Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace
Читать онлайн книгу.die Aufmerksamkeit finden, die den bekannten Künstlern auf ihren Tourneen zuteil wurde.
Aber er schickte auch kleinere Artisten auf Reisen, unbedeutende Leute, deren Namen niemals auf den Programmen englischer Aufführungen zu finden waren. Sie wurden je nach ihrer äußeren Erscheinung und nach der Art ihres Wesens gewählt. Auch spielte dabei die Frage eine große Rolle, ob sie irgendwelche Verwandten besaßen oder sonst gebunden waren.
»Es ist ein entzückendes Land«, pflegte Mr. Homer Lynne zu sagen.
Er machte einen würdigen, vertrauenerweckenden Eindruck, verfügte über gute, gefällige Manieren und war glattrasiert mit Ausnahme eines kleinen grauen Backenbartes. Wenn man ihn nicht genauer kannte, hätte man ihn für einen erfolgreichen Rechtsanwalt mit einer Praxis in Kirchenangelegenheiten halten können.
»Es ist wirklich ein außerordentlich sympathisches Land, aber ich weiß nicht, ob ich ein junges Mädchen wie Sie dorthin schicken kann. Natürlich bekommen Sie ein sehr gutes Gehalt, und das Leben ist angenehm dort – haben Sie eigentlich Verwandte?«
Wenn die junge Dame dann etwas von einem Bruder oder einem Vater erzählte, oder auch nur von einer Mutter oder einer unverheirateten Tante sprach, die sich um sie kümmerte, so nickte Mr. Lynne und versprach, am nächsten Tag zu schreiben. Dieses Versprechen erfüllte er auch unweigerlich und bedauerte, mitteilen zu müssen, daß er die Dame für den Posten für nicht geeignet halte – und damit sagte er die Wahrheit. Wenn sie aber vollständig allein stand und keine Verwandten oder Freunde besaß, die ihm später durch Nachforschungen die Hölle heiß machten, dann konnte sie sicher sein, von ihm ein Dampferbillett erster Klasse nach Südamerika zu erhalten; aber nicht für eine Tournee, wie er sie für große Künstler arrangierte. Auch sollten die Damen nicht an den großen Bühnen auftreten, wo man sie leicht finden konnte. Er schickte sie zu kleineren Vergnügungsetablissements, die weniger den Charakter eines Theaters, aber mehr den eines Kabaretts hatten.
Im Laufe seiner Tätigkeit hatten ihn drei junge Mädchen angelogen, als sie sich um eine Stellung bei ihm bemühten. Sie erzählten ihm, daß sie keine Verwandten hätten, aber nach einiger Zeit erschien ein Bruder und erkundigte sich nach dem Verbleib seiner Schwester.
An einem herrlichen Junimorgen erlebte Mr. Lynne einen ähnlichen Fall. Er saß in .seinem schönen Büro, hatte die Hände gefaltet und schaute ernst auf einen nervösen, kleinen, jüdischen Herrn, der an der anderen Seite des großen Mahagonischreibtisches Platz genommen hatte und seinen großen, breitkrempigen Hut im Schoß hielt.
»Rosie Goldstein«, sagte Mr. Lynne nachdenklich. »Ja, ich glaube, ich kann mich auf den Namen besinnen.«
Er klingelte, und ein junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe erschien in der Tür.
»Bringen Sie mir mein Engagementsbuch, Mr. Mandez.«
»Sie müssen wissen, Mr. Lynne«, sprach der Besucher auf den Agenten ein, »daß ich nicht die geringste Kenntnis davon hatte, daß meine Tochter Rosie so weit über See gehen wollte, bis eine ihrer Freundinnen mir sagte, sie wäre zu Ihnen gegangen und hätte hier ein Engagement für Südamerika erhalten.«
»Ich verstehe vollkommen. Sie hat Ihnen also nicht gesagt, daß sie fortgehen wollte?«
»Nein.«
Der junge Mann kam mit einem großen Buch zurück. Mr. Lynne wandte langsam die einzelnen Blätter um und fuhr mit dem Finger die Liste der Namen entlang.
»Hier haben wir sie schon«, sagte er dann. »Rosie Goldstein. Ja, ich besinne mich jetzt ganz genau auf die junge Dame. Aber sie erklärte mir, sie sei eine Waise.«
Goldstein nickte.
»Das hat sie wohl getan, weil sie fürchtete, ich würde sie nicht fortreisen lassen«, sagte er dann mit einem Seufzer der Erleichterung. »Aber solange ich weiß, wo sie ist, mache ich mir nicht soviel Sorgen. Können Sie mir ihre augenblickliche Adresse sagen?«
Lynne schloß das Buch sorgfältig und sah seinen Besucher liebenswürdig an.
»Ich habe ihre gegenwärtige Adresse nicht«, entgegnete er freundlich. »Aber wenn Sie ihr einen Brief schreiben wollen, so adressieren Sie nur bitte an mich. Ich werde ihn dann zu unseren Agenten nach Buenos Aires senden. Die werden natürlich wissen, wo sie sich augenblicklich aufhält. Sie müssen bedenken, daß ich mit vielen größeren und kleineren Theatern in Verbindung stehe und daß ich mich nicht darum kümmern kann, wo die einzelnen Künstler zur Zeit auftreten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie augenblicklich weiter im Lande ist.«
»Ja, das begreife ich vollkommen«, sagte Mr. Goldstein dankbar.
»Sie hätte Ihnen aber unter allen Umständen sagen müssen, was sie vorhatte«, meinte Mr. Lynne und schüttelte den Kopf.
In Wirklichkeit meinte er ja, daß sie es ihm hätte sagen müssen.
»Aber auf alle Fälle werde ich sehen, was wir in dieser Angelegenheit tun können.«
Er reichte Mr. Goldstein seine kleine, fleischige Hand, und Mr. Mandez begleitete den Herrn bis zur Tür.
Drei Minuten später saß Mr. Lynne einer hübschen jungen Dame gegenüber, die schon einige Bühnenpraxis besaß. Sie war mit einer Truppe, die in Revuen auftrat, auf Reisen gewesen. Als sie alles über ihre bisherige kurze Theaterlaufbahn erzählt hatte, kam Mr. Lynne zu der entscheidenden Frage.
»Was sagen denn Ihr Vater und Ihre Mutter dazu, daß Sie so weit in die Welt hinausgehen wollen?« Er schaute sie mit seinem wohlwollenden Lächeln an.
»Ich habe keine Eltern mehr.«
Mr. Lynne sah, daß sie sehr ernst geworden war und daß ihre Lippen zitterten. Daraus schloß er, daß sie erst kürzlich einen schweren Verlust erlitten haben mußte.
»Aber Sie haben doch sicher noch Geschwister oder nahe Verwandte?«
»Nein, auch nicht. Ich stehe ganz allein in der Welt, Mr. Lynne. Sie werden mich doch hoffentlich engagieren?« fragte sie bittend.
Natürlich war Mr. Lynne entschlossen, sie zu engagieren. In Wirklichkeit brachten ja die kleineren Artisten, die er nach Südamerika schickte, unendlich viel mehr ein als die großen Nummern, deren Namen in London und in der ganzen Welt bekannt waren.
»Ich werde Ihnen morgen meinen Bescheid zukommen lassen«, sagte er wie gewöhnlich.
»Sie haben doch nichts gegen mich? Bitte engagieren Sie mich doch.«
Er lächelte.
»Nun, dann will ich Ihnen jetzt schon zusagen, Miss Hacker. Sie brauchen sich deswegen keine Sorge zu machen. Ich werde Ihnen den Kontrakt zuschicken – aber es ist eigentlich besser, Sie kommen persönlich her und unterzeichnen hier.«
Das Mädchen eilte mit beflügelten Schritten die Treppe hinunter zum Leicester Square. Ihr Herz jubilierte. Sie hatte ein Engagement in Aussicht, und ihr Honorar war dreimal größer als das größte Gehalt, das sie jemals früher erhalten hatte! Am liebsten hätte sie allen Leuten, denen sie begegnete, von ihrem Glück mitgeteilt. Und doch hätte sie sich nicht im Traum einfallen lassen, daß sie schon ein paar Augenblicke später einem vollständig fremden Menschen all ihre frohen Hoffnungen erzählen würde.
Er sah hübsch aus, war tadellos gekleidet und machte den Eindruck eines Ausländers. Sein Gesicht war so freundlich und gütig, daß Kinder sofort Zutrauen zu ihm fassen konnten – eine Eigenschaft, die kein Psychologe bisher analysiert hat.
Sie machte seine Bekanntschaft buchstäblich durch einen Zufall. Er stand am Fuß der Treppe, als sie herunterkam. In ihrer großen Freude verfehlte sie eine Stufe und fiel ihm in die Arme.
»Entschuldigen Sie, bitte, es tut mir sehr leid«, sagte sie lächelnd.
»Sie sehen aber gerade nicht sehr traurig aus – im Gegenteil, Sie sehen wie eine junge Dame aus, die eben ein sehr vorteilhaftes Engagement nach Übersee erhalten hat.«
Sie starrte ihn an. »Woher wissen Sie denn das?«
»Das weiß ich, weil