Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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noch eine angebrochene Schachtel da war von Wohlscheins Zeiten her. Sie verschwand im Nebenraum für ein paar Sekunden und brachte Agnes eine Handvoll Zigaretten mit.

      »Das wird den Franz besonders freuen«, sagte Agnes und schob sie in den Muff. »Und eine darf ich selber rauchen, was?« – Therese erwiderte nichts, aber sie reichte ihr die Hand zum Abschied. Sie spürte plötzlich keinen Groll mehr gegen sie und auch keine Überheblichkeit. Es war ja wirklich kein so ungeheurer Unterschied zwischen Agnes und ihr. Hatte sie sich Herrn Wohlschein am Ende nicht auch verkauft?

      »Grüßen Sie ihn von mir, Agnes«, sagte sie milde.

      369 Im Stiegenhaus war es schon dunkel, Therese begleitete Agnes hinab; diese, ehe der Hausbesorger aufzuschließen kam, stellte den Kragen ihrer Astrachanjacke hoch, und Therese fühlte, daß es aus Rücksicht für sie geschah.

      Lange noch an diesem Abend saß sie wach. Dies hatte sie nun auch erlebt. War es am Ende etwas so Merkwürdiges? Sie hatte nun einmal einen Sohn, der ein Nichtsnutz war, sich mit Strolchen und Dirnen herumtrieb, öfters von der Polizei gesucht, manchmal auch gefunden wurde und der nun mit einem unsauberen Leiden im Inquisitenspital lag. Sie hätte sich wohl endlich darein finden können – und doch, er war ihr Sohn. Immer wieder, sie mochte sich dagegen wehren, wie sie wollte, – in ihrem eigenen Herzen schwang Mitleid, schwang Mitschuld mit, wenn er Übles litt und Übles tat. Mitschuld, ja, das war es. Seltsam freilich, daß sie in solchen Augenblicken immer nur ihrer Schuld dachte, als wäre nur sie, die ihn geboren, mitverantwortlich für alles, was er tat, und als hätte der Mann, der ihn gezeugt und sich dann ins Dunkel seines Daseins davongeschlichen, überhaupt nichts mit ihm zu tun. Nun ja, für Kasimir Tobisch war die Umarmung, in der das Kind zum irdischen Sein erweckt worden war, unter vielen eine – nicht beglückender und nicht folgenschwerer als jene andern. Er wußte ja nicht, daß der Mensch, den er in die Welt gesetzt, ein Lump war, wußte ja überhaupt nicht, daß er ein Kind hatte. Und hätte er es zufällig erfahren, was wäre ihm daran gelegen – was hätte er davon verstanden? Was hatte der verlorene Junge, der nun im Inquisitenspital lag, mit ihm, dem alternden Mann, zu tun, der nach 370 dunklen, törichten, schwindelhaften zwanzig Jahren draußen in einem Tingeltangel die Baßgeige spielte und dem Klavierspieler das Bier wegtrank? Wie sollte er Zusammenhang und Schicksal spüren, da es doch sogar ihr Mühe verursachte, sich als Wirklichkeit vorzustellen, daß aus einem flüchtigen Moment der Lust ein Mensch hervorgegangen war, der ihr Sohn war. Jene Gemeinsamkeit eines längst vergangenen Augenblicks und diese Gemeinsamkeit von heute – wie war es möglich, sie überhaupt mit dem gleichen Wort zu benennen? Und doch, was ihr durch Jahre hindurch völlig gleichgültig gewesen, nun nahm es plötzlich eine ungeahnte Bedeutung und Wichtigkeit an; als müsse von dem Augenblick an, da auch Kasimir von der Existenz seines Sohnes wüßte, ihr eigenes Leben eine neue Form, einen neuen Inhalt, einen neuen Sinn erhalten. Es war ihr zumute wie einer, die am Bette eines Schlafenden stünde, ungewiß, ob sie ihm nur leise zum Abschied über die Stirne streichen sollte, ohne seinen Schlaf zu stören, oder ihn aufrütteln zu Wachsein und Verantwortung. Und es war ihr bewußt, daß Kasimir Tobisch in Wahrheit ein Träumender war, der gerade vom Wesentlichsten seiner eigenen Existenz nichts wußte. Weiber hatte es gewiß noch manche in seinem Dasein gegeben. Er hatte vielleicht auch noch andere Kinder, wußte wohl auch von dem einen oder dem andern, denn nicht immer mochte es ihm geglückt sein, sich so rechtzeitig davonzustehlen; – aber daß eine plötzlich vor ihm stand, die er vergessen, bis auf Gesicht und Blick, vor ihm stand, zwanzig Jahre nachdem er sie verlassen, und ihm sagte: Kasimir, es ist ein Kind da von dir und mir – das wäre gewiß etwas, was ihm noch niemals 371 begegnet war. Und bildhaft beinahe sah sie es vor sich, wie sie ihn aus dem Schlaf weckte, seine Hand faßte, durch zahllose Straßen geleitete, die zugleich die verwirrten Wege seines Lebens vorstellten, wie sie mit ihm an ein Tor klopfte, das Tor des Inquisitenspitals, und ihn weiterführte ans Bett eines kranken Jungen, der sein Sohn war; wie er die Augen auftat, staunend und weit, gleichsam zu verstehen begann, am Bett seines unglücklichen Sohnes hinsank, sich nach ihr zurückwandte, ihre Hand ergriff und flüsterte: Verzeih mir, Therese.

       Inhaltsverzeichnis

      Am ersten Weihnachtsfeiertage fuhr sie auf den Friedhof. Es war ein trügerisches Frühlingswetter. Ein lauer Wind wehte über die Gräber, und die Erde war durchweicht von geschmolzenem Schnee. Sie hatte Astern mitgebracht, weiße für Thilda, violette für sich selbst. Sie fand das Grab Wohlscheins nicht so leicht wieder, als sie geglaubt hatte. Noch war der Grabstein nicht gesetzt, und nur eine Nummer verriet ihr, wo der Vater Thildas begraben lag. Thildas Vater, – daran dachte sie früher, als daß es ihr Geliebter war, der hier den ewigen Schlummer schlief. Nun wären wir fast dreiviertel Jahre verheiratet, fiel ihr ein. Ich säße heute in einem wohlgeheizten, hübsch eingerichteten Raum und sähe wie Thilda durch ein blankes Fenster auf die Straße hinaus und hätte keine Sorgen. Doch sie empfand kaum ein Bedauern, daß es nicht so gekommen war, und ohne jede Zärtlichkeit gedachte sie des Toten. Bin ich so undankbar? fragte sie sich, so gefühlskalt, so ausgelöscht? Ungerufen stiegen in ihrem 372 Gedächtnis Gestalten anderer Männer auf, denen sie gehört hatte, und sie wußte heute, daß es immer nur solche Erinnerungen an andere gewesen waren, die auch ihren Liebesstunden mit Wohlschein flüchtige Lust geliehen hatten.

      Und mit einemmal – doch ihr schien, als wäre sie sich auch zu seinen Lebzeiten solcher Einsicht oft bewußt geworden – fragte sie sich, ob ihr Geliebter diese immer sich wiederholende, hinterhältige Untreue nicht im Innersten geahnt und in einem Augenblick, da ihm seine traurige Rolle beschämend zu Bewußtsein gekommen, an dieser Erkenntnis zerbrochen und, wie man es eben ausdrückte, an Herzschlag gestorben war? Oh, es gab solche Zusammenhänge, das fühlte sie. Geheimnisvolle, tief verborgene Schuld gab es, die zuweilen nur flackernd in der Seele aufleuchtet und gleich wieder verlischt – und ihr war, als wenn die Mitschuld an Wohlscheins Ende nicht die einzige wäre, die wie eine unsichere, bleiche Flamme auf dem tiefsten Grund ihrer Seele schwelte. Das Wissen von einer schwereren, dunkleren Schuld schlummerte in ihr; und nach langer, langer Zeit dachte sie wieder einmal einer fernen Nacht, da sie ihren Sohn geboren und umgebracht hatte. Dieser Tote aber gespensterte immer noch in der Welt herum. Nun lag er in einem Bett des Inquisitenspitals und wartete, daß seine Mutter, seine Mörderin käme, ihre Schuld zu bekennen.

      Die violetten und die weißen Astern sanken ihr aus der Hand, und mit weit aufgerissenen Augen, wie eine Wahnsinnige, starrte sie ins Leere.

      Und doch war es dieselbe, die am Abend dieses gleichen Tages im Familienkreise des Warenhausbesitzers 373 an einem wohlgedeckten Tische saß und mit Mann und Frau sowie einem gleichfalls zu Gast geladenen kleinbürgerlichen Ehepaar über mancherlei Dinge des Alltags, über das Schneewetter, über Marktpreise, über den Unterricht an Bürger-und Volksschulen sprach und ihrer Toten kaum gedachte.

       Inhaltsverzeichnis

      In den nächsten Tagen erwog sie, ob sie an Kasimir Tobisch schreiben sollte. Er hieß vielleicht nicht einmal so. Keineswegs war es sicher, ob er sich so oder anders nannte. Ferner war es möglich, daß er von dem Brief überhaupt keine Notiz nehmen würde, um so weniger vielleicht, je mehr er vermutete, wer ihn abgeschickt. So schien es ihr am Ende das klügste, ihn nach der Vorstellung abzupassen. Sie konnte ja auch tun, als begegne sie ihm zufällig.

      Und eines Abends um elf Uhr strahlte ihr das erleuchtete Schild des »Universum« entgegen. Unter der Einfahrt stand ein riesiger Portier in einer abgetragenen grünen Livree mit goldenen Knöpfen, einen langen Stock mit silberner Tresse in der Faust. Die Vorstellung war noch nicht aus. Therese suchte nach der Türe, durch die Kasimir Tobisch das Lokal verlassen müßte. Sie war leicht gefunden: um die Ecke, die Straße weiter, um die nächste Ecke, in eine andere kaum beleuchtete Straße, da stand über einer halb verglasten Tür zu lesen: »Eingang für Mitwirkende«. Eben kam eine Frauensperson heraus, ein mageres, ordinär aussehendes Geschöpf in einem armseligen, viel zu dünnen Regenmantel, und verschwand um die Ecke. Nun, ihr eigener 374 Mantel war dem Schneewetter


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