Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.von dem Läuten der Glocken; ein schwindelndes Bewußtsein, daß er den Schwarm der Phantome sich immer und immer erneuern gesehen hatte, bis die Vorstellungskraft derselben sich in dem Gewirr ihrer Anzahl verlor; eine unbestimmte Erkenntnis, obgleich er nicht wußte, wie er dazu gekommen war, daß mehrere Jahre verflossen waren, und Trotty stand, von dem Geiste des Kindes begleitet, wiederum vor menschlicher Gesellschaft.
Eine wohlbeleibte, rotwangige, behagliche Gesellschaft! Es waren nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem hellen Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und geröstetem Brot länger in diesem Gemache anhielt, als in den meisten anderen, dann mußte der Tisch vor nicht gar langer Zeit benutzt worden sein. Da aber alle Ober-und Untertassen sauber waren und an ihrem Platze auf dem Bord standen, und da die kupferne Röstgabel in ihrem Winkel hing und ihre vier trägen Finger ausstreckte, als wollte sie sich Maß zu einem Handschuh nehmen, so blieben keine anderen sichtbaren Zeichen von dem eben beendigten Mahl übrig, als solche, welche in der Gestalt der sich wärmenden Katze schnurrten und sich den Bart strichen und die in den rundlichen, um nicht zu sagen speckigen Gesichtern ihrer Herrschaft glänzten.
Dieses behäbige Paar, offenbar ein Ehepaar, hatte sich redlich in das Feuer geteilt und blickte nach den sprühenden Funken, welche in den Rost hinabfielen, bald in halbem Schlummer nickend, bald wieder erwachend, wenn eine heiße Kohle, größer als die anderen, prasselnd hinabfiel, als wenn das Feuer mitkommen wollte.
Es lag indes keine Gefahr vor, daß es schnell verlöschen würde. Denn es glimmte nicht nur in dem kleinen Zimmer und auf den Glasfenstern in der Tür, sowie auf den halb darüber gezogenen Vorhängen, sondern auch in dem kleinen Laden daneben. Ein kleiner Laden, ganz angefüllt und bis zum Ersticken voll von seinen Vorräten, ein förmlich gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so geräumig und voll wie ein Haifischmagen: Käse, Butter, Feuerholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speck, Bier, Konserven, Kinderdrachen, Vogelfutter, roher Schinken, Birkenbesen, Feuersteine, Salz, Weinessig, Schuhwichse, Pökelheringe, Schreibmaterialien, Champignonsauce, Schnürbänder, Brote, Federbälle, Eier und Griffel – alles galt als Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Artikel waren in seinem Netze. Wie viele andere Arten von Kleinwaren sich darin befanden, würde sich schwer sagen lassen, doch Knäuel von Bindfaden, Reihen von Zwiebeln, Lichte in Pfunden, Krautnetze und Bürsten hingen bündelweise an der Decke, wie seltene Früchte, während verschiedene seltsame Kruken, denen aromatische Düfte entströmten, die Wahrhaftigkeit der Inschrift über der Außentür bestätigen, die dem Publikum ankündigte, daß der Inhaber dieses kleinen Ladens ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer-und Schnupftabakhändler sei.
Indem Trotty nach denjenigen Artikeln blickte, welche bei dem Schein des Feuers und dem minder glorreichen Strahl von zwei räuchrigen Lampen, die ziemlich trübe in dem Laden brannten, als wenn ihnen ihre Vollblütigkeit schwer auf der Lunge läge, sichtbar waren, und indem er dann nach einem der zwei Gesichter am Feuer sah, wurde es ihm nicht schwer, in der wohlbeleibten Matrone Mrs. Chickenstalker zu erkennen, die immer zur Beleibtheit hingeneigt hatte, schon in den Tagen, als sie eine kleine Rechnung, die ihn anging, im Buche hatte.
Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so bekannt. Das große, breite Kinn mit Falten, die breit genug waren, um einen Finger hineinzulegen, die glotzenden Augen, die mit sich selber zu zanken schienen, so daß sie immer tiefer und tiefer in das Fett des schwammigen Gesichts versanken, die Nase, die mit einer Störung in ihren Funktionen belastet war, die man gewöhnlich Verstopfung nennt, der kurze, dicke Hals und die keuchende Brust nebst anderen Schönheiten ähnlicher Art, obgleich sie ganz geeignet waren, sich dem Gedächtnisse einzuprägen, konnte Trotty zuerst niemandem zuschreiben, den er in gewisser Weise gekannt, und dennoch erinnerte er sich auch ihrer in gewisser Weise. Endlich erkannte er in Mrs. Chickenstalkers Gesellschafter im allgemeinen und auf der krummen, exzentrischen Bahn des Lebens den früheren Portier von Sir Joseph Bowley, eine schlagflüssige, einfältige Persönlichkeit, die sich seit Jahren in Trottys Seele mit Mrs. Chickenstalker vermählt hatte, weil sie ihm Zutritt zu dem Hause gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und so schwere Vorwürfe auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.
Trotty nahm sehr wenig Interesse an einer Veränderung wie diese nach all den Veränderungen, die er mit angesehen hatte. Doch die Ideenverbindung ist bisweilen sehr stark, und er blickte unwillkürlich hinter die Tür, wo die Schulden der Kunden in Kreide prangten. Sein Name war nicht verzeichnet. Es standen einige Namen da, doch waren sie ihm fremd, und es waren unendlich viel weniger, als in früheren Zeiten, woraus er schloß, daß der Portier ein Liebhaber der baren Geldgeschäfte war und daß er, als er in das Geschäft kam, den Schuldnern der Mrs. Chickenstalker ziemlich stark zugesetzt hatte.
Trotty war so verzweifelt und gebrochen über die zerstörte Jugend und die unerfüllten Verheißungen seines Kindes, daß es ihm sogar Kummer einflößte, nicht mehr in Mrs. Chickenstalkers Schuldbuch zu stehen.
»Was für eine Nacht ist’s draußen, Anne«, fragte der frühere Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und dieselben so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen erreichen konnte, mit einer Miene, die gleichsam hinzufügte: »Hier bin ich, wenn’s draußen schlecht ist, und ich brauche nicht hinauszugehen, wenn es gutes Wetter gibt.«
»Es weht ein starker Wind und es graupelt«, entgegnete seine Frau, »und der Himmel droht mit Schnee. Dunkel und sehr kalt.«
»Ich freue mich, daß wir geröstetes Brot gehabt haben«, sagte der frühere Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen in Ruhestand versetzt hat. »Das ist eine Nacht, die gleichsam zu geröstetem Brot geschaffen ist, auch zu süßem Kuchen und zu Pfannkuchen.« Der Portier nannte jedes Essen, als wenn er seine guten Handlungen aufzählte. Darauf rieb er sich seine fetten Beine wie zuvor und, sie in den Knien drehend, um das Feuer an die noch ungewärmten Teile kommen zu lassen, lachte er, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.
»Du bist ja in sehr guter Laune, mein lieber Tugby«, bemerkte seine Frau.
Die Firma lautete: »Tugby vormals Chickenstalker«.
»Nein«, sagte Tugby, »nein, nicht besonders. Ich bin ein wenig zufrieden. Der Buttertoast war so schön.« Dabei lachte er, bis er blauschwarz im Gesicht wurde, und hatte so heftig zu arbeiten, um eine andere Farbe zu bekommen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Verdrehungen in der Luft machten. Auch war er nicht eher wieder gleichsam in Ordnung zu bringen, als bis Mrs. Tugby ihn heftig auf den Rücken geklopft und geschüttelt hatte, als ob er eine große Flasche wäre.
»Ei du lieber Himmel, meine große Güte, über den Mann!« sagte Mrs. Tugby in großem Schrecken. »Was macht er nur?«
Mr. Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit schwacher Stimme, daß er sich ein wenig zufrieden gefühlt habe.
»Dann fühle dich nicht wieder so, gute liebe Seele«, sagte Mrs. Tugby, »wenn du mich nicht mit deinen Verdrehungen und krampfhaften Bewegungen zu Tode erschrecken willst.«
Mr. Tugby sagte, er wolle es nicht wieder tun. Doch sein ganzes Leben war ein Kampf, bei welchem er, wenn man aus der beständig zunehmenden Kürze seines Atems und der immer tiefern Röte seines Gesichts schließen durfte, stets den kürzeren ziehen mußte.
»Der Wind stürmt da draußen, und es graupelt, und der Himmel droht mit Schnee, und es ist dunkel und sehr kalt. Nicht wahr, meine Liebe?« sagte Mr. Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder an die eigentliche Veranlassung seiner gegenwärtigen Zufriedenheit dachte. ,
»Ja, böses Wetter!« entgegnete seine Frau, den Kopf schüttelnd.
»Ja, ja«, sagte Mr. Tugby, »die Jahre sind wie die Christen in dieser Hinsicht: Manche sterben schwer, andere sterben leicht. Dies hat nicht mehr viele Tage zu laufen und kämpft hart darum. Es gefällt mir deswegen um so besser. Es ist eine Kundin da, meine Liebe.«
Als Mrs. Tugby die Tür knarren hörte, war sie bereit« aufgestanden.
»Was wünschen Sie?« sagte die Frau, in den kleinen Laden tretend. »O, ich bitte um Verzeihung, Sir, ich wußte nicht, daß Sie es waren.«
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