Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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glauben, man muß sich alles gefallen lassen. Und dazu bin ich nicht der Mensch. Von niemand. Verstehst du, Mutter? Und wenn ich nach Amerika gehen möcht’, ging’ ich von selber. Verschicken lass’ ich mich nicht. Das kannst deinem – das kannst dem Herrn sagen.«

      Therese blieb ganz ruhig. »Es war gut gemeint von ihm,« sagte sie – »kannst mir glauben.«

      »Was war gut gemeint?« fragte er grob.

      »Das mit Amerika. Übrigens kannst du unbesorgt sein, es wird nicht mehr vorkommen. Der Herr – mein Bräutigam – ist vor drei Wochen gestorben.«

      Er sah sie an, ungläubig zuerst, als mutete er ihr zu, daß sie sich durch eine Unwahrheit vor neuen Forderungen sicherstellen wollte. Doch auf ihrer blassen Stirn, in ihren vergrämten Mienen vermochte sogar er zu lesen, daß es kein Vorwand, keine Lüge war. Er aß weiter, sprach nichts, dann zündete er sich eine Zigarette an. Und nun erst – und so kalt und gleichgültig es auch klang und wohl auch gedacht war –, Therese hörte doch das erstemal irgend etwas wie Mitgefühl aus seinem Ton: »Hast auch kein Glück, Mutter.«

      Dann erklärte er, daß er zu müde sei, um noch sein entlegenes Quartier aufzusuchen, streckte sich, wie er war, auf den Diwan hin, schlief bald ein und war am nächsten Tage fort, ehe Therese erwacht war.

      353 Doch zu Mittag schon, mit einem kleinen, schmutzigen Pappendeckelkoffer, war er wieder zur Stelle, logierte sich bei der Mutter ein, auf drei Tage, wie er erklärte, bis er seinen neuen Posten antreten könne, über dessen Natur er weiter nichts verlauten ließ. Therese erreichte immerhin von ihm, daß er sich vom Hause fernhielt, während sie unterrichtete. Doch sie konnte sich nicht dagegen helfen, daß ein Freund und eine Freundin – es mochten auch drei oder vier Menschen sein, von denen sie übrigens keinen zu Gesicht bekam – die halbe Nacht trinkend, flüsternd, lachend bei ihm verbrachten. Was sie noch an Lebensmitteln daheim besaß, lieferte sie ihm für seine Gastereien aus. Am vierten Morgen wartete er ihr Erwachen ab, erklärte, daß er ihr nun weiter nicht mehr zur Last fallen werde, und verlangte Geld. Sie gab ihm, was sie eben zu Hause hatte, den größeren Teil ihrer Barschaft hatte sie vorsichtigerweise in die Sparkasse getan. Es war ihr Glück, denn Franz scheute sich nicht, ehe er ging, Schrank und Kommode zu durchstöbern. Und nun blieb er viele Wochen lang für sie verschwunden.

       Inhaltsverzeichnis

      Die Tage gingen hin, und der Pfingstsonntag kam, an dem die Hochzeit hätte stattfinden sollen. Sie benützte ihn, um Wohlscheins Grab zu besuchen, auf dem noch neben verwelkten Totenkränzen ohne Namen und Schleife auch ihr eigener kleiner Veilchenstrauß lag. Lange stand sie da unter einem klaren, blauen Sommerhimmel, ohne zu beten, fast ohne zu denken, ja, ohne eigentlich traurig zu sein. Jenes Wort ihres 354 Sohnes, das einzige, in dem sie gleichsam sein Herz klingen gehört hatte, tönte in ihr nach: »Hast auch kein Glück, Mutter.« Aber in der Erinnerung bezog es sich nicht eben, und keineswegs allein, auf den Tod ihres Bräutigams, sondern vielmehr auf ihr ganzes Dasein. Wahrhaftig, sie war nicht auf die Welt gekommen, um glücklich zu sein. Und als verehelichte Frau Wohlschein wäre sie es gewiß so wenig geworden als auf jede andere Weise. Daß jemand starb, das war am Ende nur eine jener hundert Arten, unter denen einer verschwindet oder sich davonstiehlt. Es waren so viele tot für sie, Gestorbene und Lebendige. Der Vater war es, der nun schon so lange moderte, Richard, der ihr von allen Männern, die sie geliebt, doch der Nächste gewesen; doch auch die Mutter war es, der sie wenige Tage vor Wohlscheins Hinscheiden von der bevorstehenden Vermählung Mitteilung gemacht, die es aber kaum zur Kenntnis genommen und immer nur mit großer Wichtigkeit von ihrem »literarischen Nachlaß« gesprochen, den sie der Stadt Wien zu vererben gedachte; auch der Bruder, der seit seinem letzten unerwünschten Erscheinen nichts mehr von sich hatte hören und sehen lassen; auch Alfred, der einst ihr Geliebter und Freund gewesen, auch ihr verlorener Sohn, der Zuhälter und Dieb; und Thilda, die in Holland hinter hohen, blanken Fensterscheiben träumte und des Fräuleins längst nicht mehr dachte; und die vielen Kinder, – Buben und Mädchen, denen sie Lehrerin und manchmal fast Mutter gewesen; die vielen Männer, denen sie gehört hatte, – sie waren alle tot. Und fast war es, als wollte sich dieser Herr Wohlschein etwas darauf zugute tun, daß er so unwiderruflich unter diesem Hügel ruhte, und 355 als bildete er sich ein, richtiger tot zu sein als die andern alle. Ach nein, sie hatte keine besonderen Tränen für ihn. Die sie jetzt weinte, die flossen für so viele andere; – und vor allem weinte sie sie wohl für sich selbst. Und vielleicht waren es nicht einmal Tränen des Schmerzes, nur Tränen der Müdigkeit. Denn müde war sie, wie sie es noch niemals gewesen; manchmal überhaupt nichts mehr als nur müde. Jeden Abend sank sie so schwer ins Bett, daß sie dachte, sie werde irgend einmal aus lauter Müdigkeit ins Nichts hinüberschlafen.

      Aber so leicht sollte es ihr nicht werden. Sie lebte und sorgte sich weiter. Zweimal geschah es, daß sie Franz wieder aushelfen mußte. Das erstemal kam er selbst am hellichten Tag mit seinem kleinen Koffer angerückt, während sie eben Schülerinnen bei sich hatte. Er wollte sich neuerdings bei ihr einmieten. Sie wies ihn ab, ließ ihn nicht einmal zur Türe herein, doch um Schlimmeres zu vermeiden, blieb ihr nichts übrig, als ihm alles zu geben, was sie noch an Bargeld im Hause hatte. Das nächstemal erschien nicht er selbst, sondern zwei seiner Freunde. Sie sahen aus wie eben seinesgleichen, redeten wirres und hochtrabendes Zeug, behaupteten, des Kameraden Leben und Ehre stünden auf dem Spiel, und entfernten sich nicht früher, als bis Therese auch diesmal fast alles hergegeben hatte, was sie besaß.

      Nun aber war der Sommer da, die Stunden hatten vollkommen ausgesetzt, die letzten ersparten Gulden waren aufgezehrt, und sie verkaufte ihre unbeträchtlichen Schmuckstücke, ein schmales, goldenes Armband und einen Ring mit einem Halbedelstein, die ihr Wohlschein geschenkt hatte. Der Erlös wäre immerhin ausreichend 356 gewesen, um ihr bis zum Herbst weiterzuhelfen, und sie war sogar leichtsinnig oder kühn genug, im August für ein paar Tage aufs Land zu ziehen, an den gleichen Ort, wo sie die Weihnachtstage mit Wohlschein verbracht hatte, nur diesmal in einem einfacheren Gasthof.

      In diesen Tagen war es, daß sie für eine Weile aus ihrer Müdigkeit, aus ihrem Dahindämmern erwachte und sich vornahm, in ihr Dasein, soweit es noch möglich war, Sicherheit und Sinn zu bringen. Vor allem faßte sie den festen Entschluß, jeden weiteren Erpressungsversuch Franzens rücksichtslos abzuweisen, ja, wenn nötig, bei der Polizei gegen ihn Schutz zu suchen. Was lag daran? Man wußte ja doch überall, daß sie einen ungeratenen Sohn hatte, der sogar schon gesessen war, und niemand auf der Welt würde es ihr verübeln, wenn sie ihn endlich seinem Schicksal überließ. Und ferner nahm sie sich vor, sich wieder einmal bei früheren Schülerinnen, die zum Teil schon verheiratet waren, in Erinnerung zu bringen und Empfehlungen zu erbitten. Sie hatte sich bisher durchgebracht, es konnte ihr auch weiterhin nicht fehlen. Schon diese wenigen Tage auf dem Land, die frische Luft, die Ruhe, das Verschontsein von peinlichen und schmerzlichen Aufregungen – wie günstig wirkte es auf ihre Stimmung ein. Sie war doch nicht so verbraucht, wie sie in den letzten Monaten gefürchtet hatte; und daß sie auch als weibliches Wesen immerhin noch zählte, das erkannte sie an manchem Männerblick, der dem ihren begegnete. Und wenn sie den jungen Touristen ein wenig ermutigt hätte, der, allabendlich von seiner Bergwanderung heimkehrend, im Gastzimmer seine Pfeife 357 rauchte und immer wieder seine Augen mit Wohlgefallen auf ihr verweilen ließ, so hätte sie auch wieder ein »Abenteuer« erleben können. Aber diese Möglichkeit zu wissen, daran ließ sie sich völlig genügen. Es wäre ihr nicht recht würdig, fast wie ein Übermut, ja, wie eine Herausforderung des Schicksals erschienen, den jungen Menschen durch Künste der Koketterie an sich heranzulocken, in ihm Hoffnungen zu erwecken, die zu erfüllen sie ja doch nicht ernstlich gesonnen war.

      Eines Morgens, von ihrem Fenster aus, sah sie einen Wagen davonrollen, in dem er saß, den Rucksack zu seinen Füßen, und als hätte er geahnt, daß sie ihm nachschaute, wandte er sich plötzlich nach ihr um, lüftete mit übertriebener Gebärde den Hut mit dem Gamsbart, und sie winkte ihm einen Gruß zurück. Er aber zuckte leicht die Achseln, wie bedauernd, als wollte er sagen: »Nun ist es leider zu spät« – und fuhr davon. Ihr war einen Augenblick schmerzlich zumut. Fuhr da nicht ein Glück, vielleicht ein letztes Glück davon? Unsinn, sagte sie sich selbst


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