Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace
Читать онлайн книгу.Ich werde nach Südamerika gehen. Es ist eine außerordentliche Gelegenheit für mich. Gehören Sie auch zur Bühne?«
»Nein, ich bin kein Schauspieler und habe auch sonst nichts mit Theater zu tun. Aber ich kenne die Länder sehr gut, in die Sie gehen wollen. Möchten Sie gerne etwas über Argentinien hören?«
Sie sah ihn etwas erstaunt an.
»Ach ja«, sagte sie zögernd, »aber ich –«
»Ich möchte eine Tasse Tee trinken, kommen Sie doch bitte mit«, forderte Leon sie liebenswürdig auf.
Obgleich sie weder den Wunsch hatte, Tee zu trinken, noch sich mit ihm zu unterhalten, übte seine Persönlichkeit doch eine solche Anziehungskraft auf sie aus, daß sie die Einladung annahm. In demselben Augenblick unterhielt sich Mr. Lynne mit seinem dunkelhäutigen Angestellten.
»Fonso, sie ist wirklich eine ausgesuchte Schönheit.« Dabei küßte der sonst so nüchterne und ruhige Mann ekstatisch die Spitzen seiner Finger.
Es war das drittemal, daß Leon Gonsalez das elegante Büro Mr. Homer Lynnes in der Panton Street besuchte.
Früher bestand einmal eine Organisation, die man »Die Vier Gerechten« nannte. Sie hatten sich zusammengefunden zu dem Zweck, Gerechtigkeit an denen auszuüben, die das Gesetz verschont oder übersehen hatte, und der Ruf ihrer kühnen Taten war in die ganze Welt gedrungen. Einer von ihnen war allerdings schon gestorben, und von den dreien, die noch übrigblieben, hatte sich Poiccart, den man früher das Gehirn der vier nannte, zu einem stillen Leben nach Sevilla zurückgezogen. Vor kurzem hatte er einen Brief von einem Landsmann aus Rio de Janeiro erhalten, der allerdings nicht wußte, daß er zu den Vier Gerechten gehörte. Dieser schrieb ohne besondere Absicht, aber mit großer Erbitterung über gewisse Vorkommnisse. Poiccart wechselte verschiedene Briefe mit ihm und erfuhr dadurch, daß die meisten der hübschen jungen Engländerinnen, die in den obskuren Tanzhallen kleiner Städte aufgetaucht waren, durch die Agentur des ehrenwerten Mr. Lynne engagiert worden waren. Poiccart hatte seinen beiden Freunden in London darüber berichtet.
»O ja, es ist ein ausgezeichnetes Land«, sagte Leon Gonsalez und rührte nachdenklich seinen Tee um. »Sie sind natürlich sehr zufrieden mit Ihrem Engagement?«
»Es ist einfach wundervoll. Denken Sie, ich werde wöchentlich zwölf Pfund erhalten, außerdem Wohnung und Essen. Ich kann fast das ganze Geld sparen.«
»Wissen Sie eigentlich schon, wo sie auftreten werden?«
»Ich kenne doch das Land nicht«, antwortete sie lächelnd. »Es ist sehr beschämend für mich, aber ich kenne nicht eine einzige Stadt in Argentinien.«
»Es gibt auch nur wenig Leute, die darüber Bescheid wissen. Aber Sie haben wahrscheinlich schon einmal etwas von Brasilien gehört?«
»O ja, das ist ein kleines Land in Südamerika. Das weiß ich.«
»Wo die Nüsse herkommen«, scherzte Leon. »Nein, da irren Sie. Es ist kein kleines Land, es ist so breit wie von hier bis zur Mitte von Persien und so groß wie von Brighton bis zum Äquator. Haben Sie jetzt ungefähr einen Begriff von der Größe Brasiliens?«
Sie sah ihn staunend an.
Leon fuhr fort, ihr zu erzählen, aber er beschränkte sich auf Nachrichten über das Klima dieser Länder. Nicht ein einziges Mal erwähnte er ihren Kontrakt. Die eigentliche Absicht seines Zusammenseins mit ihr kam ans Tageslicht wenn sie auch nichts davon merkte –, als er sich von ihr verabschiedete!
»Ich werde Ihnen ein Buch schicken, Miss Hacker, das Sie sicherlich interessieren wird, wenn Sie nach Argentinien gehen. Sie finden darin alle Informationen, die Sie brauchen.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, sagte sie dankbar. »Darf ich Ihnen meine Adresse geben, damit das Buch auch ankommt?«
Weiter wollte Leon nichts erreichen. Er steckte den kleinen Zettel, auf den sie sie geschrieben hatte, in seine Brieftasche, und sie trennten sich.
George Manfred, der sich einen kleinen Zweisitzer gekauft hatte, wartete vor der Nationalgalerie auf ihn, und sie fuhren nach Kensington Gardens. Die Restaurationsräume dort waren zu dieser Zeit sehr wenig besucht. Sie ließen sich an einem einsamen Tisch nieder, und Leon erzählte von dem Erfolg seines Besuches.
»Es war außerordentlich günstig, daß ich eins seiner Opfer getroffen und kennengelernt habe.«
»Hast du denn Lynne selbst gesehen?«
Leon nickte.
»Nachdem ich mich von dem Mädchen verabschiedet hatte, besuchte ich ihn noch. Es war recht schwer, an diesem mexikanischen Herrn vorbeizukommen – ich glaube, er heißt Mandez –, aber schließlich saß ich doch Lynne gegenüber. Ich spiele wirklich nicht Banjo«, fuhr er lachend fort, »ich gebe dir in allem Ernst die feierliche Erklärung, mein lieber George. Das Banjo ist für mich ein schreckliches Instrument –«
»Du willst also mit anderen Worten sagen, daß du dich als einen Banjosolisten vorgestellt hast, der um ein Engagement in Südamerika bat?«
»Du hast es erraten. Und ich brauche dir wohl kaum zu sagen, daß er mich nicht nahm. Aber der Mann ist tatsächlich interessant.«
»Für dich sind alle Menschen interessant, Leon«, sagte Manfred lachend, stellte seine Kaffeetasse beiseite und steckte sich eine lange, dünne Zigarre an.
»Ich hätte dem Kerl am liebsten gesagt, daß er seiner ganzen Veranlagung nach eigentlich ein richtiger Brandstifter ist. Er hat das Gesicht eines Mordbrenners – Lombroso hat diesen Typ am genauesten beschrieben. Eine fleckenlose, zarte Haut, ein plumpes, kindliches Gesicht, außergewöhnlich feine Haare. Man kann solche Leute unter Tausenden herausfinden.«
Er strich sich das Kinn und runzelte die Stirn.
»Diese Kerle leben von der Zerstörung menschlichen Glücks und profitieren davon. Ich glaube, dieser Menschentyp ist zu allen Verbrechen fähig. Ich würde gerne einmal mit unserem Freund Poiccart hierüber sprechen.«
»Kann er nicht gesetzlich belangt werden?« fragte Manfred. »Können wir ihn nicht einfach anzeigen?«
»Nein, wir haben durchaus keine Handhabe gegen ihn. Der Mann ist wirklich ein Agent. Die Namen von ausgezeichneten Künstlern stehen in seinen Engagementsbüchern, und sie geben ihm alle das beste Zeugnis. Die Lüge, die nur halb eine Lüge ist, kann man leichter entdecken als einen Verbrecher, der nur halb ein Verbrecher ist. Wenn der Hauptkassierer der Bank von England zum Falschmünzer würde, so würde er der erfolgreichste Fälscher der Welt werden. Dieser Mr. Lynne hat sich nach allen Seiten hin gesichert. Ich habe vor einigen Tagen mit einem jüdischen Herrn gesprochen, einem kleinen, lebhaften Mann namens Goldstein, dessen Tochter vor sieben oder acht Monaten abgereist ist. Er hat bis jetzt noch nichts von ihr gehört, und er sagte mir, daß Mr. Lynne sehr erstaunt war, als er erfuhr, daß sie einen Vater hatte. Er machte seine Geschäfte am liebsten und eigentlich prinzipiell nur mit alleinstehenden Mädchen.«
»Hat Lynne dem Mann die Adresse seiner Tochter mitgeteilt?«
Leon zuckte die Schultern.
»Argentinien ist ein Land mit annähernd drei Millionen Quadratkilometern – wie soll man sie da finden? Cordova, Tucuman, Mendoza, Salta, Santa Fe, Rosalio – das sind nur ein paar Städte, und es gibt Hunderte von Plätzen, wo die kleine Goldstein jetzt tanzen mag. Und diese kleineren Orte haben weder einen englischen noch einen amerikanischen Konsul. Es ist entsetzlich, daran zu denken, George.«
Manfred sah nachdenklich auf den grünen Rasen des Parks.
»Wenn wir nur ganz sicher wären«, fuhr Gonsalez fort. »Es wird allerdings zwei Monate dauern, bevor wir es genau feststellen können, aber das Geld würde sich sicher lohnen. Unsere junge Freundin wird mit dem nächsten Postdampfer nach Südamerika abfahren. Du sagtest doch vor einiger Zeit, daß du gern wieder einmal nach Spanien gehen würdest? Ich glaube, ich werde die Reise nach Südamerika machen.«
»Das wird das beste sein. Ich sehe keine Möglichkeit, gegen den Mann vorzugehen, wenn du dich nicht