Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.nein, nein«, sagte Meg mit kindischer Lust. »Spare dir den Genuß ein bißchen länger auf. Ich will den Deckel ein wenig aufheben – ein klein, klein wenig«, und sie tat es mit der äußersten Vorsicht und sprach so leise, als wenn sie fürchtete von irgend etwas in dem Korbe gehört zu werden. »So! Nun, was ist das?«
Toby schnupperte so schnell als möglich an dem Rande des Korbes, dann rief er voll Entzücken aus: »Ei, es ist etwas Heißes!«
»Brühend heiß!« entgegnete Meg. »Ha, ha, ha, kochend heiß!«
»Ha, ha, ha!« lachte Toby und machte einen Luftsprung. »Kochend heiß!«
»Aber was ist es, Vater?« sagte Meg. »Komm, du hast noch nicht erraten, was es ist. Und du mußt wissen, was es ist. Ich nehme es auf keinen Fall heraus, bis du erraten, was es ist. Sei nur nicht so ungeduldig! Wart’ ein Weilchen! Ich mache den Deckel ein klein wenig mehr auf! Nun rate.«
Meg war geradezu in Not, daß er nicht zu schnell das Rechte raten möchte; sie zuckte zurück, indem sie den Korb hinhielt; sie zog ihre hübschen Schultern in die Höhe; sie hielt das Ohr mit der Hand zu, als wenn sie dadurch das rechte Wort in Tobys Munde zurückdrängen könnte, und lachte die ganze Zeit über leise.
Inzwischen beugte sich Toby, indem er auf jedes Knie eine Hand legte, mit der Nase auf dem Korb nieder und roch an dem Deckel lange, das stille Lachen auf seinem wettergebräunten Gesicht verbreitete sich, als wenn er Lachgas einatmete.
»Ah! Es ist etwas sehr Feines«, sagte Toby. »Es ist – es riecht vornehmer als Knackwurst. Es riecht sehr fein. Es riecht mit jedem Augenblicke besser. Es riecht zu scharf für Kalbsfüße. Das ist es nicht!«
Meg war außer sich vor Freude. Er konnte nicht weiter fehlschießen als mit Kalbsfüßen oder gar mit Knackwurst.
»Leber?« fragte Toby bei sich selber. »Nein, es riecht so mild, daß es Leber nicht sein kann. Schweinsfüße? Nein. Für Schweinsfüße ist der Geruch nicht schwach genug. Für Hahnenköpfe fehlt es ihm an Schärfe. Und Bratwürste sind es nicht, das weiß ich. Ich will dir sagen, was es ist: es ist Gehirn!«
»Nein, das ist es nicht!« rief Meg mit herzlichem Lachen. »Nein, das ist es nicht!«
»O, was ich nur denke!« sagte Toby und nahm plötzlich eine so weit perpendikuläre Stellung an, als es ihm überhaupt möglich war. »Ich werde nächstens nicht mehr wissen, wie ich heiße. Kaldaunen sind’s!«
Das war es! Und Meg versicherte hocherfreut, in einer halben Minute werde er gestehen, daß noch keine besseren Kaldaunen gedämpft wurden.
»Und nun«, sagte Meg, indem sie sich vergnügt mit dem Korbe zu schaffen machte, »will ich sogleich decken, Vater; denn ich habe die Flecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch gebunden; und wenn ich einmal so vornehm bin und dies alte Tischtuch brauche und es so nenne, so kann mich kein Gesetz daran hindern, nicht wahr, Vater?«
»Daß ich nicht wüßte, meine Tochter«, erwiderte Toby: »wiewohl sie immer ein oder das andere neue Gesetz aufs Tapet bringen.«
»Und was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater; du weißt schon, was der Richter sagte: wir armen Leute sollen sie alle kennen. Ha, ha, wie verkehrt geurteilt! Ach, du meine Güte, für wie klug halten sie uns!«
»Ja, du Gute«, erwiderte Toby; »und sie würden demjenigen gut bekommen, der sie wirklich alle wüßte. Er würde fett werden bei der Arbeit, die er leisten müßte, und bei allen Vornehmen in seiner Nähe beliebt werden. Gewiß sehr beliebt!«
»Er würde sein Mittagsbrot mit Appetit essen, was es auch immer wäre, und wenn es obendrein wie dies hier duftete«, sagte Gretchen vergnügt. »Iß schnell, denn es sind ein paar heiße Kartoffeln dabei und ein halbes Maß herrliches Bier in der Flasche. Wo willst du essen, Vater? Auf der Säule oder auf der Treppe? Du meine Güte, was für großartige Herrschaften wir sind! Wir haben zwischen zwei Plätzen zu wählen.«
»Heute auf der Treppe, meine Meg«, entgegnete Toby. »Auf der Treppe bei trocknem Wetter; auf der Säule bei nassem. Auf der Treppe ist’s immer bequemer, von wegen des Sitzens; aber bei feuchter Witterung setzt’s Flüsse.«
»Also hier«, sagte Meg und klatschte vergnügt in die Hände, nachdem sie einen Augenblick alles hergerichtet hatte; »hier ist’s, fix und fertig! Und schön sieht’s aus! Komm, Vater, komm!«
Seitdem Trotty den Inhalt des Korbes sozusagen entdeckt hatte, stand er zerstreut da, sah sie an und sprach ebenso ein deutliches Zeichen, daß er, obgleich seine Tochter trotz der Kuttelflecke der Gegenstand seiner Gedanken und Augen war, sie dennoch weder sah noch an sie dachte, wie sie in diesem Augenblick war, sondern daß irgendein phantastisches unbestimmtes Bild oder Drama ihres zukünftigen Lebens ihm vorschwebte. Nun aber von ihrer muntern Aufforderung aus seinem Traume geweckt, wollte er eben melancholisch den Kopf schütteln, aber er bezwang sich und trabte an ihre Seite. Gerade in dem Augenblick, als er sich niedersetzen wollte, läuteten die Glocken.
»Amen!« sagte Trotty den Hut abnehmend und blickte zu ihnen hinauf.
»Du sagst Amen zu den Glocken, Vater?« fragte Meg.
»Es klang mir auf einmal wie ein Gebet, meine liebe Tochter!« entgegnete Trotty und setzte sich. »Sie würden ein gar schönes Gebet beten, wenn sie könnten. Sie sagen gar vielerlei zu mir.«
»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel hinsetzte und ihm Messer und Gabel vorlegte. »Das verstehe ich nicht!«
»Nun, so kommt es mir vor, als ob sie mir mancherlei sagten«, erwiderte er und begann mit wirklichem Appetit seine Mahlzeit. »Ist denn das ein Unterschied? Wenn ich sie höre, was tut es, ob sie sprechen oder nicht? Ach, du lieber Gott«, fuhr Toby fort, indem er mit der Gabel nach dem Turm zeigte und beim Essen immer lebhafter wurde, »wie oft habe ich diese Glocken sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Muts, Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Muts, Toby!‹ Eine Million Mal und mehr!«
»Nein, so etwas!« antwortete Meg.
Indes hatte sie dies allerdings mehr als einmal gehört, denn es war Tobys tägliches Gespräch.
»Wenn die Geschäfte schlecht gehen«, sagte Toby, »so ganz und gar schlecht, meine ich, fast so schlecht als möglich, dann klingt’s von dorther: ›Toby Veck, Toby Veck, bald kommt etwas.‹«
»Und es kommt zuletzt immer, Vater,« sagte Meg mit einem trüben Ton in ihrer lieblichen Stimme.
»Jedesmal«, antwortete der arglose Toby; »niemals schlägt’s fehl.«
Während dieser Unterhaltung setzte Toby ohne Unterbrechung seine Attacke auf das duftige Mahl fort, das vor ihm stand, und schnitt und aß und schnitt und trank und schnitt und kaute und fuhr umher von den Kaldaunen nach den Kartoffeln und von den Kartoffeln nach den Kaldaunen mit unermüdlichem trefflichen Appetit. Als er sich nun aber zufällig auf der Straße umsah – für den Fall, daß jemand aus einer Tür oder einem Fenster nach einem Dienstmann, wie wir heute sagen würden, – winken sollte – begegneten seine Augen auf dem Rückwege Gretchen, die ihm mit gekreuzten Armen gegenübersaß und die an nichts anderes zu denken schien, als sich an seinen Fortschritten zu erfreuen.
»Gott verzeihe mir!« sagte Toby, indem er Messer und Gabel niederlegte. »Meine Taube, Meg! Warum sagtest du mir nicht, daß ich so unvernünftig bin?«
»Wieso, Vater?«
»Ich sitze hier«, entgegnete Trotty reumütig, »esse nach Leibeskräften, ja überfülle mir den Magen, und du sitzest vor mir und bist noch nüchtern und fastest und willst nicht essen, während –«
»Ich habe schon gegessen, Vater«, unterbrach ihn seine Tochter lachend, »mit dem Fasten hat’s gute Wege; ich habe gegessen.«
»Dummes Zeug«, entgegnete Trotty. »Eine Mahlzeit für zwei Personen an einem Tage! Das ist möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einen Tag fallen, oder daß ich mein Lebenlang einen Goldfuchs gehabt und ihn nicht gewechselt hätte.«
»Ich