinand blieb im „theatre“ zurück, um eine Notoperation an einem fünfzehnjährigen Jungen zu verfolgen, der seinen linken Unterschenkel durch eine Minenexplosion verloren hatte. So verabschiedete er sich vom Professor, der freundlich zurückgrüßte. Dr. Hutman hatte den Umkleideraum grußlos verlassen und wartete bereits vor der Tür. Dr. Ferdinand setzte sich in den „Doctors tearoom“ und goss sich noch eine Tasse lauwarmen Tee ein. Er saß allein in diesem Raum mit seinen sechs ausgesessenen, gepolsterten Stühlen. Eine Schwester trank Tee im angrenzenden „Nurses tearoom“. Da die Ziehharmonikatrennwand zwischen den Teeräumen aufgeschoben war, ergab sich ein Gespräch. Die Schwester, die den Namen Donata trug, wollte von Dr. Ferdinand erfahren, ob er am Hospital arbeiten werde. Er erzählte ihr seine Geschichte in Kurzfassung, worauf sie erwiderte, dass sie mit einem Chirurgen in Zivil lieber zusammenarbeiten würde als mit einem in Uniform. „Da ist immer ein Gefühl der Angst, wenn die Menschen hier einem Mann in südafrikanischer Uniform begegnen“, meinte sie. Dr. Ferdinand bekundete seine Sympathie mit der leidenden Bevölkerung und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Krieg bald zu Ende gehen möge. Beide hatten die Tassen geleert und sich von den Stühlen erhoben. Durch getrennte Türen verließen sie den Teeraum. Dr. Ferdinand ging zum orthopädischen Operationssaal, wo der Verletzte bereits in Narkose lag und mit Tüchern abgedeckt wurde. Eine junge Schwester half Dr. van der Merwe, der sich beim Überziehen der Handschuhe dem Operationstisch näherte, in den sterilen Kittel. Da die offizielle Dienstzeit beendet war, und er den orthopädischen wie chirurgischen Spät- und Nachtdienst zu versehen hatte, stand ihm lediglich die Operationsschwester zur Seite. Dr. van der Merwe prüfte die Durchblutungsverhältnisse der überhängenden Haut- und Muskelfetzen, die verschmutzt und an den Rändern teilweise verschmort übrig geblieben waren. Die Weichteilreste waren jedoch schlecht durchblutet und eigneten sich für keinerlei Wunddeckung. Die gesplissenen Enden an Schien-