Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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war – reiste sie nach Wien zurück.

       Inhaltsverzeichnis

      Sie hatte, hauptsächlich aus Angst vor Franz, keine Mitteilung zurückgelassen, wohin sie gefahren war. So fand sie erst jetzt bei der Heimkehr, um beinahe acht Tage verspätet, einen Partezettel mit der Nachricht vom Tode ihrer Mutter vor; neben Bruder und Schwägerin 358 stand auch ihr Name unterzeichnet. Sie war mehr erschrocken als ergriffen. Am nächsten Morgen, zu einer Stunde, da Karl voraussichtlich nicht zu Hause sein würde, begab sie sich dahin und wurde von der Schwägerin kühl empfangen. Frau Faber machte ihr einen Vorwurf daraus, daß sie unauffindbar gewesen, der um so begründeter schien, als die Verstorbene in ihrer letzten Stunde nach der Tochter dringend verlangt habe. Nun sei man leider genötigt gewesen, alle Verfügungen ohne die Abwesende zu treffen; das Testament, in das Therese nach Belieben Einsicht nehmen könne, liege beim Notar, enthalte übrigens fast nur Bestimmungen über den literarischen Nachlaß, der in überraschender Menge vorhanden sei, mit dem aber die Gemeinde Wien als tatsächliche Erbin nichts anzufangen wisse und der vorläufig noch nicht abgeholt worden sei. Bargeld sei beinahe keines vorhanden gewesen, hingegen hatten sich einige Gläubiger, kleine Geschäftsleute aus der Nachbarschaft, gemeldet, und zur Begleichung der dringendsten Schulden sollten demnächst die geringen Habseligkeiten der Verstorbenen verkauft werden. Im unwahrscheinlichen Falle eines Überschusses würde man Therese durch den Notar verständigen lassen. Therese entging es nicht, daß die Schwägerin den Blick immer wieder nach der Türe schweifen ließ. Sie begriff, daß die Frau dem Erscheinen des Gatten mit Bangen entgegensah, und bemerkte: »Es ist wohl besser, daß ich jetzt gehe.« Die Schwägerin atmete auf. »Ich komme zu dir, sobald ich kann,« sagte sie, »aber es ist wirklich gescheiter, du triffst jetzt nicht mit Karl zusammen, du kennst ihn ja. Er war nicht einmal beim Begräbnis, in der Besorgnis, daß du vielleicht dabei sein könntest.« – 359 »Wieso stehe ich dann auf der Parte?« – »Die Parte, denke dir, die war schon vorbereitet, die hatte die Mutter schon vor ihrem Tod abgefaßt. Ich erzähl’ dir das alles nächstens ausführlich.« Und sie drängte sie beinahe zur Türe hinaus.

      Auf dem Heimweg betrat Therese nach langer Zeit wieder einmal eine Kirche. Es war ihr, als müßte sie es zum Andenken der Mutter tun, so wenig diese selbst religiöse Gebräuche jemals gehalten hatte. Und wieder geschah es ihr, wie in verflossenen Jahren so oft, daß in dem Halbdunkel des hohen, weihrauchduftenden Raumes eine wunderbare Ruhe über sie kam, eine andere und tiefere, als die Ruhe war, von der sie sich je in der Stille eines Waldes, auf einer Bergwiese, in irgendeiner anderen Einsamkeit beglückt gefühlt hatte. Und während sie mit unwillkürlich gefalteten Händen in einem Kirchenstuhle saß, erschienen ihr im Dämmer nicht nur die Gestalt der Mutter, wie sie sie zum letztenmal gesehen, auch andere Verstorbene, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, zeigten sich ihr, doch wieder nicht als Tote, sondern vielmehr wie Auferstandene, die zur ewigen Seligkeit eingekehrt waren; auch Wohlschein war unter ihnen, der ihr nun zum erstenmal nicht als ein plötzlich Dahingeraffter, als ein Verwesender vor Augen stand, sondern wie einer, der vom Himmel aus lächelnd und verzeihend zu ihr herunterblickte. Und fern, unrein, verdammt beinahe, erschienen ihr nun die Lebendigen. Nicht nur Menschen, die ihr Leid gebracht, wie ihr Bruder, ihr Sohn, wie jener jämmerliche Kasimir Tobisch einer war, und die man sich alle auch schon bei Lebzeiten als verdammt vorstellen konnte, – auch Menschen, die ihr niemals 360 Böses getan; selbst ein Wesen wie Thilda war ihr ferner, entrückter, als ihr die Toten waren, erschien ihr fremd, beklagenswert, ja, wahrhaft verdammt.

       Inhaltsverzeichnis

      Mit dem Herbst war die Schul-und Lehrzeit wieder da. Nur wenige Schülerinnen vom vergangenen Jahr meldeten sich wieder, doch es gelang Theresen, was sie geradezu als Glücksfall empfand, eine Nachmittagsstellung zu finden, und zwar zu den beiden Töchtern eines vorstädtischen Warenhausbesitzers, die sie zu unterrichten und auf Spaziergängen zu begleiten hatte. Der Vater, selbst nur mäßig gebildet und in eher bescheidenen Verhältnissen, legte um so mehr Wert darauf, seinen Kindern ein Fräulein zu halten, als die Mutter gleichfalls im Geschäfte tätig war. Die beiden Mädchen waren von freundlicher, aber etwas geistesträger Art, und manchmal, wenn Therese an sonnigen Herbstnachmittagen mit ihnen in einer nahen, recht armseligen Gartenanlage spazieren ging und mehr aus Gewohnheit und Pflichtgefühl als aus innerem Bedürfnis mit ihnen vergeblich ein Gespräch zu führen versuchte, sank jene Müdigkeit über sie nieder, die sie wohl von früher her schon kannte, die aber nun so schwer, so bedrückend auf ihr lastete, daß sie manchmal eher einer dumpfen Verzweiflung glich; und die günstige Nachwirkung des kurzen Landaufenthaltes schwand mit bedrohlicher Raschheit wieder dahin.

      Und als Franz eines Abends plötzlich erschien, nicht so unwirsch und frech wie sonst, sondern etwas kleinmütig und still, hatte sie nicht die Kraft, ihm, wie es 361 doch ihr Vorsatz gewesen, das Obdach zu verweigern, um das er sie bat. Die ersten Tage störte er sie tatsächlich wenig. Er verbrachte die Zeit auswärts, bekam auch keine Besuche und verhielt sich weiterhin so schweigsam und bedrückt, daß Therese schon nahe daran war, ihn zu fragen, was ihm eigentlich fehle. Am dritten Abend erschien er, als sie schon zu Bett gegangen war. Er war sehr eilig, behauptete, endlich ein Kabinett gefunden zu haben, das er aber sofort in dieser Nacht noch beziehen müsse, doch sei dazu ein Betrag von zehn Gulden unbedingt erforderlich, den sie ihm augenblicklich geben solle. Therese weigerte sich, erklärte, was fast die Wahrheit war, überhaupt nichts mehr zu besitzen, Franz glaubte ihr nicht – und machte Miene, unverzüglich selbst in der Wohnung Nachschau zu halten. Da er sich immer drohender benahm, hielt Therese es für das klügste, den Schrank zu öffnen und vor seinen Augen ein paar Gulden hervorzukramen, die sie zwischen Wäschestücken aufbewahrt hatte. Er zweifelte, daß dies alles sei, was sie versteckt hatte. Sie schwor ihm, daß sie ihm nun ihr Letztes gegeben, und atmete erleichtert auf, als er von weiteren Nachforschungen abstand und sich plötzlich mit auffallender Hast entfernte.

      Am nächsten Morgen wurde ihr klar, warum es Franz so eilig gehabt hatte: ein Kriminalbeamter weckte sie um sechs Uhr früh aus dem Schlaf, fragte nach Franz und erkundigte sich, ob ihr dessen neues Quartier bekannt sei, machte sie aber höflich aufmerksam, daß sie das Recht habe, die Auskunft zu verweigern. »Wir werden ihn auch so bald wieder haben«, bemerkte er freundlich und entfernte sich mit amtlich bedauerndem Blick.

      362 Nun glaubte Therese auch den letzten Rest von Gefühl für den Sohn in ihrem Herzen erloschen, und alles, was sie noch mit ihm verband, war Angst vor seiner Wiederkehr. Der böse Blick, den er auf sie gerichtet, während sie ihre paar Gulden aus dem Schrank hervorgesucht, ließ sie für ein nächstes Mal Schlimmeres befürchten. Und sie faßte den Entschluß, ihn niemals wieder, unter keiner Bedingung, in ihre Wohnung hereinzulassen, auf die Gefahr hin, die Polizei rufen zu müssen.

      Ernstliche Sorgen schlichen immer näher an sie heran. Niemals bisher hatte sie einen Menschen geradezu um Hilfe angegangen, und sie verhehlte sich nicht, daß ein solcher Versuch in ihrer gegenwärtigen Lage nichts anderes zu bedeuten hätte als eine Art von Bettelei. Und wer war denn da, von dem sie eine Hilfe erhoffen durfte? Alfred freilich hätte sie ihr nicht verweigert ; auch Thilda würde ihr in der Not sicher beistehen, aber schon der Gedanke, sich brieflich an einen von diesen beiden zu wenden, trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. Die Lektionen brachten immerhin noch so viel ins Haus, daß sie nicht hungern mußte, Neuanschaffungen erwiesen sich vorläufig nicht als notwendig, ein kärgliches Dasein war sie gewohnt, so lebte sie denn eingezogen und dürftig, aber doch, da Franz wieder einmal verschollen blieb, in leidlicher Ruhe weiter.

      Und eines Morgens im Winter erfuhr sie sogar eine wirkliche kleine Freude. Ein Brief von Thilda kam und duftete köstlich nach dem wohlbekannten Parfüm, das sie immer schon als junges Mädchen benützt hatte. »Mein liebes Fräulein Therese Fabiani,« so schrieb sie, 363 »ich denke so oft an Sie, fast so oft, als ich an den armen Papa denke. Wollen Sie nicht so gut sein, liebstes Fräulein, und das nächstemal, wenn Sie auf den Friedhof gehen, auch für mich ein paar Blumen auf sein Grab legen. Und besonders lieb wäre es von Ihnen, wenn Sie mir doch


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