Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.kommt er wieder herauf und schleicht sich längs den Mauern hin: dann scheint er leise flüsternd die den Toten geweihten Grabschriften zu lesen. Bei der einen bricht er in ein schrilles Gelächter aus, bei andern klagt und seufzt er. Es klingt auch ganz unheimlich, wenn er sich hinter einen Altar verkriecht; dort ist es schier, als ob er in seiner wilden Weise von Unheil und Mord und von der Anbetung falscher Götzen singe trotz der Gesetzestafeln, die so glatt und schmuck aussehen und doch so oft geschändet und gebrochen werden. Hu! Gott bewahre uns, wie wir so traulich ums Feuer sitzen! Er hat eine schreckliche Stimme, der Mitternachtswind, wenn er in einer Kirche singt!
Doch erst da hoch oben im Kirchturm! Da saust und pfeift er erst, der wilde Gesell! Hoch oben im Kirchturm, wo er durch manch luftigen Bogen und manch Guckloch frei herein-und hinauskommt und sich um die steile Treppe drehen und wenden kann, und wo er den kreischenden Wetterhahn umherwirbelt und den Turm selber erschüttert und beben macht! Hoch oben im Kirchturm, wo der Glockenstuhl ist und eiserne, vom Rost zernagte Riegel und die vom Wechsel der Witterung zusammengezogenen Blei-und Kupferdächer unter dem ungewohnten Tritte knacken und knarren: wo Vögel ihre ärmlichen Nester in die Ecken von alten eichenen Sparren und Balken bauen, und der Staub alt und grau wird, und gesprenkelte Spinnen in gemächlicher Sicherheit mit fettem Leibe unter der zitternden Schwingung der Glocken, ohne in ihren aus Fäden gewobenen Luftschlössern den Halt zu verlieren, sich hin-und herschwingen, oder in plötzlicher Unruhe wie Matrosen klettern oder auf den Boden hinabgleiten und zwanzig zarte Beinchen in Bewegung setzen, um ein armseliges Leben zu retten! Hoch oben in einem alten Kirchturm, weit über dem Licht und dem Geräusch der Stadt und tief unter den eilenden Wolken, welche dieselbe beschatten, ist es bei Nacht ein schauerlicher und gespenstiger Ort; und hoch oben in dem steilen Turm einer alten Kirche befanden sich die Glocken, von denen ich erzählen will.
Es waren alte Glocken, das könnt Ihr glauben. Vor Jahrhunderten waren diese Glocken von Bischöfen getauft worden, und zwar vor so viel Jahrhunderten, daß ihr Taufschein und ihr Taufregister lange, lange vor Menschengedenken verloren gegangen war und niemand ihre Namen wußte. Sie hatten natürlich ihre Paten und Patinnen und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher gehabt (à propos, ich meinerseits möchte lieber die Verantwortung auf mich nehmen, Pate einer Glocke als eines Jungen zu sein). Die Zeit hatte dann ihre Paten abgemäht und Heinrich VIII. ihre Becher eingeschmolzen; und so hingen sie nun namenlos und becherlos in dem Kirchturm.
Indes nicht sprachlos. Vielmehr hatten diese Glocken gar helle, laute, kräftige, klangvolle Stimmen, und weit und breit hörte man sie, auf dem Winde dahergetragen. Jedoch waren es viel zu derbe Glocken, um sich völlig vom Wind abhängig zu machen; und wenn diesen böse Laune plagte, dann klangen sie gebieterisch dem Winde entgegen, und echt königlich drangen ihre heiteren Klänge an ein lauschendes Ohr; und wenn sie sich’s vorgenommen hatten, in einer stürmischen Nacht von einer armen Mutter, die bei ihrem kranken Kinde wachte, oder von einem verlassenen Weibe, deren Mann auf der See war, gehört zu werden, dann sollen sie bisweilen einen tosenden Nordwestwind übertäubt haben, wie Toby Veck erzählte: denn sein Name war Toby, obwohl sie ihn alle Trotty Veck nannten, und niemand konnte ohne besonderes Parlamentsgesetz etwas anderes daraus machen (außer etwa Tobias), da er seiner Zeit ebenso gesetzlich, wie die Glocken zu der ihrigen, wenngleich nicht mit ebenso großer Feierlichkeit oder Volksfreude getauft worden war.
Ich meinerseits bekenne mich zu Toby Vecks Glauben, und ich denke, er hat Gelegenheit genug gehabt, sich eine durchaus korrekte Meinung zu bilden. Und was Toby Veck sagte, das sag’ ich und stehe ihm bei, wiewohl er den ganzen Tag (ein schweres Stück Arbeit!) außen an der Kirchtür stand. Toby Veck war nämlich Packträger und wartete dort auf Arbeit.
Das war freilich ein windiger Platz, dort im Winter zu warten, und man bekam dort Gänsehaut, blaue Nasen, erfrorene Zehen und Zähneklappern, wie Toby Veck recht wohl wußte. Der Wind kam reißend um die Ecke – besonders der Ostwind – als wenn er expreß von den Grenzen der Erde dahergekommen wäre, um Toby abzublasen. Manchmal schien er ihn früher getroffen zu haben, als er erwartet hatte, denn wenn er um die Ecke sprang und an Toby vorüberfuhr, dann kehrte er plötzlich wieder um, als wenn er sagte: »Ha, hier ist er!« Dann zog er ihm seine kleine weiße Schürze über den Kopf, wie einem ungezogenen Knaben sein Röckchen; sein kleiner schwacher Stock kämpfte und stemmte sich nutzlos in seiner Hand; seine Beine zitterten und bebten, und Toby selber, der sich bald nach dieser bald nach jener Seite drehte, wurde so gerüttelt und geschüttelt, hin-und hergeworfen und zerzaust, geschoben und emporgehoben, daß es um ein Haar ein richtiges Wunder war, daß er nicht bei lebendigem Leibe, wie bisweilen eine Schar Frösche oder Schnecken oder andere leicht bewegliche Geschöpfe, einfach durch die Luft geführt und in irgendeinem fremden Erdwinkel, wo Packträger unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen wieder herniedergeregnet wurde. Trotz alledem war windiges Wetter für Toby, obwohl es ihm so hart mitspielte, eine Art Feiertag. Das ist Tatsache. Die Zeit, bis er wieder einen Sixpence verdiente, wurde ihm nicht so lang im Winde, wie bei anderer Witterung; denn es nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, wenn er mit diesem ungestümen Element zu kämpfen hatte, und es erfrischte ihn ordentlich, wenn er hungrig oder niedergeschlagen war. Auch harter Frost oder Schneewetter war für Toby ein Ereignis und schien ihm auf diese oder jene Art gut zu tun, obgleich es schwierig wäre zu sagen, auf welche Art! So waren die Wind-, Frost-und Schneetage und vielleicht ein tüchtiges Hagelwetter in Toby Vecks Kalender rot angestrichen.
Sein ärgster Feind war Regenwetter: die kalte, schmutzige, klebrige Nässe, die ihn gleichsam in einen feuchten Mantel einhüllte; die einzige Art von Mantel, die Toby besaß oder deren Nichtdasein zu seiner Behaglichkeit beigetragen haben würde. Nasse Tage, wenn der Regen langsam, dicht, hartnäckig niederfiel; wenn die Straßen voll Nebel waren, daß er zu ersticken vermeinte, Regenschirme hin-und herliefen und sich um und um drehten wie Drehwürfel, indem sie auf den überfüllten Trottoirs aneinanderprallten und einen kleinen Strudel von unangenehmen Tropfen um sich sprühten; wenn die Rinnsteine plätscherten und Dachrinnen gefüllt und voller Lärm waren; wenn die Nässe von den vorspringenden Steinen der Kirche dripp, dripp, dripp auf Toby fiel und sofort das Bündel Stroh, auf dem er stand, zu bloßem Moder machte; das waren die Tage, die ihn quälten. Dann sah er aus seinem Versteck in einer Ecke der Kirchenmauer – ein so kärglicher Zufluchtsort, der im Sommer keinen größeren Schatten hat, als ein mitteldicker Spazierstock auf dem sonnigen Pflaster wirft – mit sehnsüchtigem, bekümmertem und langem Gesicht. Kam er aber eine Minute später daraus hervor, um sich durch Bewegung zu wärmen, und trabte er einige dutzendmal auf und nieder, so heiterte sich sein Antlitz auf, und er kehrte helleren Blickes in seine Nische zurück.
Man nannte ihn Trotty oder den Traber wegen seines Ganges, der schnell sein sollte, wenn er es gleich nicht war. Er hätte vielleicht schneller gehen können, sogar wahrscheinlich; aber hätte man Toby seinen Trab genommen, er wäre bettlägerig geworden und gestorben. Sein Trab bespritzte ihn mit Schmutz bei nassem Wetter; er kostete ihn unsäglich viel Plage; er hätte unendlich viel bequemer gehen können; doch dies war gerade ein Grund, weshalb er so hartnäckig daran festhielt. Ein schwacher, kleiner, dünner, alter Mann seiner Natur nach, war Toby ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er verdiente gern sein Geld. Er war glücklich zu glauben, – Toby war sehr arm und konnte nicht leicht eine seiner Freuden entbehren – daß er sein Brot ehrlich verdiene. Wenn er für l Schilling oder 18 Pence eine Botschaft zu besorgen oder ein kleines Paket zu tragen hatte, dann stieg sein innerer hoher Mut noch viel höher. Wenn er dahertrabte, dann rief er schnellen Postboten, die vor ihm hergingen, zu, sie möchten aus dem Wege gehen; denn er glaubte aufrichtig, daß er im natürlichen Gange der Dinge sie selbstverständlich überholen und über den Haufen laufen müsse; und er hegte die völlige, wiewohl nicht oft auf die Probe gestellte Überzeugung, daß er alles zu tragen vermöge, was irgend jemand zu heben imstande sei.
So trabte Toby sogar, wenn er aus seinem Winkel hervorkam, um sich an einem nassen Tage zu wärmen. Mit seinen leckenden Schuhen eine krumme Linie von weichen Fußtapfen in dem Schmutz zurücklassend; die kalten Hände blasend und reibend, die vor der eindringenden Kälte nur spärlich durch abgetragene graue Wollhandschuhe, mit einer besondern Abteilung bloß für den Daumen und einem gemeinschaftlichen Raume für die übrigen Finger, geschützt waren; mit gebogenen Knien und den Stock unter dem Arm trabte Toby immer fort. Auch wenn er sich auf die Straße stellte, um nach dem Glockenstuhle zu sehen, wenn die Glocken läuteten, trabte Toby.
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