Josef Dietzgens philosophische Lehren. Adolf Hepner
Читать онлайн книгу.für die sozialistische Propaganda zu würdigen wissen, insbesondere wenn er aus der Naturwissenschaft mit dem kosmischen Universalzusammenhang vertraut ist.[4] Die Relativität der Erkenntnis, des Wissens, der Werte, speziell der Wahrheit, des Rechts und der Sittlichkeit ist zwar Weisen aller Zeiten bekannt gewesen. Schwerlich aber hat vor Dietzgen ein Denker – und es sind bald dritthalbtausend Jahre, seit Heraklit die erste Anregung hierzu gegeben – das Ineinanderfließen der Dinge so klar und überzeugend gelehrt und auf alles Dasein ohne Ausnahme angewandt; schwerlich hat ein Denker vor Dietzgen den im Universalzusammenhang liegenden Grundgedanken des Monismus auf das ökonomisch-soziale Gebiet übertragen.
Aber der stärkste Gehalt des Dietzgenschen Naturmonismus (in des Autors Darlegungen der Einheitlichkeit alles Seins) liegt meines Erachtens in seiner Erläuterung des Zusammenhangs des Geistes mit dem Weltall:
Die Frage nach dem Wesen des Geistes ist ein populäres Objekt, das nicht nur von Philosophen vom Fach, das von der Wissenschaft überhaupt kultiviert ist, sagt Dietzgen, und er fährt also fort:
Wir unterscheiden zwischen Sein und Denken. Wir unterscheiden den sinnlichen Gegenstand von seinem geistigen Begriff. Gleichwohl ist doch auch die unsinnliche Vorstellung sinnlich, materiell, das heißt wirklich. Ich nehme meinen Schreibtischgedanken ebenso materiell wahr, das heißt als ein wirkliches Gefühl, wenn auch ein innerliches, wie ich den Schreibtisch selbst äußerlich fühle. Allerdings wenn man nur das Greifbare materiell nennt, dann ist der Gedanke immateriell. Dann ist aber auch der Duft der Rose und die Wärme des Ofens immateriell. Wir nennen besser vielleicht den Gedanken sinnlich, oder noch besser wirklich. Der Geist ist wirklich, ebenso wirklich wie der greifbare Tisch, wie das sichtbare Licht, wie der hörbare Ton. Der Geist ist nicht weiter vom Tisch, vom Licht, vom Ton verschieden, wie diese Dinge untereinander verschieden sind.
Wir leugnen nicht die Differenz, wir behaupten nur die gemeinschaftliche Natur dieser Dinge. Wenigstens wird mich der Leser nun nicht mißverstehen, wenn ich das Denkvermögen ein materielles Vermögen, eine sinnliche Erscheinung nenne.
Jede Funktion des Geistes setzt einen Gegenstand voraus, von dem sie erzeugt ist, der den geistigen Inhalt abgibt.
Der Geist ist eine körperliche Tätigkeit, Denken eine Funktion des Gehirns.
Durch Entlarvung des »reinen Geistes« enthüllen wir den letzten Urheber alles Spuks.
Die Materie, das heißt das fühlbare Sein überhaupt, ist die Schranke des Geistes; er kann nicht über sie hinaus. Sie gibt ihm den Hintergrund zu seiner Beleuchtung, aber sie geht nicht auf in der Beleuchtung.
Man hat sich gewöhnt, materielle und geistige Interessen als absolute Gegensätze zu unterscheiden, obwohl die materiellen Interessen nur der abstrakte Ausdruck für unser Dasein sind … Das Höhere, Geistige, Ideale ist nur eine besondere Art der menschlichen Interessen; geistige und materielle Interessen unterscheiden sich, wie zum Beispiel Kreis und Viereck; letztere sind Gegensätze und doch nur verschiedene Klassen der allgemeineren Form … Der christliche Gegensatz von Geist und Fleisch ist im Zeitalter der Naturwissenschaft praktisch überwunden. Es fehlt die theoretische Lösung, die Vermittlung, der Nachweis, daß das Geistige sinnlich und das Sinnliche geistig ist, um die materiellen Interessen vom bösen Leumund zu befreien.
Ähnlich beschwert sich Dietzgen an anderer Stelle unseres Buches über das Nichtverständnis des Denkprozesses in den Kreisen der Naturwissenschafter:
Die Praxis der Vernunft, den Gedanken aus der Materie, die Erkenntnis aus der Sinnlichkeit, das Allgemeine aus dem Besonderen zu erzeugen, ist in der physischen Forschung auch allgemein, jedoch nur praktisch anerkannt. Man verfährt induktiv und ist sich dieses Verfahrens bewußt, aber man verkennt, daß das Wesen der Naturwissenschaft das Wesen des Wissens, der Vernunft überhaupt ist. Man mißversteht den Denkprozeß. Man ermangelt der Theorie und gerät daher nur zu oft aus dem praktischen Takte. Das Denkvermögen ist der Naturwissenschaft immer noch ein unbekanntes, geheimnisvolles, mystisches Wesen. Entweder sie verwechselt materialistisch die Funktion mit dem Organ, den Geist mit dem Gehirn, oder denkt idealistisch das Denkvermögen als ein unsinnliches Objekt außerhalb ihres Gebiets gelegen.
Um die Dinge ganz zu nehmen, müssen wir sie praktisch und theoretisch, mit Sinn und Kopf, mit Leib und Geist ergreifen. Mit dem Leibe können wir nur das Leibliche, mit dem Geiste nur das Geistige ergreifen. Auch die Dinge haben Geist. Der Geist ist dinglich, und die Dinge sind geistig. Geist und Dinge sind nur in Relationen (in ihren Beziehungen zum Gesamtzusammenhang, auch Natur und Universum genannt) wirklich.
So schrieb Dietzgen 1868, Jahrzehnte vor der monistischen Rebellion von Ernst Mach und seiner Physikerschule, gegen den Dualismus.[5]
Allerdings unterstützen die modernen Physiker die Lehre, daß wir die geistigen Vorgänge objektiv sinnlich wahrnehmen, durch naturwissenschaftliche und physiologische Beweise, die zu Dietzgens Zeit nicht vorhanden waren. Siehe zum Beispiel Verworn, Die Mechanik des Geisteslebens, 1910, der ebenfalls von Dietzgen keine Kenntnis hatte. So erhält denn unseres Autors philosophische Genialität durch die spätere, von ihm unabhängige, naturwissenschaftliche Forschung eine glänzende Anerkennung, wenn auch die Philosophen vom Fach sich noch lange besinnen werden, einem Manne, der »nur Lohgerber« gewesen, ein Wort der Würdigung, sei es auch oppositioneller, in ihrem Hörsaale zu widmen.[6]
Für sehr bedeutend halte ich Dietzgens Behandlung der »Kraft- und Stoff«-Frage mittels der Lehre von der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Ich lasse daher das Wesentlichste in des Autors Wortlaut hier folgen:
Der Idealismus sieht nur die Verschiedenheit, der Materialismus nur die Einheit von Körper und Geist, Erscheinung und Wesen, Inhalt und Form, Stoff und Kraft, Sinnlichem und Sittlichem – alles Unterschiede, die in dem einen Unterschied des Besonderen und Allgemeinen ihre gemeinschaftliche Gattung finden …
Wie verhält sich das Abstrakte zum Konkreten? So stellt sich das gemeinschaftliche Problem derjenigen, welche in spiritueller Kraft, und derjenigen, welche im materiellen Stoff den Impuls der Welt, das Wesen der Dinge, das Nonplusultra der Wissenschaft finden zu können glauben … Wir haben da zwei Parteien, welche mit differenten Worten sich in einer unbestrittenen Sache herumzanken. Um so lächerlicher ist der Streit, je ernsthafter er genommen wird. Wenn jener die Kraft vom Stoffe unterscheidet, so will er damit nicht leugnen, daß die wirkliche Erscheinung der Kraft unzertrennlich an Stoff gebunden ist. Wenn der Materialist behauptet, daß kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff ist, so will er damit nicht leugnen, was der Gegner behauptet, daß Kraft und Stoff different sind. Der Streit hat seinen guten Grund, seinen Gegenstand, aber der Gegenstand kommt im Streite nicht zum Vorschein. Er wird von den Parteien instinktiv verhüllt, um sich nicht die gegenseitige Unwissenheit gestehen zu müssen. Jeder will dem andern beweisen, daß dessen Erklärungen nicht ausreichen – ein Beweis, der von beiden hinreichend dargetan wurde. Büchner gesteht in den Schlußbetrachtungen zu »Kraft und Stoff«, daß das empirische Material nicht ausreiche, bestimmte Antworten auf transzendente Fragen zu geben, um diese Fragen positiv beantworten zu können; dagegen, sagt er ferner, »reicht es vollkommen aus, um sie negativ zu beantworten und die Hypothese zu verbannen«. Mit anderen Worten heißt das: die Wissenschaft der Materialisten reicht zu dem Beweise aus, daß der Gegner nichts weiß.
Der Spiritualist und Idealist glaubt an ein geistiges, das heißt gespenstiges, unerklärbares Wesen der Kraft. Die materialistischen Forscher sind ungläubig. Eine wissenschaftliche Begründung des Glaubens oder Unglaubens ist nirgends vorhanden. Was der Materialismus voraus hat, besteht darin, daß er das Transzendentale, das Wesen, die Ursache, die Kraft nicht hinter der Erscheinung, nicht außerhalb des Stoffes sucht. Darin jedoch, daß er einen Unterschied zwischen Kraft und Stoff verkennt, das Problem leugnet, bleibt er hinter dem Idealismus zurück. Der Materialist pocht auf die tatsächliche Untrennbarkeit von Kraft und Stoff und will für die Trennung nur einen »äußerlichen, aus den systematischen Bedürfnissen unseres Geistes hervorgegangenen Grund« (Büchner) gelten lassen. Die Trennung der Kräfte von den Stoffen ist aber keine »äußerliche«, sondern eine innerliche, das heißt wesentliche Notwendigkeit, welche allein uns befähigt, die Erscheinungen