Josef Dietzgens philosophische Lehren. Adolf Hepner

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Josef Dietzgens philosophische Lehren - Adolf Hepner


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zwischen Idealismus und Materialismus vollbrachte die Phantasie durch den Glauben an Geister, welche sie allen natürlichen Erscheinungen als deren geheimes ursächliches Wesen substituierte.

      Wenn es uns gelungen ist, den Dämon des reinen Geistes zu erklären, wird es uns nicht schwer, den besonderen Geist der Kraft überhaupt durch die generelle Erkenntnis ihres Wesens auszutreiben und somit auch diesen Gegensatz zwischen Spiritualismus und Materialismus wissenschaftlich zu vermitteln.

      Am Gegenstand der Wissenschaft, am Objekt des Geistes ist Kraft und Stoff ungetrennt. In der leibhaften Sinnlichkeit ist Kraft Stoff, ist Stoff Kraft. »Die Kraft läßt sich nicht sehen.« Ei doch! Das Sehen selbst ist pure Kraft. Das Sehen ist so viel Wirkung des Gegenstandes als Wirkung des Auges, eine Doppelwirkung, und Wirkungen sind Kräfte. Wir sehen nicht die Dinge selbst, sondern ihre Wirkungen auf unsere Augen: wir sehen ihre Kräfte. Und nicht nur sehen läßt sich die Kraft, sie läßt sich hören, riechen, schmecken, fühlen. Wer wird leugnen, daß er die Kraft der Wärme, der Kälte, der Schwere zu fühlen vermag? …

      Ebenso wahr, wie sich sagen läßt, ich fühle den Stoff und nicht die Kraft, läßt sich umgekehrt sagen, ich fühle die Kraft und nicht den Stoff. In der Tat, am Objekt, wie gesagt, ist beides ungetrennt. Vermöge der Denkkraft aber trennen wir an den neben- und nacheinanderfolgenden Erscheinungen das Allgemeine vom Besonderen. Aus den verschiedenen Erscheinungen unseres Gesichtes zum Beispiel abstrahieren wir den allgemeinen Begriff des Sehens überhaupt und unterscheiden ihn als Sehkraft von den besonderen Gegenständen oder Stoffen des Gesichtes. Aus sinnlicher Vielfältigkeit entwickeln wir mittels der Vernunft das Allgemeine. Das Allgemeine mannigfaltiger Wassererscheinungen, das ist die vom Stoffe des Wassers unterschiedene Wasserkraft. Wenn stofflich verschiedene Hebel gleicher Länge dieselbe Kraft besitzen, ist es wohl augenscheinlich, daß hier die Kraft nur so weit vom Stoffe verschieden ist, als sie das Gemeinschaftliche verschiedener Stoffe darstellt. Das Pferd zieht nicht ohne Kraft, und die Kraft zieht nicht ohne Pferd. In der Tat, in der Praxis ist das Pferd die Kraft, ist die Kraft das Pferd. Aber dennoch mögen wir die Zugkraft von anderen Eigenschaften des Pferdes als etwas Apartes unterscheiden, oder mögen das Gemeinschaftliche verschiedener Pferdeleistungen als allgemeine Pferdekraft abtrennen, ohne uns deshalb einer anderen Hypothese schuldig zu machen, als wenn wir die Sonne von der Erde unterscheiden; obgleich in der Tat die Sonne nicht ohne Erde, die Erde nicht ohne Sonne ist.

      Die Sinnlichkeit ist uns nur durch das Bewußtsein gegeben, aber das Bewußtsein setzt dennoch die Sinnlichkeit voraus. Die Natur, je nachdem wir sie, vom Standpunkt des Bewußtseins, als bedingungslose Einheit oder, vom Standpunkt der Sinnlichkeit, als unbedingte Mannigfaltigkeit gelten lassen, ist grenzenlos vereint und grenzenlos getrennt. Wahr ist beides: Einheit und Vielheit, doch jedes nur unter gewissen Voraussetzungen, relativ. Es kommt darauf an, ob wir vom Standpunkt des Allgemeinen oder des Besonderen, ob wir mit geistigen oder mit körperlichen Augen umschauen. Mit geistigen Augen gesehen, ist der Stoff Kraft. Mit körperlichen Augen gesehen, ist die Kraft Stoff. Der abstrakte Stoff ist Kraft, die konkrete Kraft ist Stoff. Stoffe sind Gegenstände der Hand, der Praxis. Kräfte sind Gegenstände der Erkenntnis, der Wissenschaft.

      Die Wissenschaft ist nicht beschränkt auf die sogenannte wissenschaftliche Welt. Sie reicht über alle besonderen Klassen hinaus, gehört dem Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe. Die Wissenschaft gehört dem denkenden Menschen überhaupt. So auch die Trennung zwischen Kraft und Stoff. Nur die stumpfsinnigste Leidenschaft kann sie praktisch verkennen. Der Geizhals, der Geld anhäuft, ohne seinen Lebensprozeß zu bereichern, vergißt, daß die vom Stoffe verschiedene Kraft des Geldes das wertvolle Element ist; er vergißt, daß nicht der Reichtum als solcher, nicht die schlechte goldene Materie, sondern ihr geistiger Gehalt, die ihr inwohnende Fähigkeit, Lebensmittel zu kaufen; es ist, was das Streben nach ihrem Besitz vernünftig macht. Jede wissenschaftliche Praxis, das heißt jedes Tun, welches mit vorausbestimmtem Erfolge, mit durchschauten Stoffen agiert, bezeugt, daß die Trennung von Stoff und Kraft, wenn auch mit dem Gedanken vollzogen, also ein Gedankending, doch deshalb keine leere Phantasie, keine Hypothese, sondern eine sehr wesentliche Idee ist. Wenn der Landmann sein Feld düngt, geht er insofern mit reiner Düngkraft um, als es gleichgültig ist, in welchem Stoffe, ob in Kuhmist, Knochenmehl oder Guano sie sich verkörpert. Beim Abwägen eines Warenballens wird nicht der Stoff der Gewichtsstücke, nicht das Eisen, Kupfer oder der Stein, sondern die Schwerkraft pfundweise gehandhabt.

      Allerdings, keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft. Kraftlose Stoffe und stofflose Kräfte sind Undinge. Wenn idealistische Naturforscher an ein immaterielles Dasein von Kräften glauben, welche gleichsam im Stoffe ihren Spuk treiben, die wir nicht sehen, nicht sinnlich wahrnehmen und dennoch glauben sollen, so sind es in diesem Punkte eben keine Naturforscher, sondern Spekulanten, das heißt Geisterseher. Doch ebenso kopflos ist andererseits das Wort des Materialisten, das die intellektuelle Scheidung zwischen Kraft und Stoff eine Hypothese nennt.

      Damit diese Scheidung nach Verdienst gewürdigt sei, damit unser Bewußtsein die Kraft weder spiritualistisch verflüchtigt, noch materialistisch verleugnet, sondern wissenschaftlich begreift, dürfen wir nur das Unterscheidungsvermögen überhaupt oder an sich begreifen, das heißt seine abstrakte Form erkennen. Der Intellekt kann nicht ohne sinnliches Material operieren. Um zwischen Kraft und Stoff zu unterscheiden, müssen diese Dinge sinnlich gegeben, müssen sie erfahren sein. Auf Grund der Erfahrung nennen wir den Stoff kräftig, die Kraft stofflich. Das zu begreifende sinnliche Objekt ist also ein Kraftstoff, und da nun alle Objekte in ihrer leiblichen Wirklichkeit Kraftstoffe sind, besteht die Unterscheidung, welche das Unterscheidungsvermögen daran vollbringt, in der allgemeinen Art und Weise der Kopfarbeit, in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Der Unterschied zwischen Stoff und Kraft summiert sich unter den allgemeinen Unterschied des Konkreten und Abstrakten. Den Wert dieser Unterscheidung absprechen, heißt also den Wert der Unterscheidung, des Intellekts überhaupt verkennen.

      Benennen wir die sinnlichen Erscheinungen Kräfte des allgemeinen Stoffes, so ist dieser einheitliche Stoff nichts weiter als die abstrakte Allgemeinheit. Verstehen wir unter der Sinnlichkeit die verschiedenen Stoffe, so ist das Allgemeine, welches die Verschiedenheit inbegreift, beherrscht oder durchzieht, die das Besondere erwirkende Kraft. Ob Kraft, ob Stoff genannt, das Unsinnliche, das, was die Wissenschaft nicht mit den Händen, sondern mit dem Kopfe sucht, das Wesenhafte, Ursächliche, Ideale, höhere Geistige ist die Allgemeinheit, welche das Besondere umfaßt.

       Dietzgens monistische Erkenntnislehre.

       Inhaltsverzeichnis

      Zeige man mir, wer vor oder nach Dietzgen (1868) das »Stoff- und Kraft«-Problem besser oder auch nur ebenso mustergültig behandelt hat – in rein philosophischer und sprachmeisterlicher Beziehung. Dietzgens allgemein verständliche Lösung eines der allerschwierigsten Menschheitsprobleme gehört zu den erstklassigen Kunstwerken der »Kopfarbeit«.

      Zur Wertung von Dietzgens Arbeit dürfte das Nachstehende wohl am Platze sein:

      Daß sinnliche Erfahrung der Erkenntnis zugrunde liegt, haben schon viele Philosophen des Altertums angenommen und außerdem vermutlich ungezählte Millionen nachdenklicher Menschen, die vor Lockes und David Humes Untersuchungen über den menschlichen Verstand (1690 respektive 1748) an Tieren und kleinen Kindern das allmähliche Wachsen des Intellekts der jungen Lebewesen mit Interesse beobachtet haben, wie die meisten von uns heute. Gleichwohl wurde uns keine Theorie der Bewußtseinsbewegung, keine Theorie der menschlichen Erkenntnis aus jener Zeit hinterlassen.

      Schuld daran war in erster Linie die aus den frühesten Perioden überkommene Vorstellung vom Doppelwesen des Menschen, seiner Zusammensetzung aus Leib und Seele. Für »Seele« hielt man des Menschen Empfindungs- und Denkvermögen, einschließlich Ausdrucks unserer Empfindungen und Gedanken durch Sprache oder Gebärde oder einen Willensakt. Die »Seele« hieß auch der »Geist«, ein Ausfluß göttlichen Geistes, und deshalb mußte die Seele nach des Menschen Tode fortleben, unsterblich sein; daher gab es ein »Jenseits«.

      Zum Unterschied


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