Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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Herabwürdigung, von so völliger Hoffnungslosigkeit, von so elender Verkommenheit, daß sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und sich wegwandte, damit er nicht sehen sollte, wie sehr es sie erschütterte.

      Durch das Knistern ihres Kleides oder irgendein unbedeutendes Geräusch erwachend, richtete er den Kopf auf und fing an zu sprechen, als ob seit seinem Eintritte keine Pause gewesen wäre: »Immer noch bei der Arbeit, Meg? Du arbeitest spät.«

      »Ich tue es immer.«

      »Und früh?«

      »Auch früh.«

      »Das sagte sie. Sie sagte, du würdest niemals müde, oder gebest es niemals zu, daß du müde wärest. Die ganze Zeit nicht, die ihr zusammenwohntet. Selbst dann nicht, wenn du zwischen Arbeit und Hunger halb ohnmächtig würdest. Doch ich sagte dir dies schon, als ich das letztenmal bei dir war?«

      »Ja«, antwortete sie, »und ich bat dich, nichts mehr davon zu sagen. Und du gabst mir das feierliche Versprechen, Richard, daß du es niemals mehr tun wolltest.«

      »Ein feierliches Versprechen«, wiederholte er mit blödsinnigem Lachen und nichtssagend ins Blaue starrend. »Ein feierliches Versprechen. So!« Nach einiger Zeit gleichsam sich ermunternd in der vorherigen Weise, sagte er mit unerwarteter Lebhaftigkeit: »Was kann ich dafür, Meg? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen.«

      »Wieder«, sagte Meg die Hände faltend. »O, denkt sie oft an mich? Ist sie wieder dagewesen?«

      »Zwanzigmal«, sagte Richard. »Margarete, sie verfolgt mich förmlich. Sie kommt auf der Straße hinter mir drein und steckt es mir in die Hand. Ich höre ihren Fuß über die Asche gleiten, wenn ich in der Werkstätte bin. Ha, ha! das geschieht nicht oft! Und ehe ich den Kopf umdrehen kann, klingt mir ihre Stimme ins Ohr und sagt: ›Richard, drehe dich nicht um! Um des Himmels willen, gib ihr dies!‹ Sie bringt es mir in meine Wohnung. Sie schickt es mir in Briefen. Sie klopft an das Fenster und legt es auf das Fensterbrett. Was kann ich dazu tun? Sieh es einmal an.«

      Er hielt in der Hand eine kleine Börse hin und klimperte mit dem Geld, das sie enthielt.

      »Stecke sie ein«, sagte Meg, »stecke sie ein! Wenn sie wiederkommt, so sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzer Seele liebe, daß ich mich niemals schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten, daß ich bei meiner einsamen Arbeit beständig an sie denke, daß ich Tag und Nacht bei ihr bin, daß ich, wenn ich morgen sterbe, mit meinem letzten Atemzuge an sie denken werde, daß ich aber dies nicht ansehen kann.«

      Er zog die Hand langsam zurück und sagte, die Börse zusammendrückend, mit einer Art schläfriger Bedachtsamkeit: »Ich sagte es ihr schon. Ich sagte es ihr in dürren Worten, wie es Worte nur ausdrücken können. Ich habe dieses Geschenk ein dutzendmal wieder zurückgenommen und bei ihrer Tür liegen lassen. Aber wenn sie nun wiederkam und vor mir stand, Auge in Auge – was konnte ich tun?«

      »Du sahst sie?« rief Meg aus, »du sahst sie? O Lilly, mein süßes Mädchen! O Lilly, Lilly!«

      »Ich sah sie«, fuhr er fort, nicht als Antwort, sondern immer noch mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. »Da stand sie und zitterte: ›Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie immer noch von mir? Hat sie abgenommen? Mein alter Platz am Tische – wer sitzt an meinem Platz? Und der Rahmen, an dem sie mich sticken lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ – So war es. Das hörte ich sie sagen.«

      Meg unterdrückte ihre Seufzer und beugte sich, während Tränen aus ihren Augen flossen, über ihn, um zu horchen und keinen Hauch zu verlieren.

      Die Arme auf die Knie gestützt und auf seinem Stuhle sich vornüber lehnend, als wenn seine Aussage in einer halblesbaren Schrift, die er entziffern und zusammenreimen müßte, auf dem Boden geschrieben stände, fuhr er fort: »– ›Richard, ich bin sehr tief gefallen, und du kannst dir denken, wieviel ich gelitten habe, da mir dies zurückgeschickt wurde, wenn ich es über mich gewinnen kann, es mit eigener Hand wiederzubringen. Doch du liebtest sie einst und immer noch, solange ich mich entsinnen kann. Anderes trat zwischen euch; Ungewißheit, Zweifel, Eifersucht, Eitelkeit entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie immer, soweit ich mich erinnern kann.‹ – Ich glaube, es ist wahr«, sagte er sich selbst unterbrechend. »Doch das gehört nicht hierher. – ›O Richard, wenn du sie jemals liebtest, wenn du ein Gedächtnis hast für das, was dahin und verloren ist, nimm es ihr noch einmal mit! Noch einmal! Sag’ ihr, wie ich dich bat und dich drängte. Sag’ ihr, wie ich meinen Kopf auf deine Schulter legte, wo vielleicht ihr Kopf gelegen hat, und wie ich so demütig gegen dich war, Richard. Sag’ ihr, daß du mir ins Gesicht blicktest und daß alle die Schönheit, die sie an mir zu preisen pflegte, dahin, ganz dahin sei und an ihrer Stelle eine bleiche, hohle, dürftige Wange, über die sie weinen würde, wenn sie sie sähe. Sag’ ihr alles und nimm es wieder mit, und sie wird es nicht wieder abschlagen, sie wird nicht das Herz haben!‹ –«

      So saß er träumerisch da und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder wach wurde und aufstand.

      »Du willst es nicht nehmen, Meg?«

      Sie schüttelte den Kopf und bat ihn, sie zu verlassen.

      »Gute Nacht, Meg.«

      »Gute Nacht.«

      Meg mußte in allen Stimmungen, bei allen Schmerzen, bei allen Qualen des Leibes und der Seele arbeiten. Sie setzte sich nieder und nähte. Nacht, Mitternacht – sie arbeitete immer noch.

      Sie unterhielt ein dürftiges Feuer, da die Nacht sehr kalt war, und stand bisweilen auf, um es zu schüren. Die Glocken schlugen halb ein Uhr, während sie sich damit beschäftigte, und als sie ausgeschlagen hatten, hörte sie ein leises Klopfen an der Tür. Ehe sie sich nur wundern konnte, wer zu dieser ungewöhnlichen Stunde kommen könnte, wurde die Tür geöffnet.

      O Jugend und Schönheit, glücklich, wie ihr sein sollt, schaut hin! O Jugend und Schönheit, gesegnet und segnend alles, was in euren Bereich kommt, und die Zwecke eures gütigen Schöpfers erfüllend, blicket hin!

      Sie sah die eintretende Gestalt, rief ihren Namen aus, rief »Lilly!«

      Sie war behend und fiel vor ihr auf die Knie nieder, und klammerte sich an ihr Gewand.

      »Steh auf, meine Lilly! Steh auf, liebstes Mädchen!«

      »Nie, Meg, nie! Hier, hier bei dir will ich sein, dich in meinen Armen halten, deinen lieben Atem mich anwehen lassen!«

      »Süße Lilly, liebste Lilly, Kind meines Herzens! Keiner Mutter Liebe kann zärtlicher sein! Lege dein Haupt an meine Brust.«

      »Nie mehr, Meg, nie mehr! Als ich zum erstenmal dein Gesicht erblickte, knietest du vor mir. Auf den Knien vor dir laß mich sterben, hier sterben!«

      »Du bist zurückgekommen! Mein Herzenskind, wir wollen miteinander leben, miteinander arbeiten, hoffen, miteinander sterben!«

      »Ach, küsse meinen Mund, Meg! Schlinge deine Arme um mich! Drücke mich an deine Brust! Sieh gütig auf mich – doch hebe mich nicht auf. Laß mich hier liegen, laß mich dein liebes Gesicht zum letztenmal auf meinen Knien sehen!«

      O Jugend und Schönheit, glücklich wie ihr sein sollt, schaut hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr die Zwecke eines allgütigen Schöpfers erfüllt, sehet hierher!

      »Vergib mir, Meg! O Liebe, Liebe, vergib mir. Ich weiß, du tust es, ich sehe, du tust es, doch sage es mir, Meg!«

      Sie sagte es ihr, mit den Lippen auf Lillys Wange, und mit ihren Armen umschlang sie – das wußte sie – ein gebrochenes Herz. »Gott segne dich, mein süßes Kind! Küsse mich noch einmal!« ›Er ließ sie zu seinen Füßen sitzen und sie mit ihrem Haar trocknen.‹ O Meg, welches Mitleid! welch Erbarmen!

      Als sie starb, berührte der Geist des zurückkehrenden Kindes, unschuldig und strahlend, den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm fortzugehen.

      Viertes Viertel

       Inhaltsverzeichnis


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