Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.hatte, blieben dort und drehten sich immer noch ein wenig länger umher; doch bei jedem Sprung wurden sie schwächer und geringer an Zahl und gingen bald den Weg, den die übrigen eingeschlagen hatten. Der letzte von allen war ein kleiner Buckliger, der sich in einem Schallwinkel gekauert hatte und sich dort lange Zeit herumdrehte, und zwar mit solcher Hartnäckigkeit, daß er zuletzt bis auf ein Bein, selbst bis auf einen Fuß zusammenschrumpfte, ehe er schließlich verschwand, und dann war alles im Turm totenstill.
Dann erst und nicht früher sah Trotty in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von der Größe und Statur der Glocke – unbegreiflich, eine Gestalt und dennoch die Glocke selbst! Riesenhaft, ernst und mit düstrer Miene ihn anschauend, wie er so festgewurzelt an den Boden dastand.
Geheimnisvolle und schreckliche Gestalten! die auf nichts ruhten, in der Nachtluft des Turmes gleichmäßig schwebten und mit ihren bedeckten und beschatteten Köpfen bis an die dunkle Decke ragten, bewegungslos und schattenhaft. Dunkel und schattenhaft, obgleich er sie in schwachem Licht erblickte, das von ihnen selbst ausging – es war ja sonst niemand da – die verhüllte Hand auf den gespenstigen Mund legend.
Er konnte sich nicht schnell durch die Öffnung am Boden hinunterlassen, denn alle Kraft, sich zu bewegen, war von ihm gewichen. Sonst würde er es getan haben – ja er hätte sich lieber kopfüber von der Turmspitze hinuntergestürzt, als daß er sich von Augen bewacht sehen mußte, die ihn wachsam beobachtet haben würden, obgleich die Pupillen herausgenommen waren.
Immer wieder und immer von neuem traf ihn die Furcht und der Schrecken vor dem einsamen Orte und vor der dunklen, gräßlichen Nacht, die dort herrschte, wie eine Geisterhand. Seine Entfernung von aller Hilfe; die lange, dunkle, von Geistern belagerte Wendeltreppe, die sich zwischen ihm und der Erde befand, auf der Menschen lebten; seine Höhe hier oben, wo es ihm schwindelte, am Tage Vögel fliegen zu sehen; abgeschnitten von allen guten Menschen, die zu dieser Stunde ruhig zu Hause waren und in ihren Betten lagen und schliefen: dies alles überlief ihn eiskalt, nicht wie ein Gedanke, sondern wie eine körperliche Empfindung. Inzwischen waren seine Augen und seine furchtsamen Gedanken auf die Wächter gerichtet, die, keiner Gestalt dieser Welt ähnlich, sowohl durch die tiefe Dunkelheit, welche sie umhüllte, als auch in ihrem Aussehen und in ihren Formen und indem sie auf übernatürliche Weise über dem Boden schwebten, trotz allem so deutlich zu sehen waren, als die stämmigen Eichenstühle, Querhölzer und Balken, welche den Glocken als Stütze dienten. Diese umgaben sie mit einem wahren Walde von bearbeitetem Holz, und aus ihren Verschlingungen und Verkreuzungen hielten sie wie unter den Zweigen eines zu ihrem gespenstigen Gebrauch verdorrten Waldes ihre düstere reglose Wacht.
Ein Luftzug – wie kalt und schrill! – fuhr seufzend durch den Turm. Als er vorüber war, sprach die große Glocke oder der Geist der Glocke.
»Was für ein Besuch ist das?« sagte er. Die Stimme war dumpf und tief, und Toby dachte, daß sie in den andern Gestalten nachtönte.
»Ich glaubte, mein Name wäre von den Glocken gerufen worden«, entgegnete Trotty und erhob seine Hände in der Stellung eines Bittenden. »Ich weiß kaum, warum ich hier bin und warum ich hierher kam. Ich habe den Glocken viele Jahre zugehört. Sie haben mir oft Freude gemacht.«
»Und du hast ihnen gedankt«, sagte die Glocke.
»Tausendmal«, erwiderte Trotty.
»Wie?«
»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte ihnen bloß mit Worten danken.«
»Und hast du ihnen immer gedankt?« fragte der Geist der Glocke, »Hast du uns niemals in Worten beleidigt?«
»Nein«, entgegnete Trotty rasch.
»Hast du uns in Worten niemals Schlechtes, Falsches, Bösartiges nachgesagt?« fuhr der Geist der Glocke fort.
Trotty wollte eben antworten: »Niemals!« da stockte er und wurde verwirrt.
»Die Stimme der Zeit«, sagte die Erscheinung, »ruft dem Menschen zu: Schreite vorwärts! Die Zeit ist für seinen Fortschritt, seine Besserung, seinen größern Wert, sein größeres Glück, sein besseres Leben, sein Vorwärtsgehen zu dem Ziele hin, das in seiner Erkenntnis und vor seinen Augen liegt und abgesteckt wurde, als die Zeit und als Er begann. Zeiten der Dunkelheit, der Bosheit und der Gewalttätigkeit sind gekommen und gegangen. Unzählbare Millionen haben gelitten, gelebt und sind gestorben, um den Weg zu zeigen, der vor ihnen lag. Wer sich zurückwenden oder auf seiner Bahn stehen zu bleiben sucht, hält eine mächtige Maschine an, welche den Unberufenen töten und infolge ihres augenblicklichen Stillstandes um so rascher und ungestümer gehen wird!«
»Das habe ich nie getan, soviel ich weiß«, sagte Trotty, »es war ganz zufällig, wenn ich es getan habe; ich würde es wahrhaftig auch nicht tun.«
»Wer der Zeit oder ihren Dienern«, sagte der Geist der Glocke, »einen Klageruf in den Mund legt um Zeiten, welche ihre Prüfung und ihren Fehlschlag hatten und tiefe Spuren hinterlassen haben, die ein Blinder sehen mag – einen Klageruf, der der Gegenwart nur insofern dient, als er den Menschen zeigt, wie sehr es ihrer Hilfe bedarf, wenn ein Ohr auf eine Klage um eine solche Vergangenheit lauschen kann – wer dies tut, der tut unrecht. Und dies Unrecht hast du uns, den Glocken, getan.«
Trottys erste übergroße Furcht war vorüber. Doch hatte er Liebe und Dankbarkeit gegen die Glocken empfunden, wie wir wissen, und als er hörte, daß er einer so gewichtigen Beleidigung gegen sie angeklagt war, wurde sein Herz mit Reue und Schmerz erfüllt.
»Wenn ihr wißt«, sagte Trotty, die Hände demütig faltend – »oder vielleicht wißt ihr es – wenn ihr wißt, wie oft ihr mir Gesellschaft geleistet habt, wie oft ihr mich aufgemuntert habt, wenn ich niedergeschlagen war; wie ihr das Spielzeug meiner kleinen Tochter Meg (beinahe das einzige, das sie jemals besaß) waret, als ihre Mutter gestorben und sie und ich allein auf der Welt waren, würdet ihr mir wegen eines übereilten Wortes nicht zürnen.«
»Wer von uns, den Glocken, einen Klang der Mißachtung irgendeiner Hoffnung oder Freude oder Sorge oder Pein der vielgeplagten Menschheit hört, wer von uns auf einen Glauben antworten hört, der die menschlichen Leidenschaften umfaßt, wie er den Betrag der elenden Nahrung abwägt, um den die Menschheit sich abrackert und hinwelkt, der tut uns unrecht. Dies Unrecht hast du uns getan«, entgegnete die Glocke.
»Das habe ich getan«, sagte Trotty, »o verzeiht mir!«
»Wer in uns das Echo des bedauernswerten Gewürms der Erde hört, der Unterdrücker gebrochener und gedemütigter Naturen, die bestimmt sind, höher emporgehoben zu werden, als solche Maden der Zeit kriechen oder begreifen können«, fuhr der Geist der Glocke fort, »wer das in uns hört, tut unrecht, und du hast uns unrecht getan.«
»Unabsichtlich«, sagte Trotty, »ohne es zu wissen. Es war nicht meine Absicht.«
»Zuletzt und zumeist«, fuhr die Glocke fort, »wer den Gefallenen und Gestrandeten seines Geschlechts den Rücken zukehrt, wer sie als gemein aufgibt und nicht mit mitleidigem Auge den unbehüteten Abgrund sucht und ihm nachgeht, durch den sie den Pfad des Guten verließen, indem sie noch während des Fallens einige Schollen des verlorenen Bodens erfaßten und sich an dieselben klammerten, als sie wund und sterbend in der Tiefe lagen, der tut dem Himmel und den Menschen, der Zeit und Ewigkeit unrecht. Und dies Unrecht hast du getan.«
»Schone mich«, rief Trotty auf die Knie fallend, »um der Barmherzigkeit willen!«
»Horch!« sagte der Schatten.
»Horch!« riefen die anderen Schatten.
»Horch!« sagte eine klare, kindliche Stimme, welche Trotty schon früher gehört zu haben glaubte.
Die Orgel tönte leise in der Kirche unten. Allmählich wurde der Ton stärker, die Melodie drang zum Dache hinauf und erfüllte Chor und Schiff. Immer mehr sich ausbreitend stieg sie empor, empor, immer höher und höher hinauf und erweckte fühlende Herzen in den stämmigen Eichenpfosten, in den hohlen Glocken, in den eisenbeschlagenen Türen, in den steinernen Treppen, bis die Mauern des Turmes nicht mehr genügten und sie zum Himmel aufflog.
Kein Wunder, daß eines alten Mannes Brust einen