Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace

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Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace


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einen Stuhl an die Wand und kletterte hinauf. Direkt über ihnen befand sich ein kleiner Ventilator, der mit Schrauben an der Wand befestigt war. Leon summte eine kleine Melodie, als er den Schraubenzieher ansetzte und geschickt das Deckgitter löste. Manfred sah ihm interessiert zu.

      »Sieh einmal hierher, George. Nimm dir auch einen Stuhl.«

      Manfred sah einen kleinen, flachen, braunen Kasten, der etwa 5 X 5 cm groß war. In der Mitte befand sich eine schwarze, etwas vertiefte Scheibe aus Hartgummi.

      »Weißt du, was das ist?« fragte Leon. »Das ist ein Mikrophon!«

      »Dann hat wohl jemand unsere ganzen Gespräche belauscht?«

      Leon nickte.

      »Der Herr über uns muß einen recht traurigen und öden Tag gehabt haben. Selbst wenn er spanisch sprechen kann, muß er sich da oben schrecklich gelangweilt haben.«

      »Aber ...«, begann Manfred.

      »Du brauchst dir keine Sorge zu machen. Er ist fortgegangen. Um aber ganz sicher zu sein –«

      Geschickt löste er einen der Drähte, mit denen der Apparat in dem Lüftungsschacht aufgehängt war.

      »Mr. Prothero kam gestern abend«, erklärte Leon. »Er mietete das Zimmer über uns. Er hat direkt danach gefragt, das hörte ich von dem Oberkellner. Der Mann ist mir treu ergeben, weil ich ihm dreimal so viel und dreimal so oft Trinkgeld gebe, als er es von den anderen Bewohnern der Pension gewöhnt ist. Ich wußte nicht genau, was Prothero im Schilde führte, bis ich hörte, daß er das Mikrophon den Schacht herunterließ.«

      Leon befestigte das Gitter wieder über der Öffnung und sprang dann von dem Stuhl herunter.

      »Du mußt mir versprechen, morgen mit nach Lambeth zu kommen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir Mr. Prothero dort treffen. Aber wir werden seine Frau sehen, die regelmäßig um elf Uhr ihre Einkäufe in der London Road macht. Sie ist sehr ordnungsliebend.«

      »Warum soll ich sie denn sehen?«

      Gewöhnlich deckte Leon seine Pläne nicht eher auf, als bis der dramatische Abschluß dicht bevorstand.

      »Ich brauche dein Urteil, deine große Menschenkenntnis. Du sollst mir sagen, ob diese Frau solche Eigenschaften besitzt, daß ein kahlköpfiger Mann ihretwegen einen Mord begeht.«

      Manfred sah ihn bestürzt an.

      »Wer soll denn das Opfer sein?«

      »Ich«, entgegnete Gonsalez und krümmte sich vor Lachen, als Manfred ihn verständnislos anschaute. –

      Einige Minuten vor elf sahen sie Mrs. Prothero. Leon drückte Manfreds Arm und gab ihm ein Zeichen mit den Augen.

      »Dort geht sie.«

      Eine junge Frau ging quer über die Straße. Sie war hübsch und viel besser gekleidet, als man es bei ihrem Stand erwarten konnte. Sie hatte Handschuhe an und trug einen Einkaufsbeutel in der einen, eine kleine Handtasche in der anderen Hand.

      »Sie ist wirklich reizend«, sagte Manfred.

      Mrs. Prothero war vor dem Schaufenster eines Juweliers stehengeblieben, und Manfred hatte Gelegenheit, sie zu beobachten.

      »Nun, was hältst du von ihr?«

      »Sie ist tatsächlich eine außerordentlich schöne junge Frau.«

      »Komm, ich will dich mit ihr bekannt machen.« Leon zog ihn mit sich fort.

      Mrs. Prothero sah sich erstaunt um, lächelte dann aber, als sie Leon erkannte. Manfred sah eine Reihe blitzender weißer Zähne und volle, rote Lippen. Sie sprach zwar nicht wie eine Dame, aber sie besaß eine ruhige und klangvolle Stimme.

      »Guten Morgen, Herr Doktor«, begrüßte sie Leon. »Was tun Sie denn schon so früh morgens hier?«

      Manfred fiel es auf, daß sie seinen Freund mit »Doktor« anredete, aber er wußte ja, daß Gonsalez in den verschiedensten Berufen auftrat, um sich die gewünschten Nachrichten für seine Zwecke zu verschaffen.

      »Wir kommen gerade vom Guy-Hospital. Dies ist Dr. Seibert«, stellte er Manfred vor. »Sie sind beim Einkaufen?«

      Sie nickte.

      »Eigentlich hätte ich es nicht nötig gehabt, heute auszugehen. Mein Mann ist für drei Tage unten bei den Docks.«

      »Haben Sie Ihren Bruder heute morgen schon gesehen?« fragte Leon.

      Ein Schatten glitt über ihr Gesicht.

      »Nein«, erwiderte sie kurz.

      Offensichtlich war sie nicht sehr stolz auf diesen Verwandten. Vielleicht ahnte sie sein dunkles Gewerbe, jedenfalls hatte sie nicht den Wunsch, weiter darüber zu sprechen, denn sie änderte das Thema schnell.

      Sie plauderten noch eine Weile miteinander, dann verabschiedete sie sich mit einer Entschuldigung von ihnen. Die beiden sahen ihr nach, bis sie in einem Lebensmittelgeschäft verschwand.

      »Glaubst du, daß ihr Mann ihretwegen einen Mord begehen könnte?« fragte Leon.

      »Es wäre nicht ausgeschlossen. Aber warum sollte er denn dich umbringen?«

      »Das werden wir ja sehen.«

      Als sie am Nachmittag wieder nach Hause kamen, fanden sie mehrere Briefe vor. Ein Kuvert, das ein großes Wappen trug, zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich.

      »Lord Pertham«, sagte er, als er nach der Unterschrift sah. »Wer ist denn eigentlich Lord Pertham?«

      »Ich habe gerade kein Nachschlagebuch zur Hand, aber mir kommt der Name bekannt vor. Was will denn Lord Pertham von uns?«

      ›Sehr geehrter Herr, unser gemeinsamer Freund, Mr. Fare von Scotland Yard, wird heute bei uns in Connaught Gardens zu Abend speisen. Dürften wir auch Sie bitten, zu kommen? Mr. Fare erzählte mir, daß Sie einer der tüchtigsten Kriminologen unserer Zeit sind, und da ich mich auch für diesen Zweig der Wissenschaft ganz besonders interessiere, würde ich mich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.‹

      Unter der Unterschrift stand noch ein Nachsatz:

      ›Natürlich schließt diese Einladung auch Ihren geschätzten Freund ein.‹

      Manfred rieb sich das Kinn. »Ich möchte wirklich heute abend nicht in vornehmer Gesellschaft speisen.«

      »Aber ich«, erwiderte Leon entschieden. »Ich habe eine Vorliebe für gute englische Küche, und ich erinnere mich, daß Lord Pertham in dem Ruf steht, eine Art Epikuräer zu sein.«

      Pünktlich um acht erschienen sie in dem großen Haus von Lord Pertham, das an der Ecke von Connaught Gardens stand. Sie wurden sofort von einem Diener eingelassen, der ihre Hüte und Mäntel abnahm und sie in einen geräumigen, etwas düsteren Empfangssalon führte.

      Ein großer, schlanker Mann mit vollem, grauem Haar lehnte am Kamin. Er mochte etwa fünfzig Jahre sein. Schnell kam er auf die beiden zu, als sie eintraten.

      »Wer von Ihnen ist Mr. Fuentes?«

      »Das ist mein Name«, erwiderte Manfred lächelnd, »aber mein Freund ist der große Kriminologe.«

      »Ich freue mich sehr, Sie beide kennenzulernen, aber ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Durch einen unglücklichen Umstand ist der Brief, den ich an Mr. Fare geschrieben habe, nicht rechtzeitig aufgegeben worden. Ich habe es leider erst vor einer halben Stunde erfahren. Hoffentlich macht es Ihnen nicht zuviel aus.«

      Manfred murmelte eine konventionelle Höflichkeitsphrase, als sich die Tür öffnete und eine Dame hereinkam.

      »Darf ich Sie Mylady vorstellen?«

      Die Dame war schmal und hager. Ihre blauen, ausdruckslosen Augen und ihre dünnen Lippen entbehrten jedes Reizes. Sie machte einen verdrießlichen Eindruck und runzelte häufig die Stirn, was sie noch mehr entstellte.

      Leon Gonsalez, der unwillkürlich jedes Gesicht analysierte, das er sah, kam zu dem Urteil:


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