Josef Dietzgens philosophische Lehren. Adolf Hepner

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Josef Dietzgens philosophische Lehren - Adolf Hepner


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»Unsterblichkeit der Seele« erstreckte sich über die gesamte Menschheit; das eine Stunde nach seiner Geburt verstorbene Kind hat ebenso Anteil daran wie die Seele der Kannibalen, obwohl das Menschenkind in seinen ersten Daseinstagen viel weniger »Seele«, das heißt Intellekt verrät als manches sich rasch entwickelnde Tier, und obwohl die Menschen im Urzustand der Wildheit und Wildnis mit dem Tier mehr Ähnlichkeit haben als einer »im Ebenbild Gottes« gedachten Kreatur.

      Aus der Anatomie und Physiologie von Mensch und Tier kannte man zwar schon lange das mehr oder minder Gemeinsame beider; aber die kardinalen Verschiedenheiten von Mensch und Tier gestatteten immerhin die Voraussetzung einer göttlichen Menschenseele – als Ursache des Denkvermögens – in der »Krone der Schöpfung«.

      Die erste naturwissenschaftliche Begründung der Deszendenz- oder Abstammungslehre durch Lamarck ist nur wenig über hundert Jahre alt. Bis dahin mußte die Tradition des Seelenglaubens, also die Annahme, daß der Mensch nur infolge des ihm eingeflößten göttlichen Geistes zu denken vermag, den Wert der Locke-Humeschen Erkenntnislehre als sekundär, wenn nicht gar unwesentlich erscheinen lassen.

      Was liegt daran, wie der Denkprozeß sich vollzieht, wenn er ganz und gar eine göttliche Gnadenerscheinung ist?

      Zudem lag vor hundert Jahren die Anatomie und Physiologie des Gehirns noch sehr im argen. Zwar ist das Gehirn als Sitz des Denkvermögens seit mehr als 2200 Jahren anerkannt, wenn auch Aristoteles den Sitz der Seele in das Herz verlegte und der hebräische Pentateuch ins Blut. Aber der Stand der Gehirnanatomie und -physiologie zu Lamarcks Zeit gestattete noch keine genaue Vorstellung von der Mechanik des Geisteslebens: wie die Dinge der Außenwelt, die durch unsere Sinnesorgane mit uns in Beziehung treten, bestimmte Vorgänge in unserem Nervensystem veranlassen. Gegen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts kannte man erst sieben, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts neun, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zwölf Paare von Gehirnnerven. Die Ganglienzellen und Nervenfasern, elementare mikroskopische Bestandteile der Nervenzellen, kennt man erst seit etwa siebenundsiebzig Jahren.

      »Die Nervenfasern«, sagt Professor Verworn in seinem oben genannten Buche: Die Mechanik des Geisteslebens, »haben die Funktion, gewisse Vorgänge, die sich in den Zellen der Sinnesorgane und in den Nerv- oder Ganglienzellen abspielen, zu übertragen nach anderen Ganglienzellen und peripherischen Organen, wie den Muskeln, den Drüsen usw. Man kennt jetzt seit vierzig Jahren die Lokalisation in der motorischen Sphäre des Gehirns so genau und kann die Reizung so fein lokalisieren, daß man mit Sicherheit eine Bewegung im Daumen oder im Augenmuskel oder im Fußgelenk vorhersagen kann. Im Anschluß daran sind noch weitere Zonen auf der Großhirnrinde bekannt geworden, die mit unseren Sinnesempfindungen im engsten Zusammenhang stehen.

      Klinische Erfahrungen der Psychiater ergaben, daß Krankheitsprozesse, die bestimmte Teile der Gehirnoberfläche zerstört hatten, von Ausfallssymptomen im Bewußtsein der betreffenden Menschen begleitet waren, und durch Experimente an Tieren – Exstirpationen gewisser Zonen der Gehirnrinde – lokalisierte man die Seh-, Hör-, Fühl-, Geruchs- und Geschmackssphäre.

      Vorstellungen sind Bewußtseinsbewegungen, die ihren Ursprung im engsten Anschluß an Sinnesempfindungen haben. Ohne Sinnesempfindungen keine Vorstellung. Wir können direkt die Vorstellungen als Erinnerungsbilder von Empfindungen bezeichnen.«

      Dietzgens »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« ist somit, obwohl bald fünfzig Jahre alt, ein hochmodernes Buch.

      Dietzgen behandelt den Geist, das Denkvermögen als »Organ des Allgemeinen«, das heißt der Natur, und weil der Geist ein Stück Natur, ist er, wie unser Autor sich in einer späteren Schrift ausdrückt, kein größeres Naturwunder als der Magnetismus, die Elektrizität usw.

      Nach dem heutigen Stande der Naturwissenschaften und in Verbindung mit unserer Erkenntnis, daß Kraft Stoff und Stoff Kraft ist, darf man Dietzgens Satz, daß das »Denken eine Eigenschaft der Generalnatur« ist, ohne Vorbehalt unterschreiben.

      Wenn nun das Denkvermögen das »Organ des Allgemeinen« ist, muß es uns in erster Linie darum zu tun sein, das Allgemeine herauszufinden, das heißt namentlich was allgemein der Menschheit frommt, allen zugute kommt; wir sollen mithin Zustände ermöglichen, unter denen die Allgemeinheit oder doch die größte Zahl der Menschheit sich wohlbefinden kann.

      Dietzgens Naturmonismus begnügt sich demnach nicht mit der Anschauung von der Einheitlichkeit des Weltalls minus Mensch; dieser mit seinem Körper und Geist gehört, wie jedes andere Naturstück aus Stoff und Kraft, in die Betrachtung des monistischen Weltorganismus hinein. Wie durch das Denkvermögen, als »Organ des Allgemeinen«, beziehungsweise des Universalzusammenhangs, die Widersprüche überhaupt vermittelt werden – durch Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen –, sollten wir dieselbe monistische Denkmethode ganz speziell zur Lösung der Ungereimtheiten der sozialen Welt anwenden. Dann erst haben wir den Sozialmonismus erreicht. Daraus nun, daß es dem richtigen Denken in erster Linie darum zu tun sein muß, das Allgemeine herauszufinden – auf das soziale Gebiet angewandt: das allgemein Nützliche zu ermitteln –, zieht Dietzgen (in seiner Vorrede) einen Schluß, der auf einen für unseres Autors Betrachtungsweise noch nicht vorbereiteten Leser verblüffend wirken mag, aber gleichwohl jedes wirklichen Monisten Billigung finden muß: daß die wahren Träger des »Organs des Allgemeinen« nicht in den von Sonderinteressen beherrschten Kreisen zu suchen sind, vielmehr in den Reihen der nach Beseitigung aller Vorrechte hinstrebenden Arbeiterklasse.

      Dietzgen sagt: »Ich entwickle in dieser Schrift das Denkvermögen als Organ des Allgemeinen. Der leidende, der vierte, der Arbeiterstand ist insoweit erst der wahre Träger dieses Organs, als die herrschenden Stände durch ihre besonderen Klasseninteressen verhindert sind, das Allgemeine anzuerkennen. Wohl bezieht sich diese Beschränkung zunächst auf die Welt der menschlichen Verhältnisse. Aber solange diese Verhältnisse nicht allgemein menschlich, sondern Klassenverhältnisse sind, muß auch die Anschauung der Dinge von diesem beschränkten Standpunkt bedingt sein. Objektive Erkenntnis setzt subjektiv theoretische Freiheit voraus. Bevor Kopernikus die Erde sich bewegen und die Sonne stehen sah, mußte er von seinem irdischen Standpunkt abstrahieren. Da nun dem Denkvermögen alle Verhältnisse Gegenstand sind, hat es von allem zu abstrahieren, um sich selbst rein oder wahr zu erfassen. Erst eine historische Entwicklung, welche so weit fortgeschritten ist, um die Auflösung der letzten Herr- und Knechtschaft zu erstreben, kann soweit der Vorurteile entbehren, um das Urteil im allgemeinen, das Erkenntnisvermögen, die Kopfarbeit wahr oder nackt zu erfassen. Erst eine historische Entwicklung, welche die direkte allgemeine Freiheit der Masse im Auge haben kann – und dazu gehören wohl sehr verkannte historische Voraussetzungen – erst die neue Ära des vierten Standes findet den Gespensterglauben soweit entbehrlich, um den letzten Urheber alles Spuks, um den reinen Geist entlarven zu dürfen. Der Mensch des vierten Standes ist endlich >reiner< Mensch. Sein Interesse ist nicht mehr Klassen- sondern Masseninteresse, Interesse der Menschheit. Die Tatsache, daß zu allen Zeiten das Interesse der Masse mit dem Interesse der herrschenden Klasse verbunden war, daß nicht nur trotz, sondern gerade mittels ihrer stetigen Unterdrückung durch jüdische Patriarchen, asiatische Eroberer, antike Sklavenhalter, feudale Barone, zünftige Meister, besonders durch moderne Kapitalisten und auch selbst noch durch kapitalistische Cäsaren die Menschheit stetig >fortgeschritten< – diese Tatsache nähert sich ihrem Ende. Jetzt ist diese Entwicklung an einem Standpunkt angekommen, wo die Masse selbstbewußt wird. Sie ist damit so weit gekommen, daß sie nunmehr sich unmittelbar selbst entwickeln will.«

       Dietzgens Ethik.

       Inhaltsverzeichnis

      Das Schlußkapitel von Dietzgens »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« behandelt die Ethik: »Praktische Vernunft« oder Moral. (Seite 61 bis 87, 1. Band der Sämtlichen Schriften.)

      Siebenunddreißig Jahre später erschien Kautskys »Ethik« (und materialistische Geschichtsauffassung) – das erste und bis jetzt einzige deutsche sozialistische Werk auf diesem Gebiet.[7] In der Vorrede sagt Kautsky: »Ich fuße bei meiner Entwicklung der Ethik auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung


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