Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace

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Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace


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fuhr er mit dem Taschenmesser durch das Gesicht des Mannes, der mit einem lauten Aufschrei zurückprallte.

      »Sie sind einfach ein unartiger Bengel.« Jones betrachtete seine Nägel. »Und wenn ich Ihnen sage, daß Sie nach Sandown kommen sollen, so werden Sie dort sein!«

      Nachdem er das gesagt hatte, ging er fort.

      Tom zog sein Taschentuch heraus und tupfte damit sein blutendes Gesicht ab. Leon sah zwei lange, klaffende Schnittwunden. Mr. Jones wußte ganz genau, wie weit er schneiden durfte, ohne größere Verletzungen hervorzurufen, aber die Wunden waren häßlich und schmerzhaft.

      Der Verwundete schaute Jones haßerfüllt nach. Aber Leon wußte doch, daß er sich am nächsten Donnerstag in Sandown melden würde, wie ihm aufgetragen war.

      Dieses Schauspiel war für Leon Gonsalez unendlich interessant gewesen, und als er nach Hause kam, war er noch ganz erfüllt von seinem Erlebnis.

      Manfred hatte seinen Zahnarzt aufgesucht, aber sobald er zurückkehrte, begann Leon zu erzählen.

      »Das ist wirklich der interessanteste Mensch, den ich bisher in meinem Leben gesehen habe, George«, sagte er begeistert. »Ich habe einen unheimlichen Atavismus an ihm beobachtet! Das ist ja ein Überbleibsel aus dem Mittelalter, wie man ihm heute nur noch selten begegnet. Du erinnerst dich doch noch an den Schäfer, den wir damals in der Nähe des Escorial trafen? Er kommt diesem Menschen noch am nächsten. Spaghetti Jones ist der Führer einer Bande, die auf den Rennplätzen die Buchmacher erpreßt. Sein Spitzname kommt von seiner italienischen Abstammung, außerdem lebt er im italienischen Viertel. Aus der Unregelmäßigkeit seiner Gesichtszüge und seinem dicken, vollen Kinn möchte ich beinahe schließen, daß in seiner Familie Geisteskrankheit erblich ist. Sicher aber ist er von mütterlicher Seite aus epileptisch veranlagt.«

      Manfred fragte nicht, wie Leon dazu gekommen war, alle diese Entdeckungen zu machen. Er wußte genau, daß sein Freund rastlos tätig war, wenn er einmal die Spur eines interessanten Falles aufgenommen hatte. Er gab sich erst zufrieden, wenn alle Einzelheiten klargelegt waren.

      »Er hat vermutlich schon seine Akten bei Scotland Yard?«

      Gonsalez lachte belustigt auf.

      »Da irrst du, mein lieber Manfred. Er ist noch niemals verurteilt worden, und es wird wahrscheinlich auch niemals dazu kommen. Ich traf einen kleinen Buchmacher im Silberring – so heißen nämlich die Leute, bei denen die kleineren Wetten abgeschlossen werden –, der seit Jahren diesem Verbrecher Tribut zahlt. Der Buchmacher war sehr verärgert und hatte sich bezecht, sonst hätte ich überhaupt nichts aus ihm herausbekommen. Ich habe ihn zu einem Gasthaus in Cobham mitgenommen, wo ich mit ihm allein war. Er trank so viel Geneverschnaps, bis er das heulende Elend bekam und mir unter Tränen alles erzählte, was seine Seele beschwerte.«

      Manfred lächelte und klingelte, um das Abendessen zu bestellen.

      »Das Gesetz wird ihn schon früher oder später erwischen«, meinte er. »Ich habe großes Zutrauen zu den englischen Gerichten. Hier werden die Verbrecher in viel größerem Maße zur Rechenschaft gezogen als in irgendeinem anderen Land.«

      »Glaubst du das wirklich?« erwiderte Leon skeptisch. »Ich möchte doch gern einmal mit dem liebenswürdigen Mr. Fare über Mr. Jones sprechen.«

      »Da hast du ja morgen eine schöne Gelegenheit, wir speisen doch abends mit ihm im Metropolitan.«

      Ihre Empfehlungsschreiben als spanische Kriminologen hatten sie mit Mr. Fare bekannt gemacht, und sie hatten gegenseitig viel voneinander erfahren und lernen können. Besonders Mr. Fare war den beiden sehr dankbar.

      Als sie am nächsten Abend nach dem Essen eine Zigarre rauchten und die meisten Gäste zum Tanzsaal gingen, erzählte Leon von seinem Erlebnis.

      Mr. Fare nickte.

      »O ja, dieser Spaghetti Jones ist eine harte Nuß für uns. Wir haben ihn noch niemals fangen können, obgleich wir genau wissen, daß er an verschiedenen recht bösen Verbrechen beteiligt ist. Er ist unheimlich schlau, obwohl ihm jede Bildung fehlt. Unbarmherzig und rücksichtslos übt er die Herrschaft über seinen kleinen Kreis aus. Es ist uns noch niemals gelungen, einen Mann zu fassen, der gegen ihn als Zeuge aufgetreten wäre. Und er ist selbstverständlich nie auf frischer Tat ertappt worden.«

      Mr. Fare streifte die Asche seiner Zigarre in die Schale und sah nachdenklich auf die Tischdecke.

      »In Amerika besteht eine italienische Organisation, die sich die ›Schwarze Hand‹ nennt. Vermutlich wissen Sie das schon? Es ist eine Organisation von Erpressern. Glücklicherweise haben wir von dieser Bande in unserem Lande noch nichts zu spüren bekommen, wenigstens darf ich sagen, daß dies bis vor kurzem der Fall war. Aber ich habe allen Grund zu der Annahme, daß Spaghetti Jones in Verbindung mit dem einen Fall steht, der uns kürzlich gemeldet wurde.«

      »Wie, hier in London?« fragte Manfred überrascht. »Ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß sie es auch in England versuchen.«

      »Es kann natürlich eine Täuschung sein, aber ich habe einige meiner besten Leute seit einem Monat auf die Spur der Verbrecher gehetzt, die diese Drohbriefe schreiben. Bis jetzt haben wir jedoch nicht den geringsten Erfolg zu verzeichnen. Als ich mich heute morgen anzog, kam mir der Gedanke, ob es nicht ratsam wäre, Sie für diesen Fall zu interessieren. Ich muß wirklich gestehen, daß wir in derartigen Dingen nur wenig Erfahrung haben. Ist Ihnen die Gräfin Vinci bekannt?«

      Zu Leons größtem Erstaunen nickte Manfred.

      »Ich habe sie vor ungefähr drei Jahren in Rom getroffen«, sagte er. »Sie ist die Witwe des Grafen Antonio Vinci, nicht wahr?«

      »Ja, sie ist eine Witwe und hat einen kleinen Sohn von neun Jahren«, entgegnete Mr. Fare. »Sie wohnt am Berkeley Square. Eine sehr reiche Dame und außerordentlich liebenswürdig. Etwa vor zwei Wochen erhielt sie den ersten Brief, der an Stelle der Unterschrift ein schwarzes Kreuz trug. Andere Schreiben folgten. Sie waren in einer wunderbar feinen Schrift geschrieben, und dieser Umstand lenkte den Verdacht auf Spaghetti Jones, der in seinen jungen Jahren Schriftzeichner war.«

      Leon nickte lebhaft.

      »Natürlich ist es ganz unmöglich, eine derartige Schrift zu identifizieren«, sagte er bewundernd, »denn sie sieht beinahe wie gedruckt aus. Das ist eine neue, ganz besonders geniale Methode. Aber ich habe Sie unterbrochen, entschuldigen Sie bitte. In den Briefen wurde doch sicher Geld verlangt.«

      »Natürlich wollten die Leute Geld haben und bedrohten die Gräfin, falls sie das Geld nicht an die angegebene Adresse senden würde. Und hier zeigte sich die maßlose Frechheit von Jones und seinen Komplicen. Jones betreibt in aller Öffentlichkeit das Geschäft eines Nachrichtenagenten. Er hat einen kleinen Laden in Notting Hill, wo er Morgen- und Abendzeitungen verkauft. Außerdem ist er eine Art Lokalagent für berufsmäßige Auskunftgeber über Wetten, deren Plakate man ja manchmal in solchen Läden sieht. Und obendrein dient sein Geschäft noch zur Vermittlung von Briefen, die unter Deckadressen geschrieben werden.«

      »Das heißt, daß Leute, die bestimmte Briefe nicht in ihre Wohnung geschickt haben wollen, sie dort abholen können?« fragte Manfred.

      Mr. Fare nickte.

      »Im allgemeinen werden zwei Pence für den Brief berechnet. Das Gesetz sollte derartige Gebräuche verbieten, denn auf diese Art ist dem Betrug Tür und Tor geöffnet. Die Schlauheit dieser Maßnahme ist ganz offensichtlich. Spaghetti Jones bekommt den Brief natürlich für irgendeinen seiner Kunden. Er ist in seiner Hand, und er kann ihn je nach Belieben öffnen oder geschlossen lassen, so daß er intakt ist, wenn die Polizei den Laden kontrolliert. Neulich haben wir das getan. Wenn es uns nicht gelingt, zu verhindern, daß die Briefe ihn erreichen, sind wir überhaupt machtlos. Der Name des Mannes, an den das Geld von der Gräfin geschickt werden sollte, war ›H. Frascati, p. Adr. John Jones‹. Unser Freund hat natürlich das Antwortschreiben der Gräfin mit all den anderen Briefen erhalten, die täglich bei ihm einlaufen und dann abgeholt werden. Wir beobachteten seinen Laden den ganzen Tag, und als unser Mann abends im Laden erschien, wurde ihm gesagt, daß der Brief bereits abgeholt sei. Der Beamte konnte natürlich nicht jeden durchsuchen,


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