Josef Dietzgens philosophische Lehren. Adolf Hepner
Читать онлайн книгу.unbewußt«. Er will »die allgemeine Natur des Denkprozesses enthüllen, weil diese Erkenntnis uns die Mittel an die Hand gibt, alle die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens wissenschaftlich zu lösen und zu einem fundamentalen Standpunkt, zu einer systematischen Weltanschauung zu gelangen, welche das langerstrebte, aber nie erreichte Ziel der spekulativen Philosophie war«.
Unser Autor behandelt zunächst »die reine Vernunft oder das Denkvermögen im allgemeinen«, die allgemeine Natur des Denkprozesses, in dessen Erkenntnis, wie er in einer späteren Schrift mit Recht sagen darf, »das Fundament aller Wissenschaft liegt«. Dann geht er zum »Wesen der Dinge« über unter begründeter Abweisung von Kants »Ding an sich«, das heißt der Kantschen Theorie, daß hinter dem von uns Wahrgenommenen, hinter seiner Erscheinung, noch ein »Ding an sich« steckt. Dietzgen zeigt, daß eine Erscheinung nur vorhanden ist, sofern sie unserem Denkvermögen, beziehentlich unseren Sinnen sich offenbart; ein »Ding an sich«, das außerhalb der Erscheinungswelt existieren sollte, führt zum Köhlerglauben. Dietzgen weist Kants »Ding an sich« überzeugend auf als nichts Übersinnliches, beziehentlich von der Sinnlichkeit Unabhängiges (wie Kant das »Ding an sich« auffaßte), vielmehr erstens als absolut identisch mit dem Universum, dem einzigen »Ding an sich«, das alle anderen Dinge in sich trägt und nur absolut »an sich« durch dieses »in sich« ist; und zweitens als relativ identisch mit dem allgemeinen Bild der Vorstellung oder dem Begriff, die der Mensch mittels Denkens aus dem sinnlich Besonderen entwickelt. Dietzgen behandelt dann »die Praxis der Vernunft in der physischen Wissenschaft« – Ursache und Wirkung, Geist und Materie, Kraft und Stoff – und im Schlußabschnitt die »praktische Vernunft oder Moral« – das Weise, Vernünftige, das sittlich Rechte, das Heilige.
In folgendem gebe ich, und zwar in Dietzgens Wortlaut, das Wesentlichste seiner Erörterungen und Befunde über den Denkprozeß:
Der Mensch denkt zunächst nicht, weil er will, sondern weil er muß; allgemeiner Zweck des Denkens ist die Erkenntnis … Der Denkakt vollzieht sich in Kontakt mit anderen, mit sinnlichen Erscheinungen und ist dadurch selbst eine sinnliche Erscheinung geworden, die in Kontakt mit einer Hirnfunktion den Begriff des »Denkvermögens« erzeugt.
Mit der reinen Denkkraft, ohne die Hilfe der Objekte (oder der Erfahrung darum), die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens zu erforschen, dieser vergeblichen Mühe widmete sich die spekulative Philosophie. Wissenschaftliches Denken heißt nur das Denken, welches das Wirkliche, Sinnliche, Natürliche zum bewußten Gegenstand hat. Sowenig es ein Denken, eine Erkenntnis gibt ohne Inhalt, sowenig existiert ein Denken ohne Gegenstand oder ohne Objekt, ohne ein anderes, das gedacht oder erkannt wird. Objektloses Denken ist eine Unart der »spekulativen« Philosophie, welche Erkenntnisse ohne Begattung mit einem sinnlichen Gegenstand erzeugen will.
Denken ist eine Arbeit und bedarf wie jede andere Arbeit ein Objekt, an dem es sich äußert. Das Denken erstreckt sich allgemein auf alle Objekte.
Das Denkvermögen erforscht aller Dinge Wesen, wie das Auge alle Sichtbarkeit. Wie nun das Sichtbare im allgemeinen in der Theorie des Gesichts, so ist das Wesen der Dinge im allgemeinen in der Theorie des Denkvermögens zu finden.
Das Denkvermögen trennt Ursache und Wirkung.
Wir erkennen wohl alle Objekte, aber kein Objekt läßt sich ganz erkennen, wissen oder begreifen.
Denken ist eine Tätigkeit des Gehirns, wie Gehen eine Tätigkeit der Beine. Wir nehmen das Denken, den Geist ebenso sinnlich wahr wie den Gang, wie wir die Schmerzen, wie wir unsere Gefühle sinnlich wahrnehmen. Das Denken ist uns fühlbar als ein subjektiver Vorgang, als innerlicher Prozeß … Aus einem immateriellen, unfaßbaren Wesen wird nunmehr der Geist zu einer körperlichen Tätigkeit. Seinem Inhalt nach ist der Denkprozeß verschieden in jedem Augenblick und bei jeder Persönlichkeit, seiner Form nach bleibt er überall derselbe. Beim Denkprozeß unterscheiden wir, wie bei allen Prozessen, zwischen dem Besonderen oder Konkreten und dem Allgemeinen oder Abstrakten.
Hierauf erläutert Dietzgen den Begriff des Denkvermögens. Wie die Analyse des Begriffs überhaupt in der Erkenntnis des Gemeinschaftlichen, dem Allgemeinen der besonderen Teile seines Gegenstandes besteht, so ergibt die Analyse des Denkvermögens »das letztere als Fähigkeit, aus dem Besonderen das Allgemeine zu erfassen«.
Ist die Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen die generelle Methode, die Art und Weise überhaupt, mit welcher die Vernunft Erkenntnisse fördert, so ist die Vernunft vollständig damit erkannt als die Fähigkeit, dem Besonderen das Allgemeine zu entnehmen.
Die Vernunft besteht »rein« in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Erkenntnisse können nicht wahr an sich, sondern nur relativ, nur mit Bezug auf einen Gegenstand, nur auf Grund äußerlicher Tatsachen wahr sein; ihre Aufgabe besteht in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Das Besondere ist das Maß (Bedingung, Voraussetzung) des Allgemeinen.
Gedanken, Begriffe, Theorien, Wesen, Wahrheiten stimmen darin überein, daß sie einem Objekt angehören. Objekte sind Quanta der mannigfaltigen Sinnlichkeit. Ist das Quantum des Seins, das Objekt, das erkannt, begriffen oder verstanden werden soll, durch den Sprachgebrauch eines Begriffs vorher bestimmt oder begrenzt, so besteht die Wahrheit in der Entdeckung des Allgemeinen dieser also gegebenen sinnlichen Quantität.
Entwicklung des Allgemeinen ist die Aufgabe der Vernunft. Der Unterschied zwischen dem scheinbar und wahrhaft Vernünftigen reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen.
Das Allgemeine ist die Wahrheit. Das Allgemeine ist das, was allgemein ist, das heißt Dasein, Sinnlichkeit. Sein ist das allgemeine Kennzeichen der Wahrheit, weil das Allgemeine die Wahrheit kennzeichnet. Nun ist aber das Sein nicht da im allgemeinen, das heißt das Allgemeine existiert in der Wirklichkeit oder Sinnlichkeit nur auf besondere Art und Weise. Die Sinnlichkeit hat ihr wahres sinnliches Dasein in den flüchtigen, vielgestaltigen Erscheinungen der Natur und des Lebens. Demnach erweisen sich alle Erscheinungen als relative Wahrheiten, alle Wahrheiten als besondere zeitliche Erscheinungen.
Gegenüber dem Denkvermögen werden alle Eigenschaften zu wesenhaften Dingen, alle Dinge zu relativen Eigenschaften.
Der Unterschied zwischen Mittel und Zweck reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Und alle abstrakten Unterschiede reduzieren sich auf diesen einen Unterschied, weil die Abstraktions- oder die Unterscheidungskraft selbst sich reduziert auf das Vermögen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen zu unterscheiden.
Wir werden später sehen, wie Dietzgen mit der »Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen« manche der bisher strittigsten Fragen, manches der schwierigsten Probleme löst.
Verweilen wir noch einen Augenblick beim »Denken«. Dietzgen sagt: Das Denkvermögen ist der Vermittler aller Gegensätze, weiß in aller Verschiedenheit Einheit zu finden.
Das Bewußtsein generalisiert den Widerspruch; es erkennt, daß alle Naturstücke in Widerspruch leben, daß alles, was da ist, das, was es ist, nur durch Mitwirkung eines andern, eines Gegensatzes ist. Die Wissenschaft des Denkvermögens löst, durch Generalisation des Widerspruchs, alle besonderen Widersprüche auf. Gegensätze bedingen sich wechselseitig; Wahrheit und Irrtum sind wie Sein und Schein, wie Tod und Leben, wie alle Dinge der Welt, nur komparativ, nur dem Maße, dem Volumen oder Grade nach verschieden.
Die letzten drei Sätze enthalten in Kürze die grundlegende, monistische Lehre von der physischen und psychischen Relativität aller Dinge im Universum, ihrer Abhängigkeit vom Universum und voneinander; die Lehre vom Universalzusammenhang des Kosmosinhalts – eine Lehre, die sich wie ein roter Faden in zahlreichen Variationen durch alle Schriften unseres Autors zieht. Diese Wiederholungen der an praktischen Beispielen demonstrierten Lehre erweisen sich nicht nur als sehr nützlich, sondern erscheinen mir durchaus notwendig zur Verbreitung und Festigung der monistischen Weltanschauung, die sich gegen die traditionelle dualistische doch nur sehr mühselig durchringt.
Der aufmerksame Leser wird hier schon bei der flüchtigen Erwähnung des »Universalzusammenhangs