Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.legte Fürbitte für ihn ein, und Sir Joseph setzte sich wieder mit angeborener Würde auf seinen Sessel.
Der zerlumpte Gast – denn er war elendiglich bekleidet – blickte im Kreise auf die Gesellschaft und bezeigte ihr durch einen demütigen Diener seine Ehrfurcht.
»Ihr vornehmen Leute«, sagte er, »ihr habt soeben auf das Wohl der Arbeiter getrunken. Seht mich an.«
»Er kommt geraden Weges aus dem Gefängnis«, sagte Mr. Fish.
»Geraden Wegs aus dem Gefängnis«, sagte Will, »und weder das erste, noch das zweite, noch das dritte oder vierte Mal.«
Mr. Filer bemerkte mürrisch, daß viermal über dem Durchschnitt sei und mehr, als sich gehöre; er soll sich schämen.
»Ihr vornehmen Leute«, wiederholte Will Fern, »seht mich an. Ihr seht, daß ich so übel daran bin, wie nur irgend möglich, so daß ihr mir weder schaden, noch helfen könnt; denn die Zeit, wo eure guten Worte oder guten Taten mir hätten nützen können – er schlug sich mit der Hand an die Brust und schüttelte den Kopf – ist mit dem Duft der Bohnen oder des Klees vom vorigen Jahre entflohen; aber für diese laßt mich ein Wort sagen – er zeigte auf die Arbeiter in der Halle – und wenn ihr wollt, so hört einmal die reine Wahrheit sprechen.«
»Es ist niemand hier!« sagte der Wirt, »der Ihn zum Sprecher haben möchte!«
»Sehr möglich, Sir Joseph, ich glaube es. Vielleicht ist nichtsdestoweniger wahr, was ich sage. Vielleicht beweist es dies sogar. Ihr vornehmen Leute, ich habe viele Jahre an diesem Orte gelebt. Ihr könnt noch die Hütte von dem Knick aus sehen. Sie macht sich gut auf einem Gemälde, habe ich sagen hören. Doch bei Gemälden gibt’s kein Wetter. Und mag sein, sie taugt besser dazu, als zu einem Wohnhause. Indes, ich wohnte drin. Wie hart, wie bitter hart ich darin wohnte und lebte, will ich nicht sagen. Jeden Tag im Jahre und jedweden Tag könnt ihr es selber beurteilen.«
Er sprach, wie er an dem Abend gesprochen, als Trotty ihn auf der Straße fand; seine Stimme war tiefer und rauher und zitterte dann und wann ein wenig. Doch er erhob sie niemals leidenschaftlich, und selten sprach er stärker, als es die schlichten Gegenstände erforderten, von denen er redete. »Es ist härter, als ihr es euch denkt, ihr vornehmen Leute, in Ehren aufzuwachsen, nur mit dem gewöhnlichen Verstand mit Ehren an solch einem Orte. Daß ich zu einem Menschen und nicht zu einem Vieh wurde, wie ich es damals war, spricht etwas für mich. Wie ich jetzt bin, läßt sich für mich nichts sagen und nichts tun. Das ist vorüber für mich.«
»Es freut mich, daß dieser Mann gekommen ist«, sagte Sir Joseph und sah vergnügt um sich. »Man störe ihn nicht. Es scheint Bestimmung zu sein. Er ist ein Exempel, ein lebendes Exempel. Ich glaube und hoffe zuversichtlich, daß es für meine Freunde hier nicht verloren sein wird.«
»Ich schleppte mich durch«, sagte Fern nach kurzem Stillschweigen, »so oder so. Weder ich noch ein anderer weiß, wie; aber so schwer, daß ich kein fröhliches Gesicht machen oder den Leuten einreden konnte, ich wäre etwas anderes, als ich war. Ihr, Gentlemen, die ihr im Parlament sitzt, wenn ihr einen Mann seht mit unzufriedenen Zügen im Gesicht, so sagt ihr zueinander: Er ist verdächtig. Ich bin argwöhnisch, sagt ihr, in bezug auf Will Fern, bewacht diesen Kerl. Ich will nicht sagen, daß dies nicht ganz natürlich sei. Doch ich sage, es ist so und von dieser Stunde, was immer Will Fern tut oder läßt, alles gleich, es geht auf seine Kappe!«
Ratsherr Cute steckte seine Daumen in die Westentasche, lehnte sich zurück in seinen Stuhl, lächelte und blinzelte einem in der Nähe stehenden Armleuchter zu, als wenn er sagen wollte: »Natürlich, ich sagte es ja. Das gewöhnliche Geschrei! Gott steh’ euch bei! Wir kennen alle diese Dinge genugsam – ich und die menschliche Natur.«
»Nun, Gentlemen«, sagte Will Fern, indem er die Hände ausbreitete und einen Augenblick sich sein hageres Gesicht rötete, »begreift wie eure Gesetze sind, um uns zu fangen und zu verfolgen, wenn wir bis dahin gekommen sind. Ich versuche anderswo zu leben. Und ich bin ein Vagabund, ich bin ein Landstreicher. Ins Gefängnis mit ihm! Ich gehe in eure Wälder, Nüsse zu pflücken, und breche – wer tut das nicht? – einen dünnen Zweig oder zwei ab. Ins Gefängnis mit ihm! Einer eurer Wildhüter sieht mich am hellen, lichten Tage in der Nähe eines Gartens mit einer Flinte. Ins Gefängnis mit ihm! Ich schneide mir einen Stock ab. Ins Gefängnis mit ihm! Ich esse einen verfaulten Apfel oder eine Rübe. Ins Gefängnis mit ihm! Es ist zwanzig Meilen von hier entfernt und als ich zurückkomme, bitte ich um eine Kleinigkeit auf der Straße. Ins Gefängnis mit ihm! Genug, der Polizist, der Wildhüter, jedermann findet mich überall und ich tue alles. Ins Gefängnis mit ihm; denn er ist ein Vagabund und ein bekannter Zuchthausvogel; das Zuchthaus ist seine einzige Heimat geworden.«
Der Ratsherr nickte weise mit dem Kopfe, als wollte er sagen: Wirklich eine sehr gute Heimat!
»Sage ich dies meinetwegen?« fuhr Fern fort. »Wer kann mir meine Freiheit, meinen guten Namen, meine unschuldige Nichte zurückgeben? Nicht alle Lords und Ladies im großen England. Doch, ihr Herren, wenn ihr mit andern gleich mir zu tun habt, so fangt am rechten Ende an. Gebt uns um Gottes willen bessere Wohnungen, als in denen wir in unserer Wiege liegen; gebt uns bessere Nahrung, wenn wir für unser Leben arbeiten, gebt uns gütigere Gesetze, um uns auf den rechten Weg zurückzuführen, wenn wir irre gegangen sind, und stellt uns nicht überall, wohin wir uns wenden, Kerker und Banden vor Augen. Es gibt kein Wohlwollen, das ihr dem Arbeiter dann zeigen könnt, das er nicht so bereitwillig und dankbar annehmen würde, als es einem Menschen nur möglich ist. Denn er hat ein geduldiges, friedliches, williges Herz. Aber ihr müßt den rechten Geist erst in ihm wecken. Denn mag er ein Wrack oder eine Ruine sein, wie ich, oder mag er denen gleichen, die gegenwärtig hier stehen, sein Gemüt ist euch jetzt entfremdet. Bringt es zurück, ihr vornehmen Leute, bringt es zurück, ehe der Tag kommt, wenn selbst seine Bibel bei seiner veränderten Gesinnung anders lautet und die Worte zu ihm zu sprechen scheint, wie es nur manchmal geschienen hat – im Gefängnis: »Wohin du gehst, da kann ich nicht hingehen. Wo du wohnst, da wohne ich nicht. Dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott ist nicht mein Gott.«
Eine plötzliche Bewegung und Aufregung gab sich in der Halle kund. Trotty dachte zuerst, daß sich mehrere erhoben hätten, um den Mann hinauszuwerfen, und daher käme die Veränderung. Doch der zweite Augenblick zeigte ihm, daß das Gemach und die ganze Gesellschaft aus seinen Augen verschwunden waren, und daß seine Tochter wieder an ihrer Arbeit vor ihm saß, doch in einem ärmlicheren, niedrigeren Stübchen als vorher und keine Lilly an ihrer Seite.
Der Rahmen, an dem diese gearbeitet hatte, war auf ein Bord gestellt und zugedeckt. Der Stuhl, auf dem sie gesessen, war nach der Wand gekehrt. In diesen Kleinigkeiten und in Megs kummervollem Gesicht war eine Geschichte zu lesen, o, wer hätte sie nicht lesen können!
Meg heftete ihre Augen auf ihre Arbeit, bis es zu dunkel war, um die Fäden zu sehen, und als die Nacht hereinbrach, zündete sie ihr schwaches Licht an und arbeitete weiter. Immer noch war ihr alter Vater unsichtbar in ihrer Nähe und blickte auf sie herab; er liebte sie, o wie herzlich liebte er sie! – und sprach zu ihr mit zärtlicher Stimme von den alten Zeiten und den Glocken, obgleich er wußte, der arme Trotty, daß sie ihn nicht hören konnte.
Ein großer Teil des Abends war vergangen, als es an der Tür klopfte. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle, ein zerlumpter, betrunkener, schmutziger Mensch, von Unmäßigkeit und Laster gezeichnet, und das wirre Haar und der ungeschorene Bart waren in wilder Unordnung. Doch zeigten noch einige Spuren, daß er in seiner Jugend ein Bursch von gutem Körperbau und hübschem Gesicht gewesen war.
Er blieb stehen, bis er Erlaubnis bekam, hereinzutreten, und sie, einen oder zwei Schritt von der Tür zurückweichend, blickte ihn schweigend und kummervoll an. Trottys Wunsch war erfüllt; er sah Richard.
»Darf ich hereinkommen, Meg?«
»Ja, komm nur herein.«
Es war gut, daß Trotty ihn erkannt hatte, ehe er sprach. Denn wenn er noch gezweifelt hätte, dann würde ihn die heisere, rauhe Stimme glauben gemacht haben, daß es nicht Richard, sondern ein anderer Mann wäre.
Es waren nur zwei Stühle im Zimmer. Sie gab ihm den ihrigen, stellte sich einige