Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.Ich weiß, ich habe es gesehen, wenn er weinend und zitternd ihre Hand zu küssen suchte, und ich habe gehört, wenn er sie Meg rief und sagte, es wäre ihr neunzehnter Geburtstag. Da hat er nun gelegen Wochen und Monate. Mit ihm und ihrem Kinde über ihre Kräfte in Anspruch genommen, ist sie nicht imstande gewesen, ihre alte Arbeit zu verrichten, und da sie diese nicht regelmäßig liefern konnte, hat sie sie ganz verloren, selbst wenn sie damit hätte fertig werden können. Ich weiß kaum, wie sie haben leben können.«
»Ich weiß es«, murmelte Mr. Tugby, blickte im Laden umher und nach seiner Frau hin und wiegte den Kopf mit unendlicher Schlauheit – »wie Kampfhähne.«
Er wurde von einem Schrei, einem Klageruf in dem oberen Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte nach der Tür: »Mein Freund«, sagte er zurückblickend, »Ihr braucht nicht erst darüber zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht. Er hat Euch, glaub’ ich, diese Mühe erspart.«
Er ging rasch die Treppe hinauf, Mrs. Tugby folgte ihm, während Mr. Tugby gemächlich hinter ihnen drein keuchte und brummte: denn er war von dem Inhalte des Geldkastens, in welchem sich eine ungebührliche Masse Kupferstücke befanden, kurzatmiger als gewöhnlich geworden.
Trotty flog mit dem Kinde zur Seite die Treppe hinauf, als wäre er bloße Luft.
»Folg ihr, folg’ ihr, folg ihr!« Er hörte die Geisterstimmen der Glocken diese Worte wiederholen, während er hinaufstieg. »Lern’ es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist.« Es war vorüber. Und dies war sie, ihres Vaters Stolz und Freude, dieses hagere, jammervolle Weib, das an dem Bett, wenn wir dies Wort brauchen dürfen, weinte und ein Kind an seine Brust drückte und den Kopf auf dasselbe niederhängen ließ. Wer kann beschreiben, wie mager, schwächlich und ärmlich das Kind aussah! Wer kann sagen, wie sie es liebte!
»Gott sei Dank!« sagte Toby und faltete die Hände zum Himmel, »o Gott sei Dank, sie liebt ihr Kind!«
Der Gentleman, der weiter nicht hartherzig oder gleichgültig gegen solche Szenen war, als daß er sie täglich sah und daß er wußte, es waren Ziffern ohne Bedeutung bei den Filerschen Berechnungen, legte die Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, und lauschte auf das Atmen und sagte: »Seine Qual ist vorüber. Es ist besser so!«
Mrs. Tugby suchte sie mit liebevollen Worten zu trösten, Mr. Tugby mit philosophischen Gründen.
»Nun, nun«, sagte er mit den Händen in den Taschen, »Ihr müßt Euch nicht unterkriegen lassen. Das dürft Ihr nicht. Ihr müßt dagegen angehen. Was würde aus mir geworden sein, wenn ich mich hätte ducken lassen, als ich noch Portier war. Denn in mancher Nacht wurde wohl sechsmal an unserer Tür geklopft; als wenn eine Equipage käme, bloß um mich zu foppen. Ich aber zog mich auf meine Seelenstärke zurück und machte nicht auf.«
Trotty hörte die Stimmen wiederum sagen: »Folg’ ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer und sah diesen sich erheben und durch die Luft fahren. »Folg’ ihr!« sagte er und verschwand. Er umschwebte sie, setzte sich zu ihren Füßen nieder, suchte in ihrem Gesicht nach einer Spur ihres früheren Aussehens, lauschte auf einen Ton ihrer einst so lieblichen Stimme. Er betrachtete das Kind, das so schwächlich, so früh alt, so schrecklich in seinem Ernst, so beklagenswert in seinem schwachen, traurigen, jammervollen Weinen war. Er betete es an, er klammerte sich an dasselbe als an seinen einzigen Schutz, als an das letzte ungerissene Band, das ihn an das Leben fesselte. Er setzte seine väterliche Hoffnung und sein Vertrauen auf das schwache Kind, bewachte jeden seiner Blicke, während sie es in den Armen hielt, und sagte tausendmal: »Sie liebt es! Gott sei Dank! Sie liebt es!«
Er sah, wie die Hauswirtin sie während der Nacht bewachte, zu ihr zurückkehrte, als ihr brummender Mann schlief und alles still war, sie beruhigte, mit ihr weinte und ihr Nahrung reichte. Er sah den Tag und wieder die Nacht kommen, den Tag, die Nacht die Zeit vergehen. Er sah das Haus des Todes des Toten entledigt, die Kammer ihr und ihrem Kinde überlassen. Er hörte es wimmern und weinen, er sah, wie es ihre Geduld fortwährend auf die Probe stellte, wenn sie vor Erschöpfung schlummerte, ihr wieder das Bewußtsein ihrer Lage zurückrief und sie mit seinen kleinen Händen auf der Folter festhielt. Doch sie blieb sanft und geduldig gegen das Kind. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter im innersten Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so innig verknüpft, als wenn sie es noch nicht geboren hätte.
Während dieser ganzen Zeit litt sie Mangel, litt bittersten, quälendsten Mangel. Mit dem Kind in den Armen ging sie hierhin und dorthin und suchte Beschäftigung, und während des Kindes mageres Gesicht in ihrem Schoße lag und sie ansah, arbeitete sie für den kläglichsten Lohn, Tag und Nacht für so viele Pfennige, als der Sonnenzeiger Ziffern hatte. Daß sie das Kind gescholten, daß sie es vernachlässigt, daß sie es mit augenblicklichem Hasse angesehen, daß sie es in einem Anfall von Zorn geschlagen hätte! Oh nein! Sein Trost war: »Sie liebte es immer!«
Sie klagte niemand ihre Not und ging den Tag über weg, um nicht von ihrer einzigen Freundin gefragt zu werden. Denn jede Hilfe, die sie aus ihrer Hand empfing, verursachte nur Streit zwischen der guten Frau und ihrem Mann, und es war ein neues Leid für sie, täglich die Veranlassung zu Streit und Zwietracht zu sein in einem Hause, dem sie so viel verdankte.
Sie liebte das Kind noch, sie liebte es immer mehr. Doch ihre Liebe nahm eine andere Gestalt an.
In einer Nacht ging sie in der Stube auf und nieder, um es zu beruhigen, und sang leise, um es einzuschläfern. Da wurde die Tür leise geöffnet, und ein Mann sah herein.
»Zum letztenmal!« sagte er.
»William Fern!«
»Zum letztenmal!«
Er horchte, wie einer, der verfolgt wird, und sprach im Flüsterton:
»Meg, meine Zeit ist beinahe abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne dir ein Abschiedswort zu sagen, ohne dir zu danken.«
»Was habt Ihr getan?« fragte sie und sah ihn entsetzt an.
Er blickte auf sie nieder, antwortete aber nicht.
Nach kurzem Schweigen machte er eine Bewegung mit der Hand, als wenn er ihre Frage beiseite schieben, als wenn er sie verlöschen wollte, und sagte: »Es ist schon lange her, Meg, aber jene Nacht ist mir noch so frisch in der Erinnerung, wie jemals. Da dachten wir nicht‹, fügte er um sich blickend hinzu: »daß wir uns so wiedersehen würden. Dein Kind, Meg? Laß es mich auf den Arm nehmen. Laß mich dein Kind halten.«
Er stellte seinen Hut auf den Boden und nahm es und zitterte, als er es nahm, von Kopf bis zu den Füßen.
»Ist es ein Mädchen?«
»Ja.«
Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesicht.
»Siehe, wie schwach ich geworden bin, Meg, da es mir an Mut fehlt, es anzusehen. Laß es mir einen Augenblick. Ich tue ihm nichts. Es ist schon lange her – doch wie heißt sie?«
»Margarete«, antwortete sie schnell.
»Das freut mich«, sagte er, »das freut mich!«
Er schien freier zu atmen und nachdem er einen Augenblick innegehalten, nahm er seine Hand weg und sah dem Kinde ins Gesicht. Doch sogleich deckte er es wieder zu.
»Es ist Lilly!«
»Lilly!«
»Ich hielt dasselbe Gesichtchen in meinen Armen, als Lillys Mutter starb und sie mir zurückließ!«
»Als Lillys Mutter starb und sie zurückließ!« wiederholte Meg mit aufgeregter Stimme.
»Wie schrill Ihr sprecht. Warum hebt Ihr Eure Augen so auf mich, Meg?«
Sie sank auf einen Stuhl nieder, drückte das Kind an ihre Brust und weinte. Bisweilen ließ sie es aus ihren Armen los, um ängstlich das Gesichtchen zu beobachten. Dann preßte sie es wieder an ihre Brust. Wenn sie es anblickte, dann mischte sich etwas Wildes, Schreckliches in ihre Liebe. Dann weinte ihr alter Vater.
»Folg’ ihr!« klang es durch das Haus, »lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«
»Meg«,