Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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fortwährend auf ihn hernieder.

      »Ich habe es gelernt«, rief der alte Mann. »O habt Mitleid mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung, so gut war, die Natur in dem Herzen verzweifelnder Mütter verleumdete! Habt Mitleid mit meiner Vermessenheit, Bosheit und Unwissenheit und rettet sie!«

      Er fühlte, daß er sie nicht mehr länger festhalten konnte. Sie schwiegen immer noch.

      »Habt Mitleid mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen ist aus mißverstandener Liebe entsprungen, aus der stärksten, innigsten Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen. Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht eben dahin gebracht werden kann, wenn ihr ein solches Leben auferlegt ist. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblicke Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele tötet, um es zu erlösen!«

      Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

      »Ich sehe den Geist der Glocken unter euch«, sagte der alte Mann, das Kind erblickend, und sprach mit einer Art von Begeisterung, die seine Blicke ihm einflößten: »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil für uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter fortwehen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet. Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und keinen Zweifel an dem Guten weder in uns, noch andern hegen dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten ist. Ich schließe es wieder in meine Arme. O ihr gnädigen und guten Geister, ich präge mir eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich werde ewig dankbar sein.«

      Er hätte noch mehr sagen mögen, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde ihr Freudengeläut zum neuen Jahre so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte.

      * * *

      ›Tu, was du willst‹, sagte Meg, ›Vater, aber iß nicht wieder Kaldaunen, ohne einen Doktor zu fragen, ob sie dir bekommen werden. Denn wie hast du dich angestellt, du lieber Himmel!‹

      Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleid, das sie mit Bändern schmückte, so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Hause wäre. Dann stand er schleunigst auf, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die vom Herd gefallen war, und jemand drängte sich zwischen sie.

      ›Nein‹, sagte die Stimme des besagten Jemand, eine wohlklingende, fröhliche Stimme, ›selbst Ihr nicht. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahre gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Hause gestanden, um die Glocken zu hören und ihn mir zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viele glückliche Jahre verleben, meine liebe, kleine, süße Frau!‹

      Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

      Als dies geschah, gab es keinen glücklicheren Menschen auf der ganzen Welt, als Trotty. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhle auf und liebkoste Meg. Er stand von seinem Stuhle auf und liebkoste Richard. Er stand von seinem Stuhle auf und liebkoste beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht einen Augenblick aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Zauberlaterne, und was er immer tat, so setzte er sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

      »Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich, dein glücklicher Hochzeitstag?«

      »Heute«, sagte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute. Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur.‹« Und sie läuteten wahrhaftig.

      Gott segne die kräftigen Seelen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

      »Heute, meine Meg«, sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

      »Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater«, sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein eigensinniger, ungestümer Mensch! Wollte er doch dem gewaltigen Ratsherrn seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde –«

      »Meg zu küssen«, half Richard ein und führte es sogleich aus.

      »Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte es nicht zugeben, Vater. Was hätte es geholfen?«

      »Richard, mein Junge«, sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du weintest heute abend am Feuer, als ich nach Hause kam, meine Meg? Warum weintest du denn am Feuer?«

      »Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich einsam fühlen.«

      Trotty kehrte wieder nach dem außerordentlichen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärmen erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

      »Ei, hier ist sie ja«, sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilly. Ha, ha! hier sind wir und hier ist sie ja, die kleine Lilly. Ha, ha! hier sind wir und hier spazieren wir! O, hier sind wir und hier spazieren wir wieder! Und hier sind wir und hier spazieren wir und auch Onkel Will!«

      Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab’ ich heute abend für Erscheinungen erlebt und nur weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch dankbar, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

      Ehe Will Fern das Geringste antworten konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer, von einer Menge Nachbarn begleitet, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andere gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Nicht eine Seele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die euch beide kennt und euch beiden nicht alles Glück wünscht, was das neue Jahr bescheren kann. Und wir sind hier deshalb zu Euch gekommen, um es einzuspielen und einzutanzen.«

      Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das machte weiter nichts.

      »Was für ein Glück es ist«, sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter zuliebe. Sie verdient es!«

      Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanze fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war gerade dabei, aus allen Kräften loszulegen, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder so ungefähr trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von ungeheurem Umfang trug, und diesen folgten Markknochen, Hackmesser und Glocken, aber nicht die Glocken, sondern eine tragbare Sammlung von einem Gestell.

      Trotty sagte: »Mrs. Chickenstalker« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

      »Hochzeit zu machen, Meg, und es mir nicht zu sagen!« sagte die gute Frau. »Ich konnte es am letzten Abend des alten Jahres nicht aushalten, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und dein Polterabend obendrein ist, so habe


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