Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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Stunde an vergessen und denken wollt, es habe mit mir ein Ende genommen.«

      »Was habt Ihr getan?« fragte sie wiederum.

      »Es wird heute nacht ein Feuer sein«, sagte er, sich von ihr entfernend, »es wird diesen Winter viele Feuer geben, um die dunklen Nächte zu erhellen – im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn Ihr den Himmel in der Ferne gerötet seht, dann flammen sie auf. Wenn Ihr den Himmel in der Ferne gerötet seht, dann denkt nicht mehr an mich. Oder wenn Ihr es tut, dann denkt daran, was für eine Hölle in meiner Seele brennt, und denkt, Ihr seht ihre Flammen in den Wolken sich spiegeln. Gute Nacht! Lebt wohl!«

      Sie rief ihm nach. Doch er war fort. Sie saß erstarrt da, bis ihr Kind sie zu dem Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit erweckte. Sie schritt die liebe, lange Nacht mit demselben im Zimmer auf und nieder, um es zu beruhigen, und sagte mitunter: »Wie Lilly, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!«

      Warum war ihr Schritt so schnell, ihr Auge so wild, ihre Liebe so heiß und schrecklich, wenn sie diese Worte wiederholte?

      »Doch es ist Liebe«, sagte Trotty, »es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

      Sie kleidete am nächsten Morgen das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt an – vergebliche Mühe, auf solche Lumpen Sorgfalt zu verwenden! – und wollte noch einmal versuchen, nach Mitteln zum bloßen Leben sich zu bemühen. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Sie ging bis zum Abend umher, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Alles war vergeblich!

      Sie mischte sich unter einen elenden Haufen, der im Schnee stand, bis ein Beamter, der die öffentlichen Almosen verteilen sollte – das gesetzliche Almosen, nicht das, welches einst auf dem Berge gepredigt wurde – so gnädig sein würde, sie hereinzurufen und sie auszufragen, und dem einen zu sagen: »Gehe da und da hin«; dem andern: »Komme nächste Woche wieder«; und aus einem dritten einen Ball zu machen und ihn hierhin und dorthin von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu werfen, bis er müde ward und sich niederlegte, um zu sterben, oder sich Mut faßte und einen Diebstahl beging und auf solche Weise eine höhere Art von Verbrecher wurde, dessen Ansprüche keinen Verzug vertrugen.

      Auch hier war sie vergebens. Sie liebte ihr Kind und wünschte es an ihrer Brust zu hegen. Das hätte ihr genügt.

      Es war Nacht, eine unwirtliche, finstere, schneidend kalte Nacht. Da gelangte sie, indem sie ihr Kind fest an sich drückte, um ihm ein wenig von ihrer eigenen Wärme zu geben, an das Haus, welches sie ihre Heimat nannte. Sie war so schwach und ihr schwindelte, daß sie niemand an der Tür stehen sah, bis sie dicht daran war und hineintreten wollte. Da erkannte sie den Hausherrn, der sich so gestellt hatte – mit seiner Persönlichkeit war das nicht schwer – daß er den ganzen Eingang ausfüllte.

      »O«, sagte er leise, »Ihr seid zurückgekommen?«

      Sie sah nach ihrem Kinde und schüttelte den Kopf.

      »Findet Ihr nicht, daß Ihr lange genug hier gewohnt habt, ohne Miete zu zahlen? Findet Ihr nicht, daß Ihr, ohne einen Pfennig Geld zu bezahlen, ein recht fleißiger Kunde in diesem Laden gewesen seid?« sagte Mr. Tugby.

      Sie wiederholte dieselbe stumme Bewegung.

      »Wie wäre es, wenn Ihr es versuchet und wo anders kauftet, und wie wäre es, wenn Ihr Euch nach einer anderen Wohnung umsähet? Wie, glaubt Ihr nicht, daß dies möglich wäre?«

      Sie sagte mit leiser Stimme, es sei sehr spät. Morgen.

      »Ich sehe schon, was Ihr wollt«, sagte Tugby, »und was Ihr vorhabt. Ihr wißt, es sind wegen Euch zwei Parteien in diesem Hause, und es ist eine Freude für Euch, wenn sie sich zanken. Das ist für Euch eine Lust. Aber ich will keinen Streit im Hause haben und ich spreche ganz ruhig, um Zank zu vermeiden. Aber wenn Ihr Euch nicht schert, dann will ich laut sprechen, und Ihr sollt Worte hören, laut genug, bis sie Euch gefallen. Aber herein lasse ich Euch nicht, das habe ich mir vorgenommen.«

      Sie strich ihre Haare mit der Hand zurück und warf plötzlich einen Blick nach dem Himmel und auf die dunklen, drohenden Wolken.

      »Es ist der letzte Abend eines alten Jahres, und ich mag kein böses Blut und Zank und Streit ins neue mit hinübernehmen, weder Euch noch sonst jemandem zu Gefallen«, sagte Tugby, der ein »Freund und Vater« im kleinen war. »Ich wundere mich, daß Ihr Euch nicht schämt, solche Intrigen ins neue Jahr mit hinübernehmen zu wollen. Wenn Ihr weiter nichts in der Welt zu tun habt, als immer umherzulaufen und zwischen Mann und Frau Zwietracht zu stiften, denn wäre es besser, Ihr machtet Euch auf die Beine. Schert Euch Eurer Wege!«

      »Folg’ ihr! Zur Verzweiflung!«

      Wiederum hörte der alte Mann die Stimmen, und als er aufblickte, sah er die Gestalten in der Luft schweben, und sie zeigten ihm den Weg, den sie einschlug, die dunkle Straße hinab.

      »Sie liebt es«, rief er in ängstlicher Fürbitte, »ihr Glocken, sie liebt es immer noch!«

      »Folg’ ihr!«

      Die Schatten schwebten über dem Wege, den sie eingeschlagen hatte, wie eine Wolke.

      Er folgte, er hielt sich dicht an ihrer Seite. Er blickte ihr ins Gesicht. Es mischte sich noch derselbe wilde, schreckliche Ausdruck in ihre Liebe und strahlte aus ihren Augen. Er hörte sie sagen: »Wie Lilly sterben, wie Lilly!« und ihre Eile verdoppelte sich.

      O! wenn nur etwas sie wecken möchte! Nur ein Anblick, ein Ton, ein Duft, um in ihrem brennenden Gehirn eine zärtliche Erinnerung zu wecken! Wenn nur ein einziges süßes Bild aus der Vergangenheit in ihr aufstiege!

      »Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« sagte der alte Mann, die Hände nach den dunklen Schatten ausstreckend, die über ihm flogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie? Laß sie umkehren; ich war ihr Vater!«

      Doch sie zeigten nur nach ihr, wie sie dahineilte, und sagten: »Zur Verzweiflung! Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

      Nur ein Echo von hundert Stimmen. Die Luft bestand nur aus Atem, auf dem diese Worte schwebten. Er schien sie mit jedem seiner Atemzüge einzuatmen. Unmöglich ihnen zu entfliehen: sie waren überall. Und immer noch eilte sie fort, dasselbe Feuer in ihren Augen, dieselben Worte in ihrem Munde: »Wie Lilly sterben, wie Lilly!«

      Auf einmal stand sie still.

      »Nun laß sie umkehren!« rief der alte Mann aus und riß sich das weiße Haar aus. »Mein Kind Meg – laß sie umkehren, großer Vater, laß sie umkehren!«

      Sie hüllte in ihren dürftigen Mantel das Kind warm ein. Mit ihren fiebernden Händen streichelte sie seine Glieder, rückte sie sein Köpfchen, ordnete sie seinen spärlichen Anzug. In ihren welken Armen hielt sie es fest, als wenn sie es nimmer loslassen wollte, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im letzten Schmerz und in dem letzten langen Todeskrampf der Liebe.

      Sie legte seine kleine Hand um ihren Nacken und hielt sie dort unter ihrem Mantel, dann drückte sie es an ihr verzweifeltes Herz, dann preßte sie sein Gesicht gegen das ihre – und dann eilte sie nach dem Flusse. Nach dem rollenden Flusse, dem schnellen, trüben, wo die Winternacht brütend saß, wie der letzte Gedanke vieler, die dort Rettung gesucht hatten, wo einzelne Lichter an den Ufern düster und rot flimmerten, wie Fackeln, die dort brannten, um den Totenpfad zu zeigen, wo keine Wohnung lebender Menschen ihren Schatten warf auf den tiefen, undurchdringlichen, melancholischen Schatten.

      Nach dem Flusse! Nach dieser Pforte der Ewigkeit eilte sie mit verzweifelten Schritten so rasend schnell, wie seine reißenden Wasser dem Meere zuströmten. Er versuchte, sie zu berühren, als sie an ihm vorüber nach der dunklen Wasserfläche hinuntereilte, doch die wilde, kranke Gestalt, die schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die sich durch nichts Menschliches mehr aufhalten ließ, fegte an ihm vorbei wie der Wind.

      Er folgte ihr. Sie stand einen Augenblick am Ufer still, ehe sie den schrecklichen Sprung tat. Er fiel auf die Knie und schrie zu den Gestalten in den Glocken, die nun über ihm schwebten. »Ich habe es gelernt von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist. O rettet sie, rettet sie!«

      Er konnte ihr Gewand mit den Fingern berühren.


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