Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.sie heimkehren und alles aufklären könne; und daß sie dich bitte, im gleichen Sinn zu hoffen und zu vertrauen. Das steht im Brief, nicht wahr. Liebste!«
»Ja, Alfred!«
»Und in jedem Brief, den sie seither geschrieben?«
»Außer in dem letzten – vor einigen Monaten – in dem sie von dir schrieb und von dem, was du damals erfahren und was ich heute abend hören sollte.«
Er blickte nach der Sonne, die sich dem Abend zugeneigt hatte, und sagte, die angesetzte Zeit sei Sonnenuntergang! –
»Alfred!« sagte Grace und legte innig die Hand auf seine Schulter; »es steht etwas in dem Brief, was ich dir nie mitgeteilt habe. Aber heute abend, geliebter Gatte, da dieser Sonnenuntergang naht, und unser Leben mit dem scheidenden Tage feierlicher und stiller zu werden scheint, kann ich es nicht verbergen.«
»Was ist es, Geliebte?«
»Als Marion von uns ging, schrieb sie in diesem Brief, daß, wie du sie mir einst anvertraut, sie dich jetzt in meine Hände lege, Alfred; sie beschwor mich im Namen meiner Liebe zu ihr und zu dir, nicht die Neigung zurückzuweisen, die du, wie sie wisse, auf mich übertragen würdest, sobald die noch frische Wunde geheilt sei, sondern sie zu ermuntern und zu erwidern.«
»Und um mich wieder zu einem glücklichen und zufriedenen Manne zu machen, Grace. Schrieb sie dies nicht?« »Sie meinte, mich so beglückt und geehrt mit deiner Liebe zu machen!« war seiner Frau Antwort, als er sie in seinen Armen umfing.
»Höre mich, Geliebte!« sagte er. – »Nein. So!« – Und mit diesen Worten legte er sachte ihren Kopf an seine Brust. »Ich weiß, weshalb ich von dieser Stelle im Briefe nie etwas vernommen habe. Ich weiß, weshalb sich damals bei dir nie eine Spur davon in Wort oder Blick verraten hat. Ich weiß, weshalb Grace, obwohl meine echte Freundin, doch so schwer dahin zu bringen war, mein Weib zu werden. Ja, ich kenne den nicht auszumessenden Wert des Wesens, das ich in meinen Armen halte, und danke Gott für den köstlichen Schatz!«
Sie weinte, jedoch nicht aus Kummer, als er sie gegen sein Herz preßte. Nach einer Pause sah er auf das Kind herab, das ihnen zu Füßen saß und mit einem Körbchen voll Blumen spielte, und sagte zu ihm: »Sieh einmal, wie rot und golden die Sonne ist.«
»Alfred«, versetzte Grace und schaute bei diesen Worten rasch auf. »Die Sonne sinkt. Du hast nicht vergessen, was ich vernehmen soll, bevor sie untergegangen ist.«
»Du sollst die Wahrheit über Marions Schicksal hören, Liebe«, entgegnete er.
»Die ganze Wahrheit«, bat sie flehentlich. »Ohne weiteres Verbergen. So lautet das Versprechen, nicht wahr?«
»Freilich«, meinte ihr Gatte.
»Bevor die Sonne an Marions Geburtstag unterginge. Und du siehst, Alfred, sie ist nahe am Untergehen.«
Er schlang die Arme um sie, blickte ihr tief ins Auge und sagte: »Nicht ich soll dir diese Botschaft eröffnen, liebe Grace. Sie soll von andern Lippen kommen.«
»Von andern Lippen!« wiederholte sie lautlos.
»Ja. Ich kenne dein treues Gemüt. Ich weiß, wie fest du bist, und daß ein Wort der Vorbereitung bei dir genügt. Du sagtest, die Zeit sei genaht. Sie ist da. Sage mir, ob du stark genug bist, eine Überraschung, eine Erschütterung zu ertragen: dann harrt der Bote schon vor der Tür.«
»Welcher Bote?« fragte sie. »Und was für eine Nachricht bringt er?«
»Ich darf nicht mehr sagen«, versetzte er mit demselben festen Blick. »Glaubst du mich zu begreifen?«
»Ich zittere bei dem Gedanken«, sagte sie.
Trotz seiner ruhigen Miene lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, der sie in Schrecken setzte. Von neuem barg sie ihr Antlitz an seiner Brust und bat ihn bebend, noch einen Augenblick zu warten.
»Mut, arme Grace! Wenn du genug Kraft hast, harrt der Bote schon vor der Tür. Die Sonne geht über Marions Geburtstag unter. Mut, Mut, Grace!«
Sie erhob den Kopf, blickte ihn an und erklärte, sie sei bereit. Indessen sie so dastand und ihm nachschaute, ähnelte sie Marion in deren letzten Zeit wunderbar. Er nahm ihr Kind zu sich. Sie rief es zurück – es hatte der verlornen Schwester Namen – und drückte es an ihr Herz. Aber als sie die Kleine wieder losließ, eilte diese ihm nach; und Grace war allein. Sie wußte nicht, was sie ängstigte oder was sie erhoffte, sondern blieb ohne Regung stehen und schaute nach der Tür, durch die sie entschwunden waren.
Himmel, was ist das, was aus dem Schatten hervor sich nähert und auf der Schwelle verweilt? Diese Gestalt in dem weißen, von der Abendluft bewegten Gewand, das Haupt zärtlich ruhend an ihres Vaters Brust! Gott, war es ein Traumgesicht, das sich aus ihres Vaters Armen losriß und mit einem Schrei in heißer Liebesfreude ihr in die Arme sank?
»Marion, Marion! Meine Schwester! Mein teures geliebtes Herz! Ach unsagbares Glück des Wiedersehens!«
Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht beschworenes Bild der Phantasie, es war Marion selbst! So hold, so glücklich, so unberührt von Schmerz und Leiden, so schön in ihrer Anmut, daß, als die Sonne auf ihr gen Himmel gewandtes Antlitz leuchtete, sie wie ein Engel aussah, der die Erde segenspendend aufsuchte.
Marion hielt ihre Schwester umarmt, die auf eine Bank gesunken war, und neigte sich zu ihr nieder. Sie lächelte durch ihre Tränen, und nun kniete sie vor ihr hin und konnte keinen Augenblick das Auge von ihr wenden. Endlich brach sie das Schweigen, und ihre Stimme klang klar, leise und harmonisch in die Stille des Feierabends.
»Als ich noch unter diesem geliebten Dache lebte, Grace –«
»Mein süßes Herz! Nur einen Augenblick! O Marion, dich wieder reden zu hören!«
Sie konnte die geliebte Stimme nicht ohne tiefe, fast schmerzliche Erschütterung vernehmen.
»Als ich noch unter diesem Dache lebte, Grace, liebte ich ihn von ganzer Seele. Ich liebte ihn auf das innigste. Ich hätte für ihn sterben können, wiewohl ich noch so jung war. Ich verschmähte seine Liebe nie in meinem innersten Gemüt; nicht einen einzigen Augenblick. Sie war mir teurer, als ich es zu beschreiben vermag. Obwohl es lange her ist, längst vergangen und alles ganz anders geworden, so konnte ich doch den Gedanken nicht ertragen, daß du etwa glaubtest, ich hätte ihn ehedem nicht treu geliebt. Ich liebte ihn nie mehr, Grace, als an dem Tage, da er von hier Abschied nahm. Ich liebte ihn nie mehr, als an dem Abend, da ich von hier flüchtete.«
Ihre Schwester vermochte nur ihr ins Antlitz zu schauen und sie fest in den Armen zu halten.
»Aber ohne es zu ahnen«, sagte Marion sanft lächelnd, »hatte er ein anderes Herz gewonnen, ehe ich überhaupt eins besaß, um es ihm zu schenken. Dieses Herz – deines, Schwester – war so erfüllt von Liebe zu mir, war so opferbereit und edel, daß es seine Liebe verhüllte und sie geheimhielt vor den Augen aller, außer vor den meinen – ah, welche Augen wären auch so von Liebe und Dankbarkeit geschärft gewesen! – und sich für mich aufopferte. Aber ich kannte die Tiefe dieses Herzens. Ich kannte den Kampf, den es ausgefochten. Ich wußte, wie hoch und unermeßlich sein Wert für ihn war und wie teuer er es schätzte, mochte er auch mich lieben. Ich wußte, wieviel ich diesem Herzen verdankte, ich hatte sein schönes Beispiel täglich vor Augen. Was du für mich getan hast, Grace, das wußte ich, würde ich auch für dich tun können, wenn ich den Willen dazu hatte. Ich legte mich nie zur Ruhe, ohne Gott mit Tränen zu bitten, daß er mir die Kraft dazu verleihen möge. Ich begab mich nie zur Ruhe, ohne an Alfreds eigene Worte beim Abschied zu denken, daß täglich in menschlichen Herzen Siege gewonnen würden, gegen die jene Schlachtfelder zu nichts würden. Und als ich immer mehr und mehr an die Entsagung dachte, die sich täglich in der Welt ereignet und die gemeinhin so wenig beachtet wird, da fühlte auch ich, daß mir meine Prüfung täglich leichter ward! Gott aber, der jetzt in unser Herz blickt und weiß, daß kein Tropfen Kummer oder Schmerz in dem meinen ist, nichts als Glück, verlieh mir die Kraft zu dem Entschluß, nie Alfreds Gattin zu werden. Daß er mein Bruder und dein Gatte werden sollte, wenn mein Beginnen dieses glückliche Ende herbeiführen könnte, daß ich aber nie