Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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daß man mehr von den Angeln und dem Schlosse sah, als von der Tür.

      Doch wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig an die Kirche kam und die Hand in den dunklen Winkel streckte, – nicht ohne Furcht, daß sie unversehens gepackt werden möchte, und nicht ohne Neigung, sie schaudernd zurückzuziehen, – fand er die Tür, welche nach außen aufzumachen war, wirklich offen stehen!

      Er wollte im ersten Schrecken zurückkehren oder ein Licht oder einen Begleiter holen; doch sein Mut kam ihm augenblicklich zu Hilfe und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

      »Was habe ich zu fürchten?« sagte Trotty. »Es ist eine Kirche! Überdies sind vielleicht die Läuter oben und haben vergessen, die Tür zuzuschließen.«

      Er ging also hinein und tappte sich vorwärts, wie ein blinder Mann; denn es war sehr dunkel und sehr ruhig, da die Glocken stillschwiegen.

      Der Staub war von der Straße in dieses Versteck geflogen und lag nun dort haufenweise, so daß Toby wie auf Samt ging, was ebenfalls etwas Unheimliches hatte. Die enge Treppe befand sich so dicht an der Tür, daß er bei der ersten Stufe stolperte, und als er die Tür hinter sich zuwarf, indem er mit dem Fuße daran stieß, daß sie heftig wieder zurückklappte, konnte er sie nicht wieder öffnen.

      Dies war jedoch ein neuer Grund, vorwärts zu gehen. Trotty tappte daher um sich und ging weiter, immer hinauf, hinauf, immer hinauf und im Kreise herum und immer höher, höher hinauf.

      Es war eine recht unangenehme Treppe, wenn man sie im Dunklen hinauf tappen mußte; so niedrig und schmal, daß seine tappende Hand immer etwas berührte, und oft fühlte sich’s fast wie ein menschliches und gespenstisches Wesen an, das aufrecht stand und ihm Platz machte, um nicht entdeckt zu werden, so daß er an der glatten Mauer in die Höhe blickte, um das Gesicht zu suchen, während ihn eine unheimliche Kälte überlief. Einmal oder zweimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Mauerfläche, die ihm dort so groß vorkam wie die ganze Kirche; dann meinte er am Rande des Abgrundes zu stehen und kopfüber hinunterstürzen zu müssen, bis er die Wand wieder fand.

      Immer hinauf, immer hinauf und im Kreise herum, und immer höher und höher hinauf!

      Endlich wurde die dumpfe, erstickende Luft frischer; dann kam Zugluft; nun blies der Wind so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Doch gelangte er an ein Bogenfenster in dem Turme, das ihm bis an die Brust reichte, und indem er sich dicht daran hielt, blickte er nieder auf die Giebel der Häuser, auf die rauchenden Schornsteine, auf die Lichtflecken und Strahlenmassen (in der Gegend, wo Meg sich wunderte, wo er sein möchte und vielleicht nach ihm rief), die in einem Teig von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet waren.

      Dies war die Glockenstube, wohin die Läuter kamen. Er hatte eins der abgeriebenen Seile erfaßt, welche durch Öffnungen in der eichenen Decke herunterhingen. Zuerst erschrak er, denn er dachte, es wären Haare; dann zitterte er bei dem Gedanken, daß er die große Glocke erwecken möchte. Die Glocken selber waren höher. Trotty tappte sich, von seiner fixen Idee beherrscht und in seinem Zauberbann, immer höher hinauf. Endlich auf Leitern und mit großer Mühe, denn sie waren steil und boten dem Fuße keinen allzu sicheren Halt.

      Immer hinauf, immer hinauf geklommen und geklettert; immer hinauf und höher und höher hinauf!

      Endlich, indem er durch den Boden stieg und mit dem Kopfe gerade über dessen Balken hervorguckte, kam er mitten unter die Glocken. Es war kaum möglich, in der Dunkelheit ihre Größe zu erkennen; doch da waren sie. Schatten werfend, dunkel und stumm.

      Ein bleischweres Gefühl von Furcht und Einsamkeit überkam ihn sofort, als er in dies luftige Nest von Stein und Metall emporklomm. Sein Kopf ging rundum mit ihm. Er lauschte und erhob dann ein wildes Hallo!

      Hallo! nahm traurig das Echo auf, den Laut ausdehnend.

      Schwindlig, verwirrt, atemlos und erschrocken blickte Toby ins Leere um sich und sank ohnmächtig nieder.

      Drittes Viertel

       Inhaltsverzeichnis

      Schwarz sind die gewitterschweren Wolken und getrübt die tiefen Wasser, wenn das Meer der Gedanken, zum erstenmal nach einer Windstille anschwellend, seine Toten herausgibt. Scheußliche, seltsame Ungeheuer stehen vorzeitig und unvollkommen auf; die mancherlei Glieder und Gestalten von verschiedenen Dingen verbinden und mischen sich untereinander, wie der Zufall es will, und wann und wie und in welch merkwürdiger Folge sie sich wieder voneinander trennen und jeder Sinn und jeder Gegenstand der Seele seine gewöhnliche Form wieder einnimmt und wieder auflebt, kann niemand sagen, obgleich jedermann jeden Tag das Gefäß dieses Bildes des großen Rätsels ist.

      So ist es unmöglich mit Worten oder gar mit Bestimmtheit zu sagen, wann und wie sich die Finsternis des nächtlichschwarzen Turmes in helles Licht verwandelte; wann und wie der einsame Turm mit einer Myriade von Gestalten bevölkert wurde; wann und wie sich das leise »Plag’ und jag’ ihn«, das eintönig durch seinen Schlaf oder seine Ohnmacht summte, zu einer Stimme gestaltete, die in das aufwachende Ohr Tobys rief: »Stör’ ihn auf im Schlaf«; wann und wie er die träumerische, wirre Idee aufgab, daß dergleichen Dinge wirklich waren, begleitet von einer Schar anderer, die nicht existierten; so viel aber steht fest: als er erwacht war und auf den Brettern, auf denen er gelegen hatte, mit beiden Füßen stand, sah er folgenden unheimlichen Spuk.

      Er sah den Turm, wohin seine bezauberten Schritte ihn gebracht hatten, von zwerghaften Phantomen, Geistern, Elfen der Glocken belebt. Er sah sie unaufhörlich von den Glocken springen, fliegen, fallen, stürzen. Eine Schar sah er rings um sich auf dem Boden; über sich in der Luft; an den Seilen hinunterklettern; von den massiven eisenbeschlagenen Balken auf ihn niederblickend; durch die Ritzen und Löcher in den Mauern auf ihn hinunterschauend, in immer weitern Kreisen vor ihm sich ausbreitend, wie kräuselnde Wasserringe fliehen, wenn plötzlich ein großer Stein zwischen sie hineingeworfen wird. Er sah eine andere Schar von allen Arten und Gestalten. Er sah häßliche, hübsche, koboldartige und wunderschöne. Er sah junge, er sah alte, er sah gute, er sah böse, er sah muntere, er sah mürrische; er sah andere tanzen, er hörte welche singen; er sah, wie sich manche das Haar ausrauften, und hörte andere heulen. Er sah, wie die Luft von ihnen wimmelte. Er sah sie niederwärts reiten, aufwärts fliegen, weit fort segeln, nahe zur Hand kauern, rastlos und in hastiger Tätigkeit. Stein, Ziegel, Schiefer und Backstein wurden für ihn beinahe durchsichtig, wie sie es für jene waren. Er sah sie innerhalb der Häuser an den Betten der Schlafenden sich emsig beschäftigen. Er sah, wie sie Leute im Traume beruhigten; wie sie andere mit knotigen Peitschen schlugen und ihnen in die Ohren schrien: er sah welche an manchen Kopfkissen die süßeste Musik machen und andere mit Vogelgesängen und Blumendüften erheitern; er sah, wie manche mit Zauberspiegeln, die sie in den Händen trugen, in die gestörte Ruhe anderer die schrecklichsten Gesichter warfen.

      Er sah diese Geschöpfe nicht nur unter Schlafenden, sondern auch unter Wachenden mit den verschiedenartigsten und unverträglichsten Dingen sich beschäftigen und die entgegengesetztesten Naturen besitzen oder annehmen. Die eine schnallte unzählige Flügel an, um ihre Schnelligkeit zu vergrößern; die andere belud sich mit Ketten und Gewichten, um die ihre zu mäßigen. Er sah die einen die Glockenschwengel vorwärts bewegen, andere zogen die Glockenschwengel zurück und wieder andere suchten die Glocken ganz und gar anzuhalten. Er sah die einen auf einer Hochzeit, andere bei einem Leichenbegängnis, in dieser Stube eine Wahl, in jener einen Ball leiten; überall rastlose und unermüdliche Bewegung.

      Ganz verwirrt von der Menge der stets wechselnden außerordentlichen Wesen und dem schrecklichen Gelärm der Glocken, welche die ganze Zeit über läuteten, klammerte sich Trotty an einen hölzernen Stützpfeiler und wandte sein kreideweißes Gesicht hier-und dorthin in stummem betäubten Staunen.

      Als er so hinabsah, hörte das Läuten auf einmal auf. Sofortige Veränderung überall! Der ganze Schwarm verschwand; ihre Gestalten fielen zusammen, ihre Schnelligkeit verließ sie; sie suchten zu fliehen, doch in dem Augenblick, als sie niederfielen, lösten sie sich in Luft auf und siechten hin. Kein frischer Zuzug ergänzte sie. Ein Nachzügler sprang ganz eilig von


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